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„Der fromme Glaube allein genügt nicht in dieser Zeit“ - Nachdenken über Bischof Ketteler im Krisenjahr 2023

Die Kirche ist und bleibt in der Pflicht für die soziale Gerechtigkeit

Der „fromme Glaube genügt aber nicht in dieser Zeit, er muss seine Wahrheit durch Taten beweisen!“ Mit diesem Satz aus seiner ersten Adventspredigt im Jahr 1848 (nebenan im Dom) bringt Bischof Emmanuel von Ketteler die wohl wichtigste Einsicht seines Lebens auf den Punkt. Konsequent hat er bis zu seinem Tod am 13. Juli vor 146 Jahren seine Lehre und Handeln an dieser Maxime ausgerichtet. „Der fromme Glaube (allein) genügt nicht“. Mit dieser Erkenntnis wandte sich Ketteler, der als Pfarrer im Münsterland durch seine Rolle am Rande der ersten deutschen Nationalversammlung Berühmtheit erlangt hatte, an die Adresse der Kirche seiner Zeit. In deren Verkündigung und Liturgie kamen Menschen in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen mit genau 0,0 % vor – und dies obwohl über 90% der Bevölkerung in den Hungerjahren seit 1845 nicht wussten, wovon sie am nächsten Tag leben sollten und ihre Haut buchstäblich auf dem Arbeitsmarkt feilbieten mussten. In der Theologie und unter den Bischöfen ging es damals um anderes, etwa um vermeintliche oder echte Irrlehren, mit denen sich die Beteiligten gegenseitig in Rom anzeigten; genauso standen die Abwehr des übergriffigen preußischen Staates und die wachsende Zentralisierung nach Rom hin auf der Tagesordnung. Fällt Ihnen, fällt euch der Unterschied zu heute auf? Allzu groß ist er nicht, denn auch 175 Jahre nach Kettelers Adventspredigten dreht sich die Kirche wieder um sich selbst. Stark abgewandelt möchte ich sagen: „Große Reformprogramme genügen nicht in dieser Zeit“. Diese müssen ihre Wahrheit durch Taten angesichts der massiven gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart erweisen. Ganz bestimmt würde Ketteler die Bischöfe und das Volk Gottes an die Selbstverpflichtung der beiden großen Kirchen aus dem Jahr 1997 erinnern. Es heißt dort etwas geschraubt: „Konstitutiv und verpflichtend ist es für die Kirche und ihren Auftrag zur Seelsorge, die Verantwortung für eine sozial gerechte Gestaltung des menschlichen Lebensraumes, seiner Strukturen und seiner Systeme wahrzunehmen und daraus Konsequenzen zu ziehen.“ Weniger kompliziert: Für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, ist und bleibt eine der zentralen Aufgaben der Kirche. Ketteler ist in diesem Punkt unerbittlich. Sind wir es auch?

Soziale Gerechtigkeit anstatt Almosen

Zu Beginn seines seelsorgerlichen Wirkens als Pfarrer im münsterländischen Hopsten war Ketteler dank seiner „großen Witterungsfähigkeit für soziale Not“ (Karl Lehmann) ganz auf die Praxis der Nächstenliebe konzentriert. Eine radikal und konsequent aufsuchenden Caritas würde, so seine Überzeugung, den Umbruch zum Besseren in der Gesellschaft bringen und die Herzen der Deklassierten der Kirche wieder zuwenden: "Die Armen müssen erst wieder fühlen, dass es eine Liebe gibt, die ihrer gedenkt, ehe sie der Lehre der Liebe Glauben schenken. Dazu müssen wir die Armen und die Armut aufsuchen, bis in ihre verborgensten Schlupfwinkel ihre Verhältnisse, die Quellen ihrer Armut erforschen, ihre Leiden, ihre Tränen mit ihnen teilen." Heute würde Ketteler eine hochauflösende Sensibilität für die vielen Gesichter der Armut in unseren Tagen propagieren, denn viele ihrer Erscheinungsformen sind nicht selten verschämt, verborgen und unsichtbar, besonders wenn es um tiefe Verletzungen und um Isolierung von Menschen geht. Aber genügt das?

Als sehr aufmerksamer Beobachter der Gesellschaft seiner Zeit hat Ketteler dann schnell gelernt, dass mit der bloßen Übung der Nächstenliebe für die Lösung der sozialen Frage kaum etwas getan werden konnte. Es ist faszinierend zu sehen, wie er immer mehr die Arbeiterfrage als Kern der immensen sozialen Verwerfungen von der caritativen auf die gesellschaftspolitische Ebene bringt. Leider folgen heute immer wieder Verantwortliche in Politik und Kirche diesem von Bischof Ketteler vorgelebten Lernweg nicht. Sie betonen nach wie vor vermeintlich zentrale Bedeutung des Charity-Gedankens: wer wirtschaftlich gut situiert ist, soll freiwillig und umfänglich Almosen „nach unten“ verteilen: wohltätige Stiftungen, caritativ tätige Großvereine und edle Spenderinnen und Spender mildern so die zum Teil katastrophale Situation am unteren Ende der Gesellschaft. In diesem Ansatz nimmt auch die vollständige Privatisierung der Carearbeit, insbesondere die dann häusliche Pflege von alten Menschen und Sterbenden, einen prominenten Platz ein: freiwilliger Dienst um Gottes Lohn. Die gesellschaftliche Verantwortung des Staates wird auf ein Minimum reduziert. Es ist klar, dass diese Überlegungen nicht nur zu einer weiteren Benachteiligung von Frauen führen würden. Vielmehr liegt es auf der Hand, dass sich ähnlich wie in den Vereinigten Staaten unsere Gesellschaft endgültig spalten würde. Ketteler hat glasklar erkannt, dass nur konsequent angewandte soziale Gerechtigkeit, nicht aber lediglich noch so engagierte Nächstenliebe die Gesellschaft zusammenhalten und für alle Menschen voranbringen kann. Sozialer Gerechtigkeit geht es im Kern immer um die Grundfragen der Würde, der Ehre, des eigenen Werts, des fairen Miteinander, des Nachteilsausgleichs und einer angemessenen Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und Interessen. Soziale Gerechtigkeit also anstatt Charity!

Es geht zentral um die Menschenwürde

Als Hauptfeind der arbeitenden und darbenden Menschen seiner Zeit hat Ketteler den ungezügelten Liberalismus erkannt und bekämpft. Lohnempfängerinnen und -empfänger waren ohne jeden Schutz den Mechanismen der uneingeschränkten Gewerbefreiheit ausgesetzt, was die totale Abhängigkeit und soziale Isolierung der Arbeiter zur Folge hatte. Unter der Faszination der industriellen Massenproduktion zu immer billigeren Preisen ging der Blick für den Menschen, seine Würde und den Wert der Arbeit gänzlich verloren. Ketteler kämpfte deshalb im Namen dieser Würde und dieses Wertes, also im Namen der Menschenwürde und der sozialen Menschenrechte gegen die Menschenverachtung des Extremkapitalismus an. Hierbei hatte er unterschiedslos alle Betroffenen im Blick. Es ging ihm um Menschen. Einheimische und Zugewanderte, Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene hatten in seinen Augen die gleichen Rechte, die gleiche Würde als Menschen. Sie sind jedem Menschen als Geschöpf Gottes verliehen. Es wäre für Ketteler undenkbar gewesen, dass sich bald ein Fünftel aller Wahlberechtigten einer Partei zuwenden, die diese gemeinsame Würde aller tagtäglich in Frage stellt. Sie tut dies in ihrer sogenannten Sozialpolitik, die die Bevorzugungen und Benachteiligungen zwischen „Deutschen“ und Migrantinnen bzw. Migranten zum Grundprinzip erklärt. Etwa, indem sie die Stärkung der staatlichen Rente exklusiv für Staatsbürger ab 35 Beitragsjahren fordert und Menschen mit Migrationshintergrund gelinde gesagt nachrangig behandeln will. Ganz sicher würde Ketteler sich mit lautem Protest gegen die polarisierend eingebrachte Gegenüberstellung zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“ auf dem Arbeitsmarkt wenden und Begriffe wie „unkontrollierte Migration“ und „Sozialschmarotzern“ als das brandmarken, was sie sind: menschenverachtende Polemik, die Wählerstimmen bringen soll. Ket­te­ler ging und geht es um die Wie­der­her­stel­lung und Ach­tung der Men­schen­wür­de und Menschenrechte, die wir in der Polemik und Orientierungslosigkeit unserer aufgehetzten Gegenwart erneut verspielen könnten.

Klare Kante tut not

Es muss uns klar sein: zumindest die Mitglieder KAB dürfen sich nicht mit dem selbstbeschaulichen Disput innerkirchlicher Reformfragen zufriedengeben. Ganz im Gegenteil! In einer Zeit neuer Gefahren durch den Rechtspopulismus müssen wir mit der Frohe Botschaft, müssen wir mit unserer Überzeugung von der gleichen Würde aller Menschen und ihrer sozialen Rechte auf die Plätze unserer Gesellschaft gehen. Dazu gehört eben auch der Mut der Männer von 1934 (die KAB war damals ein reiner Männerverband). Sie bekannten sich in Mainz am Todestag des Arbeiterbischofs zu Christentum und Kirche, auch wenn sie durch eine alles übertönende Hitlerrede gestört wurden. Unter ihnen waren Bernhard Letterhaus und Nikolaus Groß.

Der „fromme Glaube genügt aber nicht in dieser Zeit, er muss seine Wahrheit durch Taten beweisen!“ Zeigen wir, dass wir begriffen haben, worin diese Taten heute bestehen: indem wir 1) uns als der Teil der Kirche profilieren, die sich sozialpolitisch und ethisch für eine gerechtere Gesellschaft in die Pflicht nehmen lässt. 2) Indem wir für soziale Gerechtigkeit kämpfen anstatt einer neuen Unkultur von freiwilligen Almosen das Wort zu reden und 3) – das ist das Wichtigste – der neuen Bedrohung der Menschenwürde und sozialen Menschenrechte in unserem Land rechtzeitig die Stirn zeigen. Wie gesagt, frommer Glaube allein reicht schon lange nicht mehr aus.