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Leiden neu lernen – ein Nachklang zum 19. Sonntag A

Foto: Rabbe

Leiden neu lernen – ein Nachklang zum 19. Sonntag A

„Ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich wünschte selbst verflucht zu sein, von Christus getrennt, um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind.“ (Röm 9,2-3). Normalerweise erleben wir Paulus als den souveränen Verfasser schwer verständlicher und kaum verdaulicher Überlegungen zum Glauben. Doch an diesem Sonntag erlaubt er uns einen Blick in sein Innerstes. Es trifft ihn bis ins Mark, dass das Volk, aus dem er stammt, sich der Botschaft des Evangeliums verschließt. Ja, es macht ihn fassungslos, dass das Volk, aus dem Jesus selbst stammt, diesem mit großer Mehrheit ablehnend gegenübersteht. Daher würde Paulus alles, sogar sein Seelenheil dafür geben, könnte er dies ändern. Es schmerzt einfach unendlich, wenn die, die einem jahrzehntelang nahestehen, nun auf Distanz gehen und mit teilweise aggressivem Unverständnis auf den eingeschlagenen Weg reagieren.

 

Antrainierte Reaktionsmuster

Permanentes Leiden angesichts der Ablehnung, der mein Glauben ausgesetzt ist? Auf mich trifft dies nur bedingt zu. Angesichts der Betroffenheit des Paulus stehe ich mit meinen im Lauf der Jahrzehnte zum Selbstschutz antrainierten Reaktionsmustern eher beschämt. Oft denke ich mir: sollen doch die Menschen in meinem Bekanntenkreis und meinem beruflichen Umfeld, sollen nahe und entfernte Verwandte bitteschön nach ihrer eigenen Façon glücklich werden. Aber ganz kalt lässt es mich eben doch nicht, wenn sich Menschen, die mir im Laufe meines Lebens ans Herz gewachsen sind, sich nun nicht nur vom Glauben, sondern auch von mir, dem Repräsentanten einer zuhöchst unglaubwürdigen Institution, abwenden. Aber braucht es erst diese drastischen Erlebnisse, um wieder berührbarer für die dramatische Situation des Glaubens weit über den eigenen Erfahrungs- und Wirkungskreis hinaus zu werden?

 

Persönliche Irrelevanz

Alarmierend ist vor allem die Tatsache, dass die Zustände in unserer Kirche als Anlass für die hohen Austrittszahlen nur einen Teil der Wahrheit abbilden. Nicht zuletzt durch persönliche Erfahrungen sehe ich die Ergebnisse einer Studie der Evangelischen Kirche aus dem Jahr 2021 belegt, die den tieferen Gründen nachgeht.[i] Diese lassen sich unter der Überschrift "Persönliche Irrelevanz von Kirche und christlicher Religion" zusammenfassen. Das Christentum hat für das eigene Leben einfach (schon lange) keine Bedeutung. Der Sinn des Lebens? Trost? Ethische Orientierung? Keine Frage der Religion. Die Studie spricht von „Traditionsabbruch“. Aber wie tief berührt dieser Befund unsere Kirche? Alles in allem verdichtet sich bei mir mit Blick auf die fast schon zum Ritual gewordenen Reaktionen im Kontext der alljährlich verkündeten neuen Rekorde der Austrittszahlen der Eindruck, dass sich die Mehrheit der in der Kirche hauptamtlich Tätigen notwendigerweise ein dickes Fell zugelegt hat. Bei Paulus könnten sie (und ich genauso!) wieder Berührbarkeit und leiden lernen.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

[i]www.ekd.de/studie-zu-den-austrittsgruenden-durch-das-si-ekd-71941.htm