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Das Ich gibt’s nur als Mich und Gerechtigkeit nur in der Wir-form - Fünfter Sonntag 2023

Die Überschrift für diesen „Nachklang“ klingt nicht gerade wie ein Satz aus den Lesungen zu diesem fünften Sonntag im Jahreskreis, sondern nach Lyrik um der Lyrik willen. Dem Sinn nach stammt der erste Teil des Titels aber nicht aus einem Gedichtband, sondern aus der Feder des litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas (1906-1995). Levinas spricht in vielen seiner Werke vom „Ich“ nur als „Mich“. Er begründet dies damit, dass Andere sich ohne Unterlass an mein „Ich“, also an mich wenden. Sie beziehen sich auf mich, rufen mich an, brauchen mich. Zugespitzt verstehe ich diesen Gedanken so, dass es den Menschen zuerst und in Vollendung nur als angesprochenes „Ich“ also als „Mich“ geben kann. Anders gesagt: von wirklichem Menschsein kann erst dann die Rede sein, wenn es sich den Belangen der Menschen, die uns begegnen, möglichst ohne Vorbehalt öffnet.

In den Worten eines unter dem Namen seines großen Vorgängers Jesaja überlieferten anonymen Propheten hört sich das im 5. Jahrhundert vor Christus so an: „Brich den Hungrigen dein Brot, nimm obdachlose Arme ins Haus auf, wenn du einen Nackten siehst, bekleide ihn und entziehe dich nicht deiner Verwandtschaft“ (Jes 58,7). Verwandtschaft meint hier mehr als familiäre Verbundenheit. Es geht im weitesten Sinn des Wortes um den Mitmenschen, der mich jetzt braucht. Es geht um soziale Verantwortung, insbesondere dem abgeschlagenen, und scheinbar ungehörten Anderen gegenüber. Es geht somit um Gott, denn Gott geht es immer um Beziehung. Deshalb hat er uns als „Wir“ erschaffen.

Die Zeit, in die der Prophet seine Mahnung hineinruft, sind die Jahrzehnte nach der noch nicht überwundenen Katastrophe des babylonischen Exils. Wahrscheinlich steht er auf den Trümmern des halbzerstört daliegenden Jerusalem. Es finden sich bei ihm viele Hinweise darauf, dass es damals ein paar Superreiche, ansonsten aber fast nur Bettelarme gibt. Allenthalben herrscht die Angst ums wirtschaftliche, ja vielfach ums nackte Überleben. Der Prophet prangert an, dass das Leben der Begüterten auf dem Rücken der unter dem Existenzminimum dahinsiechenden Masse stattfindet. Sie, die wirtschaftlich Erfolgreichen, sind aber felsenfest davon überzeugt, gerecht zu handeln, weil sie sich an die religiösen Vorschriften halten und regelmäßig den Tempel aufsuchen (vgl. Jes 58,3). Es handelt sich um scheinheilige Sprüche, denn selbst an Feier- und Fasttagen kümmert sich jeder und jede von ihnen vorrangig um sein Business ganz nach dem Motto: „Gerecht ist, was mir zugutekommt“. Nach dem Verständnis des Propheten (und der ganzen Heiligen Schrift) gibt es aber Gerechtigkeit nur in der „Wir“-Form.

Gerechtigkeit in der „Wir-Form“: auch heute würde der Prophet eindringlich darauf hinweisen, dass wir als Mitmenschen miteinander verwandt und untereinander unauflöslich vernetzt sind. Gerade in einer globalisierten Welt besteht eine starke Verantwortung gegenüber jenen unserer „Verwandten“, auf deren Kosten wir leben. Das sogenannte Lieferkettengesetz führt uns endlich vor Augen, dass diese Verantwortung bis in die Hinterhöfe und „Textilfabriken“ von Bangladesch, Indien oder Myanmar reicht. Wir sind mit den dort für unseren Wohlstand arbeitenden und leidenden Menschen auf unterschiedlichste Art miteinander verbunden, ja auf kompliziertesten Wegen mit ihnen und vielen anderen regelrecht verschlungen: mit der Baumwollpflückerin in Indien, dem Arbeiter in der vietnamesischen Baumwollkämmerei, mit der türkischen Textilfärberin, den Billiglohnkräften in der polnischen Weberei und mit der bulgarischen Näherin; nicht zu vergessen der litauische Fernfahrer.

Wir sind wie die Glieder der Lieferkette untereinander als Verwandte und mit Gott verbunden. Seine Gerechtigkeit bekommt dann Hand und Fuß, wenn wir endlich begreifen: „Das Ich gibt’s nur als Mich“.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

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