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Wer ruft endlich „Stopp!“? – Ein Nachklang zum 2. Sonntag der Fastenzeit 2024

Noch heute überkommt mich ein Schauder beim Gedanken, mit welcher Begeisterung ich als Jugendlicher manches der sogenannten „Neuen Geistlichen Lieder“ mitgesungen habe. Eines davon hat einer der Pioniere des Genres, Lutz Nagel, 1963 komponiert:

 

Lass mich an dich glauben, wie Abraham es tat.

Was kann dem geschehen, der solchen Glauben hat?

Seinen Sohn führt er zum Brandaltar,

zu opfern wie’s ihm von Gott befohlen war.

Lass mich an dich glauben, wie Abraham es tat.[i]

Opferbereitschaft?

Was für ein Gottesbild und was für eine Vorstellung vom Glauben! Gott wird hier als der präsentiert, der Menschen wie Abraham willkürlich zum Glaubenstest in einer Versuchsanordnung platziert und mit scheinbar distanziertem Interesse auf das Ergebnis der Ausgangsfrage wartet: Welcher Grad an Opferbereitschaft wird wohl diesmal erreicht? Die Lieddichtung geht auf die alttestamentliche Lesung dieses Sonntags zurück (Gen 22,1-18). Anders als bei Lutz Nagel ruft hier Gott kurz vor Beendigung des Experiments „Stopp!“ Interessanterweise ist dieses Lied im gleichen Jahr entstanden, in dem auch über das sogenannte „Milgram-Experiment“ berichtet wurde. Zwei Jahre zuvor hatte der amerikanische Psychologe Stanley Milgram erforscht, wie viel Schmerz Menschen bereit sind, anderen zuzufügen, wenn es eine Autorität von ihnen verlangt. Mehr als die Hälfte der Probanden war bereit, mit schließlich tödlichen Stromstößen wehrlose Menschen zu foltern[ii]. Milgram wollte eine Antwort auf die Mechanismen des Kadavergehorsams und des sogenannten „Befehlsnotstands“ des NS-Regimes und anderer totalitärer Diktaturen finden. In diesen Systemen gab es nur die Stimme des Gewissens, die der Bereitschaft, andere schlimmstenfalls um des eigenen Überlebens willen zu opfern, Einhalt gebieten hätten können.

 

Opferbereitschaft!

 Wie steht es heute um diese Art von Opferbereitschaft, das heißt um „Menschenopfer“ im Alltag? Ein Beispiel: Vor kurzem fand am 22. Februar der diesjährige internationale „Behaupte-dich-gegen-Mobbing-Tag“ statt. Er nimmt die grassierende Bereitschaft in den Blick, andere um des eigenen Machterhalts willen zu opfern. Zur Erinnerung: Mobbing bedeutet ein Machtgefälle zwischen der mobbenden und der betroffenen Person. Die unterlegene Person wird mehrmals in der Woche und über einen längeren Zeitraum psychisch und/oder physisch von einzelnen Gruppenmitgliedern bzw. Einzelnen ohne Gruppenzugehörigkeit angegriffen. Diese Angriffe sind oft vorausgeplant. Die betroffene Person kann die Situation nicht allein auflösen und liegt am Ende genauso wehrlos als gefesseltes Opfer da wie Isaak. Eine umfassende Studie, die das Bündnis gegen Cybermobbing 2021 unter 2000 Befragten zwischen 18 und 65 Jahren durchgeführt hat, belegt, dass 60% der Befragten innerhalb eines Jahres mindestens einmal in Mobbing- oder Cybermobbingsituationen involviert waren, sei es als Betroffene, Täter oder „nur“ Beobachter, Unterstützer. Ein Drittel der Befragten ist schon einmal Opfer von Mobbing-Attacken gewesen[iii]. Auch unter Kindern ist das Phänomen weit verbreitet: fast jeder fünfte Schüler, fast jede fünfte Schülerin war 2023 in einem Zeitraum von drei Monaten schon einmal Ziel von analogen und/oder digitalen Mobbingattacken[iv]. Alle finden die neue Mitschülerin blöd. Wer nicht mitmacht, fürchtet, selber zum Opfer des Spotts zu werden. Also lästern sie mit. Die anderen werden ausgegrenzt, geopfert, damit die Mobbenden groß rauskommen.
 

Stopp!

Die schockierenden Zahlen belegen meiner Meinung nach, wie schnell sich Menschen meistens unter Druck von Entwicklungen und Konstellationen vereinnahmen lassen, die auf das Opfern von Menschen hinauslaufen. Die gute Nachricht besteht darin, dass es sowohl im Milgram-Experiment als auch in den diversen Mobbing-Studien zahlreiche Menschen gibt, die nein sagen. Menschen, die sich nicht anstecken lassen, die keinen „Gehorsam“ zeigen. Christinnen und Christen müssen in einer Zeit wachsender Zustimmung für rechtsextreme und rechtspopuläre Autoritätskonzepte durch das eigene Beispiel an vorderster Front mit dazu beitragen, dass möglichst viele den Mut zum alles entscheidenden „Nein!“ aufbringen. Denn Gott kann nicht immer in letzter Sekunde vom Himmel her „Stopp“ rufen. Das Gewissen hingegen (hoffentlich!) schon.

 

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands
 

 

[i] Zitiert aus „Troubadour für Gott. Neue Geistliche Lieder, Würzburg 1999“.

[ii] Zum Hintergrund: www.swr.de/wissen/1000-antworten/was-war-das-milgram-experiment-100.html

[iii]www.buendnis-gegen-cybermobbing.de/wp-content/uploads/2022/03/Mobbingstudie_Erwachsene_end_2021_fin.pdf

[iv]de.statista.com/statistik/daten/studie/1418840/umfrage/mobbing-haeufigkeit-in-der-schule-und-im-internet-in-deutschland/

-schule-und-im-internet-in-deutschland/