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Wenn die Wand des Nachbarn brennt! - Nachklang zum 31. Sonntag (A) 2023

Frieden der Religionen. Foto: domradio

Pharisäer-Bashing

Bei mir läuten innerlich die Alarmglocken, wenn ich den Evangeliumstext für diesen Sonntag (Mt 23,1-12) lese. Das hier stattfindende Pharisäer-Bashing führte schon in der frühen Kirche zu deren Gleichsetzung mit den Juden insgesamt. Im Lauf der Jahrhunderte bildete sich aus diesen Anfängen ein „fruchtbarer“ Nährboden für die ungezählten religiösen wie politischen Varianten eines bis heute auch und gerade in Deutschland immer wieder aufflammenden Antisemitismus. Natürlich gilt es theoretisch als Selbstverständlichkeit, jeweils den entstehungsgeschichtlichen Kontext der Evangelien zu beachten. Daher müsste eigentlich klar sein, dass die antijüdischen Klänge zu Beginn der sogenannten Großen Gerichtsrede in den Zeitraum von ca. 50 bis 70 Jahren nach dem Auftreten Jesu in Palästina gehören. Sie werden von einer wachsenden Verbitterung der zunehmenden Zahl an christusgläubigen Juden und Heiden beherrscht. Sie stehen in einem existentiellen Deutungskonflikt der gemeinsamen heiligen Schriften mit den pharisäisch geprägten Lehrautoritäten jener Juden, die nach der Katastrophe des Römisch-Jüdischen Kriegs und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels um eine Festigung der jüdischen Identität ringen und so um das Überleben ihrer Religion kämpfen. Doch nicht einmal bei Predigerinnen und Predigern des Jahres 2023 kommt dieser seit Jahrzehnten einmütige Stand der Forschung durchgängig zum Tragen.

Kirchlicher Antisemitismus

Angesichts der unglaublichen Welle von antisemitischen Straftaten seit dem brutalen Terrorangriff der Hamas und der Israelischen Vergeltungsaktion sowie angesichts des auf deutschen Straßen offen bekundeten und intellektuell mehr oder weniger verbrämten Judenhasses erinnere ich mich deshalb erneut mit Scham daran, welchen Beitrag jahrhundertelang christliches Überlegenheitsgehabe und aggressive Geringschätzung gegenüber dem Judentum letztendlich mit zu dieser Situation beigetragen haben. Es bedeutet eine sehr inadäquate Sicht der Wirklichkeit, wenn in diesen Tagen fast ausschließlich vom „importierten Antisemitismus“ die Rede ist und mit dem Finger auf junge Geflüchtete aus arabischsprachigen Ländern gezeigt wird. Die Ursachen für das jüngste Aufwallen des Antisemitismus sind ebenso vielfältig wie unübersichtlich und leider gehören homiletische Phrasen über „die Pharisäer“, zumal wenn sie auf den Klerikalismus der Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger in der eigenen Kirche gemünzt sind, substanziell mit dazu.

Selbstzerstörerischer Hass

Ich würde gerne wissen, wie der Evangelist Matthäus heute über die Pharisäer und andere Repräsentanten des sich zu seinen Lebzeiten gewissermaßen neu erfindenden Judentums schreiben würde, könnte er die Wirkungsgeschichte von Textpassagen wie dem Evangelium dieses Sonntags überblicken. Vielleicht würde er nicht nur über die unsägliche Gewalt erschrecken, die Christen jüdischen Menschen in den letzten 1900 Jahren auch in Berufung auf sein Evangelium angetan haben. Möglicherweise würde er auch erkennen, welche Rückwirkungen Hass und Verachtung auch auf die Gesellschaft bzw. Religion haben, von denen sie ausgehen. In Anwendung der bitter-sarkastischen Anmerkung von Hannah Arendt, dass man nur auf dem Mond vor Antisemitismus sicher sei, lässt sich dieser als ein schwerer Infekt beschreiben, der die Köpfe und Herzen der Hassenden von innen her zerfrisst. Antisemitismus ist eine tödliche Erkrankung des gesellschaftlichen und kirchlichen Immunsystems, die zur Zersetzung der Werte-DNA führt.

Es geht um die „eigene Sache“

Hass macht nicht nur hässlich, sondern ist garantiert tödlich für die Gesellschaft, in der er sich entfaltet. Es geht um den todsicheren Mechanismus von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit: die Antisemiten von heute sind morgen selber die Semiten. Wenn es (hoffentlich!) so etwas wie eine Lerngeschichte nach jahrhundertelanger Judenfeindlichkeit nicht nur in der Kirche gibt, dann sollte diese zu einer Sensibilisierung für jede Form von Menschfeindlichkeit und Menschenverachtung beigetragen haben. Wer als Christ, als Christin heute klar gegen den Antisemitismus Stellung bezieht, tut dies auch, weil es um die gesellschaftlichen Grundlagen des eigenen Glaubens geht: „es geht um deine Sache“, heißt es beim römischen Dichter Horaz. Er fügt hinzu, „wenn die Wand des Nachbarn brennt“. In Wahrheit beginnt aber das eigene Haus zu brennen.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands