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„Komplexitätsverweigerung“ oder die Hoffnung auf das Aussterben einer Tierart

Ein Nachklang zum 2. Sonntag

 

Zugegeben, das Wort „Komplexitätsverweigerung“ klingt ein wenig wie die modischen Plastikwörter in Politik und Wirtschaft, die die Konkretisierung scheuen wie der Vampir das Tageslicht. Das mit diesem Wortungetüm Gemeinte nimmt im Bild des ausgestreckten Zeigefingers schärfere Konturen an: auf dessen Fingernagel passen nämlich die dürftigen Argumente der Komplexitätsverweigernden.

 

Beispiel gefällig? Diese Zeilen entstehen am 12. Januar 2023 und damit an Tag 12 der Debatte um die Silvesterkrawalle 2022/2023. Noch immer deuten ungezählte Zeigefinger irrlichternd auf „die Schuldigen“. Allein für die letzten 24 Stunden listet die Suchmaschine zehn weitere Stellungnahmen auf. Kommentiert werden Kommentare, die wiederum Kommentare zu Kommentaren sind. Rassismusvorwürfe, populistische Ansagen (Stichwort „Kleine Paschas“) und eine pausenlos befeuerte Empörungsmaschinerie halten den gut eingeübten Sündenbock-Mechanismus in Schwung. Es geht um die Zuschreibung von Schuld und Gesamtverantwortung sowie die kollektive Selbstvergewisserung der eigenen „Unschuld“. Beim alttestamentlichen Sündenbockritual war dem Volk und Hohepriester wenigstens jederzeit klar, dass es um ihre aller Verfehlungen und moralischen Fehlleistungen ging. Ein öffentliches Kollektivbekenntnis. Bei uns aber liegt der Focus wieder einmal auf einer gut definierbaren Gruppe und dem in dickem Farbauftrag skizzierten Vielfachversagen von Eltern, Familien und Milieus der gewalttätigen Jugendlichen. Gemeint sind natürlich auch immer jene, die sozusagen schuld an der Schuld sind: Politikerinnen, Pädagogen, linke Ideologen, Stadtplanerinnen usw. Dumm nur, dass damit kein einziges Problem gelöst ist, zumal es soziale Brennpunkte, vernachlässigte Bevölkerungsschichten, kaputt gesparte Schulen und Underdogs schon lange vor der Neujahrsnacht gegeben hat. Sozialer Abstieg, ungerecht verteilter Wohlstand, gesellschaftliche Ohnmachtserfahrung und Kriminalität sind unabhängig von Hautfarbe und Herkunft ein Dauerthema. Und bei genauerem Hinschauen erweisen sich Sündenböcke als Menschen.

 

„Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29). Auch im Sonntagsevangelium geht es um einen ausgestreckten Zeigefinger und einen ganz besonderen Sündenbock: die Deutegeste Johannes des Täufers und seinen Verweis auf Jesus. Hier drohte und droht zumindest die sehr spezielle Komplexitätsreduktion einer einseitig auf den Gedanken des Sühneopfers fixierten Kreuzestheologie: Jesus nimmt als Lamm den Zorn Gottes über die Sünden der Menschen auf sich und „alles ist gut“. Alles gut? Überhaupt nicht! Denn gemeint ist mit dem „Lamm Gottes“ eben nicht nur das kultische Opfertier schlechthin (sacrificium, sacrifice), sondern auch der exemplarisch zum Gewaltopfer (victima, victim) gewordene Gottessohn. Damit aber steht er auch für die Sündenböcke unserer Zeit, für Menschen, die geopfert werden, weil es im Sinne gesellschaftlicher und politischer Komplexitätsverweigerung „Schuldige“ geben muss. Hinter dem „Lamm Gottes“ versammeln sich somit jene, die auf der Schattensete von individueller Selbstbestimmung, Liberalismus und Fortschritt die Rechnung für vertagte Entscheidungen, verschobene Verantwortung und nicht gemachte Hausgaben in den wachsenden Krisenszenarien unserer Gegenwart bezahlen.

 

Johannes zeigt auf den großen Sündenbock und indirekt die vielen kleinen Sündenböcke in seinem Gefolge. Er fordert uns auf, die auf ihn und alle anderen projizierten heillosen Zustände, Elend und Menschenverachtung sowie alle anderen frech ausgeblendeten Seiten der dunklen Wirklichkeit unserer Welt zu erkennen und dann der Sündenbockstrategie ein Ende zu setzen: „Seht das Lamm Gottes und anerkennt eure Verantwortung füreinander und eurer permanentes Schuldigwerden aneinander! Bekennt endlich, dass eure Kapital-Religion (Walter Benjamin), euer notorisch unterfinanziertes Bildungssystem und euer vernachlässigter Sozial- und Pflegebereich nur auf Kosten von Opfern und Geopferten funktioniert!“

 

Es ist mühsam und sehr schnell überkomplex, der individuellen Verstrickung in die großen Schuldstrukturen unserer Gegenwart nachzuspüren und in den eigenen Netzwerken und darüber hinaus für einen ebenso ehrlichen wie korrekturbereiten Umgang mit den Ursachen und Wirkungen zu werben. Aber der hoffentlich bald eintretenden Ausrottung der Tierart „Sündenbock“ dient es in jedem Fall.

 

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands