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Heiliger Kommunismus, kommunistisches Heiligsein – Nachklang zum 30. Sonntag (A) 2023

Wenn ich den Armen Brot gebe, bin ich ein Heiliger. Wenn ich ihnen sage, warum sie arm sind, bin ich ein Kommunist!“ Diese Feststellung stammt aus dem Mund des 1999 verstorbenen brasilianischen Bischofs Dom Helder Camara. Er gehört zu den mutigsten und bedeutendsten Menschenrechtlern des 20. Jahrhunderts und ist bis heute eines der größten Vorbilder für eine glaubwürdige Kirche. Sein Leben und seine Botschaft bezeugen bleibend, dass beides zusammengehört: sich im eigenen Umfeld den Menschen, die es schwer haben, zuzuwenden und gleichzeitig gesellschaftlich zu überlegen, wie Not auf Dauer gelindert werden kann.

 

Wie ein schreiendes Ausrufezeichen

Ob nun Kommunist oder Heiliger - für Camara ist Nächstenliebe ohne politische Relevanz undenkbar. Nur wenige Menschen unserer Zeit sind dem biblischen Verständnis von Nächstenliebe so nahegekommen wie er. Er begreift, dass Nächstenliebe ein Tätigkeitswort ist, denn für ihn steht außer Zweifel: wenn Gott in der Heiligen Schrift unentwegt auf Arme, Entrechtete und Unterdrückte in seinem Volk hinweist, dann nicht, damit diese ausreichend Almosen erhalten und damit ruhiggestellt werden. Entscheidend ist vielmehr die Veränderung der Herzen derer, die eine Veränderung der Gesamtsituation bewirken können. In diesem Sinn spricht Camara davon, dass er den Armen ihre Situation erklärt. Er meint damit seinen Herzens- und Gesinnungswandel durch ein gemeinsames Begreifen mit den Armen und die Konsequenzen, die sich daraus nicht nur für ihn ableiten. Das Ziel ist eindeutig: am Ende soll und darf es keine Armen, Entrechteten und Unterdrückten mehr geben. So gesehen ist Nächstenliebe etwas völlig anderes als das Gefühl, das wir aus ihr gemacht haben. Daher steht die alttestamentliche Lesung an diesem Sonntag (Ex 22,20-26) wie ein schreiendes Ausrufezeichen da, das noch lauter zu hören ist, wenn man den Hintergrund dieses Textes bedenkt. Höchstwahrscheinlich ist dieser Abschnitt des Buches Exodus in der traumatischen Kriegssituation der Zerstörung des Reiches Israel und der nachfolgenden Vertreibung seiner Bevölkerung durch die Okkupationsmacht der Assyrer (722 v.Chr.) entstanden.

 

Gewissensfragen unserer Gesellschaft

In dieser Situation geht es nur noch darum, wer zwischenmenschliche Gerechtigkeit lebt und wer nicht. Antworten müssen gegeben und gelebt werden! Darf ich die Notsituation der Fremden, die flüchten mussten und in Strömen nach Jerusalem kommen, ausnützen? Darf ich sie ausbeuten, obwohl ich selber aus dem Volk Israel und damit aus einem Volk von Migrantinnen und Migranten stamme, die in Ägypten selber Unterdrückung und Ausbeutung über Generationen hinweg am eigenen Leib zu spüren bekommen haben? Darf ich die Witwen und Waisen, die der Krieg hervorbrachte und die sozial zu den Schwächsten gehören, darf ich sie für einen Hungerlohn Drecksarbeit verrichten lassen oder sie einfach ignorieren? Muss ich nicht damit rechnen, dass Gott ihr Schreien hören und für sie eintreten wird? Und wie steht es mit den Armen, die durch Schicksalsschläge fast ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben? Darf ihnen durch überhöhte Preise und eine Verknappung des zum Leben Notwendigen nun auch noch den Rest nehmen? Muss ich sie nicht unterstützen und ihnen helfen, wieder auf die Beine zu kommen? Denn Gott hat, so heißt es ausdrücklich, Mitleid mit ihnen. – Und heute? Kann die Nächstenliebe tatenlos jene Menschen in unserer Mitte übersehen und überhören, die weder unser Land noch unsere Sprache und schon gar nicht ihre Rechte als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kennen? Kann die Nächstenliebe eine Wiederholung der in den letzten Jahren in der Fleischindustrie, auf Großbaustellen und im Versandhandel aufgedeckten massenhaften Ausbeutung und das unglaubliche System von Auspressung und Risikoverschiebung „nach unten“ hinnehmen? Kann die Nächstenliebe ruhig bleiben angesichts der rund sieben Millionen Menschen, die in unserem Land in sogenannten „atypischen Beschäftigungsverhältnissen“ arbeiten und weder über finanzielle Sicherheit noch langfristige Planungsmöglichkeiten verfügen?

Einfach nur Christ

Heiliger oder Kommunist? Einfach nur Christ! Dom Helder Camara hat unter den Stempeln gelitten, die ihm die brasilianische Politik genauso wie der Vatikan immer wieder aufgedrückt haben. Noch wichtiger aber war es ihm, in seinem Leben aus dem Blickwinkel Gottes handeln. Und dies war und ist die Perspektive der Ärmsten.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands