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„Weil das Menschsein sich zu leicht vergisst“ – Nachklang Nikolaus-Groß-Gedenktag 2023

„Weil das Menschsein sich zu leicht vergisst“(1). Mit diesem Fazit schließt das 1961 von Günter Kunert verfasste Lehrgedicht „Wie ich ein Fisch wurde“(2). Kunert wusste wovon er sprach und schrieb. 1929 in Berlin geboren, hatte er als Kind einer jüdischen Mutter unter den Rassengesetzen des Dritten Reiches zu leiden. Bereits 1949 wurde er Mitglied der SED und gehörte schnell zu den bekanntesten und produktivsten Autoren der Nachkriegszeit. Seit den frühen 1960er Jahren eckte Kunert wegen lauter werdender staatskritischer Töne in seinen Texten politisch immer häufiger an. Seine kurze Mitgliedschaft in der Akademie der Künste endet mit dem Hinauswurf. Nach seinem Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann erfolgte 1977 der Ausschluss aus der Partei. 1979 übersiedelte Kunert in den Westen und war bis zu seinem Tod 2019 als freier Schriftsteller tätig. Stets ging es ihm in seiner lakonisch pessimistischen Grundhaltung darum, Facetten der ihn fordernden Wirklichkeit sehr genau zu erfassen und weiterzudenken. Sein Credo lautete: „Ein Hellseher, der nicht schwarzsieht, verdient seine Berufsbezeichnung nicht“.(3)

Anpassung an die Katastrophe

Ich möchte anlässlich des diesjährigen Gedenktags für den seligen Nikolaus Groß und der neunzigsten Wiederkehr der sogenannten „Machtergreifung“ durch Hitler an einen der prägnantesten Texte Kunerts erinnern. Dieser scheint mir einen poetischen Verständniszugang zum Leben und Wirken des KAB-Märtyrers und seiner Frau Elisabeth anzubieten. Der Dichter schildert hier die Katastrophe einer alles Leben an Land vernichtenden Flut. Dieses Szenarium steht als Bild für eine übermächtige, von allen und allem besitzergreifende politische Umwälzung. An diese muss sich der Ich-Erzähler bzw. die Ich-Erzählerin um des eigenen Überlebens willen anpassen: Menschen werden zu Fischen.

Meine Arme dehnten sich zu breiten Flossen,
Grüne Schuppen wuchsen auf mir ohne Hast;
Als das Wasser mir auch noch den Mund verschlossen,
War dem neuen Element ich angepasst.

Bei näherem Hinhören aber erweist sich der offenbar unabdingbare Anpassungsvorgang als dauerhafter Verlust des Menschseins. Konsequente opportunistische Anverwandlung an die Übermacht allgegenwärtiger und von allen Seiten andrängender Gewalten führt letztlich zum unumkehrbaren Wegfall der Menschlichkeit. Die Fähigkeit zur Veränderung, die zunächst positiv erscheint und Rettung verspricht, erweist sich in der Konsequenz als Selbstaufgabe durch Entmenschlichung. Den Veränderungen in Aussehen und Bewegung folgt die Vollendung der Anpassung durch das dauerhafte Verstummen. Immerhin kann er/sie sich nun als Fisch träge gleiten lassen und wird eins mit der Flut, gegen die man/frau sich als Mensch zuvor chancenlos gestemmt hat. Es bleibt jedoch die quälende Frage offen, ob nicht der Preis für das bloße Über- und Weiterleben zu hoch ist.

Die „braune Flut“

Oft wird die NS-Ideologie mit einer braunen Flut verglichen, die die Massen mitgerissen hat und bis in die feinsten Verästelungen des Privatlebens vorgedrungen ist. Eine überwiegende Mehrheit begrüßte diese Flut als vermeintlich rettendes Nass nach jahrelanger politischer und wirtschaftlicher Dürre.(4) Für Nikolaus Groß (und für seine von der entsprechenden Antwort betroffene Familie) wurde angesichts des sofort einsetzenden nationalsozialistischen Terrors die soeben genannte Gewissenfrage zur Entscheidung über Sein oder Nichtsein: War er bereit, den Preis weitestgehender Anpassung für ein bloßes Überleben zu zahlen? Groß antwortet mit einem klaren Nein und mutet diese finale Stellungnahme seiner Familie zu. Er konnte und wollte Menschsein und Menschlichkeit nicht aufgeben. Leben bedeutete für ihn menschenwürdiges Leben. Für ihn ging es zu jedem Zeitpunkt darum, seine Würde gegen die braunen Mächte der Unmenschlichkeit zu bewahren, und so zum Zeugen menschlicher Würde und Freiheit überhaupt zu werden. Wie kaum ein zweiter katholischer Gewerkschafter und Journalist seiner Zeit prangert er bereits in jungen Jahren die Zerstörung der Würde und Freiheit der Arbeiter und Arbeiterinnen samt ihren Familien an. Millionen von Menschen verwehrte das kapitalistische System der frühen Weimarer Republik einen adäquaten Zugang zu einer menschenwürdigen Grundversorgung. Von gleichen Chancen in der Bildung und Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft ganz zu schweigen. Groß ging es darum, Menschen in diesen bildungsfernen Schichten seiner Zeit in ihrer Humanität und Mündigkeit für den Kampf gegen die frühen Vorboten totalitärer Menschenverachtung und Gewaltverherrlichung auf Dauer zu stärken. Bildung war für ihn in diesem Sinne Herzensbildung der Masse der als Underdogs Abgestempelten. Nur so konnten diese Menschen gegen rassistische auf der einen und klassenkämpferische Einflüsterungen auf der anderen Seite immunisiert werden. Für seine eigene Person erkannte Groß jedoch in letzter Konsequenz, dass bloße Resistenz, ja nicht einmal mutiger Protest im Dunkel der sich zuspitzenden Katastrophe ausreichend sein konnten. Folgerichtig schloss er sich daher dem aktiven Widerstand an und bezahlte dafür mit seinem Leben.

Vom Fisch zurück zum Menschen

Auch heute haben wir es mit den Vorboten von pandemisch sich ausbreitender Inhumanität und Menschenverachtung zu tun. Längst ist der sprichwörtliche „Gang über Leichen“ ein wesentlicher Bestandteil von privaten Lebensentwürfen, nationalen und internationalen Politikkonzepten sowie eines auf Ertragsmaximierung getrimmten Wirtschaftssystems. Es wäre aber zu klischeehaft, lediglich auf das persönliche Zeugnis und die mutige Positionierung der einzelnen und des einzelnen abzuheben. Die erste und vielleicht schon entscheidende Frage lautet vielmehr, in welchem Maß ich persönlich bereits in der medialen Dauerüberflutung mit ihrer permanenten Inszenierung von realen und gefakten Katastrophen abgestumpft und in diesem Sinn entmenschlicht bin. Wie sieht meine Anpassung im dahinrauschenden Strom der Mitteilungen aus? Bilden sich bei mir langsam im Sinne des zitierten Lehrgedichts erste „grüne Schuppen“? Erreichen mich noch die Botschaften, die den sozialen und ökologischen Preis meines Lebensstils beziffern? Oder die Warnungen vor mehr und mehr akzeptierten regelmäßigen Einsatz von Gewalt als legitimes Alltagsmittel zur Durchsetzung vermeintlich „hehrer“ Ziele? Oder die Alarmsignale einer durch schamlose Bereicherung zerreißenden Gesellschaft? Nikolaus Groß hat mit feinem Gespür die in seiner Zeit um sich greifende Entmenschlichung erkannt. Sein Lebenszeugnis ist für mich der entscheidende Beleg dafür, dass der Weg zurück in humane Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt zu weit und zu schwer ist. Auch wenn der erste Schritt für die „Fische“ fast nicht mehr möglich scheint.

Denn aufs Neue wieder Mensch zu werden,
Wenn man’s lange Zeit nicht mehr gewesen ist,
Das ist schwer für unsereins auf Erden,
Weil das Menschsein sich zu leicht vergisst.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Textzitate nach Güner Kunert, So und nicht anders. Ausgewählte neue Gedichte, Carl Hanser Verlag 2002, 21f.

(2) Die nachfolgenden Überlegungen greifen vom Ausgangspunkt her eine Idee des Essener Weihbischofs Wilhelm Zimmermann aus dem Jahr 2018 auf: www.bistum-essen.de/fileadmin/relaunch/Bilder/Bistum/Bischof/Zimmermann/Sel.Nikolaus_Gross__Dom_-_23.01.2018.pdf

(3) Vom Zwang, genau hinzusehen. Zum Tod von Günter Kunert: SZ vom 23.9.2019 - https://www.sueddeutsche.de/kultur/nachruf-guenter-kunert-schriftsteller-ddr-1.4612497

(4) Kunert hat sich meines Wissens nicht zur politischen Interpretation seines Lehrgedichts geäußert. Zu möglichen Deutungen vgl. Jutta Southwell, Günter Kunert, The artistic development of a writer of the German Democratic Republic (1978): https://core.ac.uk/download/pdf/37777142.pdf

Dieser Nachklang ist auch als Podcast erschienen