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Köln Hauptbahnhof, Vorweihnachtszeit 2023 – Ein Nachklang zum Dritten Advent

Ein Adventserlebnis in der Warteschlange

Meine Bahncard war abgelaufen und ich wollte am Fahrkartenschalter für Ersatz sorgen. Doch an diesem Donnerstagmittag ging im Kölner Hauptbahnhof wenige Stunden vor dem für den Abend ausgerufenen Streik gar nichts mehr. Schon um eine Nummer ziehen zu können, musste ich zwanzig Minuten anstehen. Schnell griff die gereizte und teilweise offen wütende Stimmung der Wartenden auf mich über. Wahrscheinlich hätte ich meinen Unmut auch offen gezeigt, wäre mir nicht eine ältere Frau drei Plätze vor mir in der Warteschlange wegen ihres „völlig unpassenden“ Verhaltens aufgefallen. Sie zeichnete sich durch ihre ruhige und selbstsichere Erscheinung inmitten der Schar der frustrierten Menschen aus. Dabei wurde und wird auch auf ihrem Rücken der aktuelle Tarifkonflikt zwischen Bahn und Lokführern ausgetragen. Ab und zu redete sie beschwichtigend auf den sie begleitenden Jugendlichen ein und hatte ein verständnisvolles Wort für die Leute in ihrer Nähe. Später sah ich, wie sie erkennbar wohlwollend am Nachbarschalter ihr Anliegen benannte. Ich begreife diese Begegnung im Nachhinein als besondere Adventserfahrung. Menschen wie diese Frau verdeutlichen mir, dass für Gott die individuellen und kollektiven Ohnmachtserfahrungen in unserem gegenwärtigen Leben nicht das letzte Wort haben können und dürfen. Die täglichen Nachrichten vom Krieg in der Ukraine und im Gazastreifen, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Turbulenzen in unserem Land, aber auch der Streik einer kleinen Gewerkschaft, die rücksichts- und respektlos ihre Macht demonstrieren will: das alles zwingt viele von uns in eine nie gekannte Passivität und den zermürbenden Zustand bloßen Hinnehmens.

Die Masse der Erniedrigten

Wie keine zweite Gestalt der Adventszeit gehört Maria zur Masse derer, deren Sorgen und Bedürfnisse, wenn überhaupt, als Spielball, nicht aber als Beweggründe im nationalen und internationalen Mächteringen auftauchen. Das Neue Testament spricht von „Tapeinosis“, was primär für Geringschätzung, Erniedrigung und Verachtung steht. Und dies im umfassenden Sinn. Das Wort kann politische und soziale Unterdrückung, Armut und komplette Marginalisierung bezeichnen. Maria gehört zu einem von den römischen Besatzern weithin unterdrückten Volk. Mit und in diesem Volk vertraut sie aber auf einen Gott, der zeitlos hinschaut und einen Blick für die Menschen hat, der rettet und Perspektive gibt. Deshalb bricht sie in Jubel aus: „Meine Seele preist die Größe des Herrn, … denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut“ (Lk 1,46b.48). 

Die Überwindung der Gegensätze

Was aber bedeutet das für die „Niedrigen“ in unserer Gesellschaft? Es geht auf der einen Seite um die wachsende Zahl der Menschen in Altersarmut, mit schlechten Löhnen oder um die als soziale Verlierer Abgestempelten. In einem umfassenderen Sinn trifft dieser Begriff aber auch auf all jene zu, die immer wieder neu erniedrigt werden, weil sie sich nicht oder nicht ausreichend gegen machtpolitische Gängelung, Unrecht und Zwang wehren können: Menschen also, denen im wahrsten Sinn des Wortes von der Arroganz der Macht tagtäglich vorgeführt wird, wie wirkungslos sie sind. Sprichwörtlich „kleine Leute“, die vielleicht dann erst auffallen, wenn sie extremistische Parteien wählen oder zu verbaler und schließlich tätlicher Gewalt greifen, um sich Gehör zu verschaffen und für eine Umkehr der Verhältnisse kämpfen. Aber es wird sich nichts ändern, wenn die heute „Niedrigen“ die „Hohen“ und Mächtigen von morgen sein werden. Die einzige Hoffnung und Perspektive für unsere Welt und Gesellschaft besteht in einer Überwindung der Gegensätze von Macht und Ohnmacht, Reich und Arm, Gewinnmaximierung und Ausbeutung. Oder auch von Fressen und Gefressenwerden. (vgl. Jes 11,6-8).

Zurück zur Frau in der Warteschlange vor mir. Sie gehört zu den Erniedrigten und zeigt doch Größe und Großherzigkeit. Aus ihrer Ohnmacht wird so Wirkmächtigkeit: In ihrem Umfeld vermittelt sie Gottes Maßstab für Menschenwürde und Menschlichkeit. An dieser Frau „hat der Mächtige Großes getan“ und er tut es immer wieder, wenn wir nur mitmachen!

Stefan Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands