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Gerechtigkeit und Friede küssen sich – Nachklang zum Zweiten Adventssonntag 2023

„You must remember this, a kiss is still a kiss“ – ich höre diese Zeile und sofort habe den Anfang des Liedes „As time goes by“ aus dem Filmklassiker Casablanca im Ohr: großartige Musik für ganz großes Kino. Die Genialität dieses Films beruht unter anderem darauf, dass sich am Ende nicht die beiden Liebenden Ingrid Bergman als Ilsa Lund und Humphrey Bogart alias Rick Blaine engumschlungen den finalen Kuss geben und darüber „The end“ eingeblendet wird, sondern beide in eine je eigene ungewisse Zukunft gehen.

Küssen heißt auch sich aneinander reiben

„A kiss is still a kiss“. Ich muss an dieses Liedzitat denken, wenn ich den Antwortpsalm für die Messfeier am Zweiten Adventssonntag lese bzw. höre: „Gerechtigkeit und Friede küssen sich“, heißt es dort. Aber auch da ist es nicht der berühmte Kuss am Ende, sondern der Ausdruck von schwieriger Erinnerung und Sehnsucht. Denn die Beziehungsgeschichte von Gerechtigkeit und Friede ist mindestens so problematisch wie die zwischen Ilsa und Rick, als dritter wäre da noch Ilsas Ehemann Laszlo zu nennen. Ungewissheit, Vertrauensbruch und Konflikt bestimmen dieses Verhältnis genauso wie jenes zwischen Gerechtigkeit und Frieden. Dies hat auch damit zu tun, dass sich beide in ihrer Paarbeziehung auf gleicher Augenhöhe befinden: nicht wie in den ungezählten Liebesfilmen aus der Entstehungszeit von Casablanca und bis heute leider üblich ist, wo einer küsst und die andere geküsst wird. Ganz anders der Kuss zwischen Gerechtigkeit und Friede: er geschieht gleichzeitig und entspricht dem Wollen beider. Aber er bleibt unsicher und gefährdet. Denn sie können eine ohne den anderen nicht leben und doch reiben sie sich permanent aneinander. Hierzu passt es gut, dass das hebräische Wort für „küssen“ auch „miteinander und umeinander ringen“ bedeuten kann. Um den wirklichen Frieden muss man, muss frau kämpfen – das erleben viele Menschen so. Sie erleben, dass es stabilen Frieden nur im ständigen Ringen um Gerechtigkeit gibt. Jeder Frieden muss gegen neue Ungerechtigkeiten verteidigt werden. Kämpfen, Ringen, Küssen – was für eine Beziehung! Wer sich liebt und küsst, dem ist der gemeinsame Weg mit dem oder der anderen ebenso wichtig, dass er dafür jederzeit Konflikte auf sich nimmt.

Gesellschaftlichen Frieden gibt es nur im Ringen um eine Verteilgerechtigkeit

Die Beziehung zwischen Ilsa mit ihrem Mann Laszlo und Rick mag kompliziert sein, aber sie ist überschaubar verglichen mit Verhältnis von Gerechtigkeit und Friede. Wie sehr die Gegenwart dieser beiden von Zurückweisung und gegenseitiger Ignoranz bei gleichzeitigem Verlangen nacheinander bestimmt ist, zeigen die aktuellen Verteilungskämpfe in der Haushaltspolitik der Bundesregierung. Hier fällt erneut auf, dass gesellschaftlicher Friede ohne die halbwegs gerechte Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel nicht zu haben ist. Friede stellt sich erst dann ein, wenn die schlechte Behandlung der Gerechtigkeit und deren Demütigung endlich aufhören. Der Friede verlangt die ehrliche Antwort auf eine Reihe von Fragen: Wem steht was zu? Warum besitzen zehn Prozent der Bevölkerung über 60 Prozent des Nettogesamtvermögens in Deutschland, das damit fast die größte Lücke zwischen Arm und Reich in Europa aufweist? Wie hoch ist eigentlich der existenznotwendige Bedarf eines Menschen für ein würdiges Leben und gesellschaftliche Teilhabe? Aber auch das will der Friede wissen: warum wird ein Teil der für das gesellschaftliche Wohlergehen unabdingbaren Arbeiten so schlecht bezahlt, dass sich tatsächlich beim ersten Hinsehen der populistisch verzerrte Eindruck von einem besseren Leben mit Arbeitslosigkeit aufdrängt? Warum müssen in einem der reichsten Länder der Welt so viele Menschen trotz harter Arbeit von der Hand in den Mund leben?[1]

Der Anfang einer wunderbaren Freundschaft

"Gerechtigkeit und Friede küssen sich", so formuliert es vor 2.500 Jahren der Dichter eines Psalms. Diese alte Weisheit hat an Aktualität nichts eingebüßt: Ohne Gerechtigkeit gibt es in unserer Gesellschaft keinen dauerhaften Frieden. Ungerechtigkeit produziert einen Konflikt nach dem anderen. Advent heißt für engagierte Christinnen und Christen, um die Beziehung von Gerechtigkeit und Frieden zu kämpfen. Das heißt noch lange nicht, dass beide mit einem filmreifen Kuss ewige Liebe besiegeln müssen. Aber wir sollen unseren Beitrag dazu leisten, dass es zwischen beiden zum „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ kommt. Nicht ein Kuss, sondern dieser Satz steht am Ende von Casablanca.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

[1]Mehr zur aktuellen Einkommensverteilung und Einkommensungleichheit in Deutschland: WSI Verteilungsbericht 2023 – Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie, www.wsi.de/fpdf/HBS-008729/p_wsi_report_90_2023.pdf