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„… was du nicht hörst“ - Nachklang zum 2. Sonntag (B) 2024

Hellhörigkeit im Betriebslärm

Das Kinderspiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ ist sogar unter Erwachsenen weit verbreitet. Von dessen akustischer Variante „Ich höre was, was du nicht hörst“ lässt sich das allerdings nicht gerade behaupten. Offensichtlich gibt es im Alltag viel mehr zu sehen als zu hören. Meine und die Augen meiner Geschwister waren während langer Autofahrten in unserer Kinderzeit stets mit einer Fülle an zu erratenden „Entdeckungen“ beschäftigt, während unseren Ohren meistens nur das einschläfernde Geräusch des VW-Käfer-Motors zu hören bekamen. Nur manchmal drang die Stimme unserer Eltern zu uns durch.

Ich stelle mir die in der heutigen Lesung geschilderte Szene zwischen dem jungen Schüler Samuel und dem ebenso alt wie schwerhörig gewordenen Chef des israelitischen Heiligtums Eli mit umgekehrten Rollen vor. An Elis Ohren dringt fast nur noch das überlaute und monotone Betriebsgeräusch des von ihm betreuten religiösen Kults. Am (leider nicht mit vorgelesenen) Beginn dieser im ersten Buch Samuel aufgeschriebenen Geschichte heißt es „Worte des Herrn waren in jenen Tagen selten“ (1Sam 3,1-10). Dies deutet weniger darauf hin, dass Gott nichts mehr zu sagen hatte. Vielmehr konnte er nicht durchdringen und seine Worte fanden kein Gehör mehr. Samuel hingegen ist in diesem Kontext für die Stimme Gottes hellhörig, ohne freilich das Vernommene gleich deuten zu können.

Leise Menschlichkeit und laute Unmenschlichkeit

Und heute? Das „Was du nicht hörst“ wächst sich zum Existenzproblem für unser Zusammenleben aus. Gesellschaft und Politik werden zusehends von immer lauter vorgetragenen Worthülsen und gewalttätigen Botschaften beherrscht. Der Galgen wird fast 80 Jahre nach Ende des NS-Regimes immer häufiger als Todessymbol verwendet und das wofür er steht, widerspruchslos hingenommen: die Beseitigung des politischen Gegners durch Hinrichtung. Hier ist längst die Schwelle zur Unmenschlichkeit überschritten. Einschüchterung um jeden Preis wird teuer mit der Verrohung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens bezahlt. In einem noch viel schlimmeren Maß bewirkt diese Verrohung die schreiende Menschenverachtung, die mit den in dieser Woche bekanntgewordenen Überlegungen rechtsextremer Kreise zu einer umfassenden Vertreibung von Migranten aus Deutschland einhergeht: Menschen werden in unserem Land (wieder) nach ethnischen Merkmalen (aus)sortiert. Es gehört zu den grausamen Mechanismen des modernen Medienbetriebs, dass nun das Schlagwort „Remigration“ in einer breiten Öffentlichkeit präsent ist und sich der eigentlich zutreffende Begriff „Deportation“ so vermeiden lässt. Erneut wird die Grenze des Sagbaren verschoben und der gesellschaftliche Diskurs ist um eine weitere Unmenschlichkeit „reicher“ geworden.

Klartext

Inmitten dieses unerträglichen Lärms bittet unentwegt eine Stimme um Gehör: die Stimme der Menschlichkeit. Für mich als glaubenden und suchenden Menschen ist es Gott, der die Menschen heutzutage in diesem Sinn permanent anruft und darum bittet, sich gegen die eigene Entmenschlichung und die der Gesellschaft zu stemmen und den letzten Funken an menschlicher Würde nicht auszutreten. Diese Stimme ist so leise wie jene Stimme, die der junge Samuel vernimmt. Trotz seiner Jungend wird er dieser Stimme ein ganzes Leben lang Aufmerksamkeit verschaffen und Klartext sprechen. Er wird gegen jede Form von Machtmissbrauch angehen und ohne Rücksicht auf die eigene Person immer wieder auf die Konsequenzen von Unmenschlichkeit und Menschenverachtung hinweisen. Sein Auftrag ist auch der Unsere: Klare Kante zu zeigen und mit Mut und Solidarität dafür zu sorgen, dass immer mehr Menschen das hören, was sie offensichtlich schon lange nicht mehr gehört haben: die Stimme der Menschlichkeit und die eigene Stimme, die Grausamkeit und Hass mit bester Zivilcourage beim Namen nennt.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der Katholischen Arbeitnehmerbewegung Deutschlands