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Wir haben einander viel zu verzeihen – Nachklang zu 33 Jahren Deutsche Einheit

Im kollektiven Gedächtnis klingt dieser Satz etwas anders und zielte ursprünglich auf eine hoffentlich bald bessere Zukunft ab. „Wir werden einander viel verzeihen müssen“, prophezeite der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mitten in der Corona-Zeit im Herbst 2020. Drei Jahre später, in den ersten Monaten nach der Pandemie ist kaum noch davon die Rede. Lockdown und die Hierarchisierung der Gesellschaft nach Impfgruppen samt den damit einhergehenden Konflikten scheinen dem allgemeinen Vergessen überantwortet zu sein. Andere Großkrisen brauchen jetzt unsere Aufmerksamkeit und unsere Emotionen. Schade! Eine funktionierende Demokratie lebt nun einmal davon, dass Fehler eingestanden, aufgearbeitet und schlussendlich auch verziehen werden.

 

Nicht-Zuhören als Schuld

Wir haben einander viel zu verzeihen. Im Kontext der deutschen Wiedervereinigung fällt dieser Satz leider kaum. Für mich als Zeitzeugen aber ist die gegenseitige Vergebung eine der zentralen Schlussfolgerungen, die sich zwingend aus 33 Jahren deutsch-deutschem Zusammenwachsen ergeben muss. Sprachlos nehme ich die ungezählten im Raum stehenden Anklagen wahr, die Anlass zu einer schier endlosen Verlängerung von Projektionen, Vorwürfen und Gegenanklagen sind. Sie werden nie aufhören, solange der „Westen“ dem „Osten“ nicht genügend Gehör schenkt. Die ARD-Journalistin Jessy Wellmer gibt daher in ihrer Reportage unter dem Titel „Hört uns zu!“ ostdeutschen Stimmen Raum, die in einem zornigen Ton den Westen, seinen Umgang mit dem Osten und eigene Diskriminierungserfahrungen anprangern. Hier kommt vieles zur Sprache, was in der deutsch-deutschen Realität verdrängt, ja teilweise sogar tabuisiert wurde und wird: längere Arbeitszeiten, geringere Gehälter, die westliche Dominanz in Führungsetagen und die ungezählten Traumata in und nach der „Wendezeit“. „Besserwisser“ und „Besserwessi“ klingen nicht nur gleich, sie sind es auch angesichts eines jahrzehntelangen „Nachhilfeunterrichts“ aus dem Westen in allen lebensrelevanten Fragen und weit darüber hinaus.

 

Der „Ost-Stempel“

Mich wundert es daher nicht, dass die geharnischte Streitschrift des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann, „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“ seit Monaten auf der Spiegel-Bestseller-Liste steht. Oschmann wirft dem „Westen“ nichts Geringeres vor, als die Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR seit jeher den abwertenden Stempel „Ost“ verpasst zu haben. Seit der Wiedervereinigung sei es nicht um den „konkreten historischen, geografischen Osten mit den Millionen verschiedenen Menschen und verschiedenen Lebensentwürfen“ gegangen. Stets habe „der Westen den Osten als monolithischen diskursiven Block zugerichtet, … von dem er schon immer meint zu wissen, was da vor sich geht“, resümiert Oschmann.

 

Verzeihen anstatt „Rechthaben“

Schriften wie diese ziehen ihre ungeheure Popularität daraus, dass sie die tiefe Ohnmachtserfahrung vieler Menschen ins Wort bringen und ihnen das Gefühl geben, mit ihrer seit Langem aufgestauten Wut absolut im Recht zu sein. Fehler und Schlimmeres haben sowieso nur die anderen begangen. Eine Geschichte des Verzeihens beginnt erst dort, wo eigenes Versagen in den Blick kommt. Letztendlich stellt Verzeihen das Gegenteil von Rechthaben dar. Wenn ich jemand um Verzeihung bitte, dann darf und muss er bzw. sie wissen, dass meine Entscheidung oder mein Verhalten falsch gewesen ist. Gleiches gilt auch für mein Gegenüber. Schuld ist aber nicht gleich Schuld. In der gegenwärtigen Atmosphäre hochgiftiger Anschuldigungen muss daran erinnert werden, dass die politischen Akteure von 1989/90 nicht in die Zukunft blicken konnten und ihre Entscheidungen auf der Basis von sehr begrenztem Wissen treffen mussten. Im Nachhinein ist man/frau natürlich immer schlauer. Die Erkenntnis besserer Alternativen aus der Retroperspektive gehört daher zum Schuldeingeständnis und zum Verzeihen. Die größere Schuld aber besteht nicht selten darin, überhaupt keine Entscheidung getroffen zu haben.

 

Meine Mitschuld

Wir müssen einander viel verzeihen! Mit meinem Impuls will ich nichts schönreden oder relativieren. Ganz im Gegenteil! Ich möchte dazu beitragen, dass es immer mehr Menschen möglich wird, ihre Fehler, Versäumnisse und Versagen im Kontext der Wiedervereinigungsgeschichte einzuräumen und so endlich den Blick nach vorne freizubekommen. Ein Vorbild ist für mich der Stuttgarter Philosoph und Publizist Matthias Gronemeyer, der kurz nach der „Wende“ versuchte, seinen verrosteten Polo zwei Jugendlichen aus „dem Osten“ für einen Wucherpreis anzudrehen. Heute sieht er dies kritisch: „Nicht eine Minute indes hatte ich darüber nachgedacht, mein Abzockversuch könne irgendwie unrecht, wenigstens aber unanständig sein. Was sollte auch daran falsch sein, schlau, gewieft und gewitzt zu sein?“ Gronemeyer erkennt an, durch sein damaliges Verhalten das Narrativ von der Abzockgeschichte des „Ostens“ mit befeuert zu haben. Daher gilt nicht nur für ihn: „Wir sind Antworten schuldig. [34] Jahre nach dem Mauerfall wird es daher Zeit zu sagen: Auch ich! … Und so sollte sich jeder fragen, ob nicht auch er Anlass hat zu sagen: Auch ich.“

Schon allein deshalb werden wir einander noch sehr viel verzeihen müssen!

 

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlan