Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
ich möchte mich zunächst kurz vorstellen. Ich bin Andreas Luttmer-Bensmann, seit 2015 Bundesvorsitzender der KAB Deutschlands. Ich freue mich sehr darüber, bei diesem Gedenktag meine Gedanken und Empfindungen einbringen zu dürfen. Vielen Dank für die Einladung an die KAB Berlin.
In meiner Schulzeit, bei mir nun schon eine Weile her, habe ich mich des Öfteren gefragt, was Geschichtsunterricht eigentlich soll? Faszinierende Informationen über Pyramiden oder Königreiche der Vergangenheit, der Blick auf Krieg und Frieden, eine Menge geschichtlicher Zahlen. Das war zwar manchmal spannend, aber warum das Ganze? Das galt in vieler Hinsicht auch für den Religionsunterricht mit den Erzählungen aus der Bibel. Heute sehe ich, dass aus den Erfahrungen der Geschichte wichtige Impulse für die Gegenwart gezogen werden können. Das heutige Gedenken an die Ermordung von Nikolaus Groß ist für mich ein solcher Kristallisationspunkt für die Zusammenführung von Geschichte und Gegenwart. Darum ein Blick auf heute und zurück.
Wenn man den Medien folgt, leben wir derzeit in einem Land des Niedergangs. Der schreckliche Mordanschlag in Aschaffenburg, der Gewaltakt auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg, die vielen Gewalttaten der vergangenen Monate lassen uns keine Ruhe. Schreckliche Kriegshandlungen in der Ukraine, im Nahen Osten und an weiteren Orten dieser Welt, stellen die Sicherheitsgefühle in Frage. Unsicherheit und Ängste prägen die öffentliche Wahrnehmung. Aber, was hat diese Lage mit dem heutigen Gedenken an Nikolaus Groß zu tun?
Als erstes ein kleiner Blick auf die Wirtschaft. Wirtschaftlicher Niedergang und Deindustrialisierung sind hier die großen Stichworte. Und daran stimmt, dass wichtige Zweige der deutschen Wirtschaft massiv unter Druck stehen. Bankenkrise 2008, Coronapandemie und der Krieg in der Ukraine haben ihre Wirkungen hinterlassen. Zudem setzen die Transformationsherausforderungen durch Klimawandel und Ressourcenknappheit alle Produktionszweige unter Druck. Besonders die Maschinenbau- und Autoindustrie sind betroffen. Ob die Marke „Weltmarktführung“ von deutschen Unternehmen gehalten werden kann, ist sicher fraglich. Eine Abschaffung der gesamten Industrie ist aber sicher nicht relevant. Es gilt nun neue Verfahren in der Produktion zu entwickeln, die weniger Ressourcen benötigen und das Klima nicht schädigen. Verbunden damit sind auch neue Produkte und Dienstleistungen, die in der Zukunft standhalten können. Ein „Weiter wie bisher“ ist wenig Zukunftsweisend. Das bringt aber starke Veränderungen mit sich. Wandel ist notwendig.
Solche Strukturwandel waren in der Vergangenheit und sind auch heute mit Einbrüchen verbunden. Mitarbeiter:innen werden ausgesondert. Angst macht daher die steigende Zahl der Arbeitslosen. Das Gespenst der Massenarbeitslosigkeit steigt wieder auf und verunsichert viele. Die Angst vor dem Verlust des derzeitigen und zukünftigen Wohlstands und die Furcht vor Überforderung sind gegenwärtig. Die Suche nach den schnellen, einfachen Lösungen und den starken Führungspersonen, die es richten, kommt mehr und mehr in den Blick.
Welch eine Vergleichbarkeit mit der Situation in der Zeit vor 1933. Die Wirtschaft liegt, aus anderen Gründen als heute, am Boden. Arbeitslosigkeit und massive Vermögensverluste prägten die Realität und die Angst der Menschen. Nikolaus Groß schreibt deshalb im Februar 1930: „Millionen Menschen sind mit einer noch größeren Zahl Familienangehöriger durch die Arbeitslosigkeit aus der Bahn geworfen worden. Wirtschaftlich in ihrer Existenz aufs höchste gefährdet, nur für eine befristete Unterstützungsdauer noch halbwegs gesichert, leiden viele Menschen unter einer starken seelischen Depression. Die hohe Arbeitslosigkeit birgt einen starken Grad an sozialer und seelischer Spannung.“ (Westdeutsche Arbeiterzeitung, 1. Februar 1930)
Aber der vergleichende Blick soll noch ein wenig weitergehen, diesmal auf die politische Lage gerichtet. In Deutschland konnte die Ampelkoalition ihre internen Unterschiedlichkeiten nicht ausgleichen und löste sich auf. Eine Regierungszeit liegt zurück, die trotz vieler Umsetzungen geplanter Projekte im Koalitionsvertrag, als zerstritten und handlungsunfähig in die Geschichte eingeht. Gleichzeitig, oder gerade damit verbunden, haben die populistischen Kräfte zugenommen. Das Versprechen der schnellen Lösung gilt halt mehr, als das Beschreiten der beschwerlichen Wege, die Zeit und Energie kosten und etwas abverlangen.
Nicht nebenbei, sondern bei vielen vermeintlichen Lösungen immer auch im Kern, sind damit nationalistische und rassistische Positionen verbunden. Das leichteste Rezept ist halt der „Sündenbock“. Derzeit stehen die Bürgergeldempfänger:innen und die Migrant:innen im Fokus. Sie kosten Milliarden, bringen anscheinend keine Wertschöpfung, sondern nur Gewalt und belegen auch noch benötigten Wohnraum. Eine abwertende Sprache über Menschen, die Verallgemeinerung von Taten, die einfache Lüge und der Schlagabtausch ohne Argumente haben in diesem Umfeld schon Einzug gehalten. Es zeichnet sich ein Wahlkampf ab, der mit Personen und Schlagworten geführt wird. Die Auseinandersetzung mit Inhalten und das Ringen um den geeigneten Weg in die Zukunft ist kaum erkennbar.
In Deutschland sind wir mit dieser Entwicklung aber nicht allein. Die Amtseinführung des neuen Präsidenten in den USA hat gezeigt, dass messianische Erwartungen an den „Heilsbringer“ gestellt werden. Mit Donald Trump agiert ein Mann, der genau diese Erwartungen erfüllt. Der „Macher“ kommt und organisiert Politik mit Dekreten und an der parlamentarischen Diskussion vorbei. Und damit ist er nicht allein. Auch in einigen europäischen Ländern gab und gibt es ähnliche Tendenzen.
Welch ein Vergleich zur Situation 1932. Die Regierung Brünig kommt nach zähem Ringen ins Amt und reagiert auf die desolate Situation in Deutschland mit Notverordnungen und politischen Konzepten, die die wirtschaftliche und soziale Lage noch verschärften. Massive Reparationsforderungen und die eingeleitete Deflations- und Sparpolitik führten zu einer Arbeitslosenquote von 30 %. In allen Familien gab es Betroffene und die Abstiegsangst war allgegenwärtig. In der Folge wurden die nationalistischen Kräfte immer stärker. Den Rufen nach der starken Hand, nach einfachen Rezepten, nach klaren Feindbildern war der Weg bereitet. Nikolaus Groß schrieb dazu 1932: „Ihnen geht es nicht um den Erfolg (Anmerkung: Reparationsverhandlungen in Lausanne 1932), ihnen geht es darum, die Erwartungen im Volk so stark zu übertreiben, dass sie unerfüllbar sind. So haben sie dann Gelegenheit, den ihren Forderungen nicht entsprechenden Erfolg der Regierung als Misserfolg herabzusetzen und die Regierung verdammen zu können. Sie nähren im Volk den Hang zur Illusion, weil sie sich daraus Parteiprofit versprechen.“ (Westdeutsche Arbeiterzeitung, 23. Januar 1932)
Aber auch noch einen, vielleicht nicht ganz so düsteren Blick. In der katholischen Kirche prägen Missbrauch und die Unfähigkeit damit umzugehen, das derzeitige Bild. Ein massiver Vertrauensverlust ist nicht zu übersehen und massenhaft kehren Christ:innen der Kirche den Rücken. Zu den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sind vor allem Stimmen von Verbänden und Einrichtungen wahrzunehmen, von Seiten der Bischöfe kommt da wenig. Einzig zu den stärker werdenden, radikalen Kräften aus dem nationalistischen Lager haben sich die christlichen Kirchen deutlich zu Wort gemeldet. Mit der Erklärung: „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“ haben die deutschen Bischöfe klare Linien aufgezeigt. Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus, der Menschen ausgrenzt, ist mit christlichen Werten nicht vereinbar. Auch haben Kirchen und kirchliche Organisationen immer wieder zum Widerstand und zu Demonstrationen aufgerufen und ihren Wertvorstellungen eine Stimme gegeben. Es bleibt hier die Hoffnung, dass der Mut und die Beharrlichkeit dazu bestehen bleibt.
Welch ein Vergleich zur Zeit des Dritten Reiches. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten war gerade auch bei Christ:innen mit der Hoffnung auf Stabilität, Sicherheit und Ordnung verbunden. In neuen Forschungen wird deutlich, dass ihr grundsätzliches Vertrauen in die kirchlichen Führer gleichermaßen auch für die politische Obrigkeit galt. Große Erwartungen wurden bei den Katholik:innen mit dem starken Reichskanzler Hitler verbunden. Die Katholiken waren Hierarchien, Autoritäten und Gehorsam gewohnt. Die Demokratie wurde offen abgelehnt und beschimpften als „Pest des Laizismus“. Mit dem Konkordat wurde sogar der öffentliche Frieden mit den neuen Machthabern geschlossen, die von Anfang an keinen Hehl aus ihrem autokratischen Vorgehen machten.
Aus Geschichte lernen, das war der Ausgangspunkt meines kurzen Blicks in Gegenwart und Vergangenheit. Die Realität in Deutschland entspricht sicher nicht der Lage vor 1933. Auch die internationalen Bedingungen sind sicher nicht vergleichbar. Trotz Unsicherheit und Ängsten sagen zurzeit noch 89 % der Bürger:innen, dass sie mit ihrem persönlichen Leben „sehr zufrieden“ oder „ziemlich zufrieden“ sind. Die existenzielle Angst prägt noch nicht das Bild, die seelischen Nöte der Menschen, wie Groß sie aufgegriffen hat, bestimmen noch nicht die Realität.
Und dennoch sollte uns die Erfahrung aus unserer Geschichte mahnen und hellhörig machen. Verunsicherung und existenzielle Ängste sind keine gute Grundlage für ein demokratisches Gemeinwesen. Mit dem äußeren Druck sind auch immer seelische Nöte verbunden, wie Nikolaus Groß es ausgedrückt hat. Da ist die Versuchung, sich auf die einfachen Lösungen zu stürzen, groß. Die Stimmung der vergangenen Jahre hat den populistischen und radikalen Ideen jedenfalls schon die Tür geöffnet. Die Sprache ist roh und rau geworden, nicht zuletzt auch in den Parlamenten. Verbale und körperliche Attacken auf politisch Engagierte oder grundsätzlich auf das „staatliche System“ haben zugenommen. Konzepte wie „Remigration“ werden halböffentlich diskutiert oder auf Parteitagen präsentiert.
Nikolaus Groß hat in den Jahren vor 1933 als Seismograf die gegenwärtige Situation in seinen Artikeln aufgegriffen, analysiert und eingeordnet. Die Grundmethode der KAB „SEHEN – URTEILEN – HANDELN“ kommt dabei immer wieder zum Ausdruck. Aus christlichen Wertvorstellungen heraus beschäftigte er sich mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und ging dabei vor allem auf politisches Handeln ein, das nicht mit der Soziallehre der Kirche vereinbar war. Er war in dieser Zeit ein kritischer Mahner, der seine Möglichkeiten als Zeitungsverantwortlicher redlich genutzt hat. Überzeugt von einem Christsein, das für ein besseres Leben für alle einzutreten hat. Überzeugt von einem Christsein, das die Wirklichkeit sehen und realistische Perspektiven für die Zukunftsgestaltung in den Blick nehmen muss. Ihm wird das Wort zugeschrieben: „Es ist dunkel die Nacht, es ist dunkel der Tag, entzündet die Feuer! Bleibt auf der Wacht!“
Für alle, die in entsprechenden Positionen wie Nikolaus Groß eine öffentliche Reichweite für die kritische Begleitung der Wirklichkeit haben, sollte sein Wirken ein Vorbild sein. Sie sind gefordert, mit klarem Blick und gesichertem Wertehorizont zu analysieren und zu mahnen. Die Würde jedes einzelnen Menschen und die Sicherstellung der Menschenrechte, die ihre Wurzeln im christlichen Menschenbild haben, müssen dabei der Orientierungsrahmen sein.
Die gesamte Gesellschaft und nicht zuletzt die Kirchen sind gefordert. Sie haben sich im Dritten Reich nicht deutlich und klar mit menschlichen Werten zu Wort gemeldet und so müssen wir in Deutschland die Verantwortung für Massenmord an Juden, Sinti, Roma, weiteren ethnischen Gruppen, politisch Andersdenkenden und letztlich eines verbrecherischen Krieges übernehmen. Die Mahner wie Nikolaus Groß mussten ihr Engagement sogar mit einem grausamen und ungerechten Tod hier in diesem Raum bezahlen.
Gerade in unsicheren Zeiten sind wir alle gefordert. Einzelne Mahner:innen sind zu wenig, um ein menschliches Gemeinwesen zu sichern. Hier möchte ich an die Worte des evangelischen Pastors Niemöller erinnern. Er sagte: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, denn ich war kein Kommunist. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude. Als die Nazis mich holten, war niemand mehr da, um zu protestieren.“
Ermüdungserscheinungen im Widerstand sind schon erkennbar. Noch vor einem Jahr haben große Demonstrationen gegen Rassismus und Gewalt stattgefunden. Ein neues Engagement wurde gerade am gestrigen Tag mit Zeichen an vielen Orten wieder erkennbar. Es sollte uns nicht so gehen wie in den USA. Haben sich zur ersten Amtseinführung von Donald Trump noch viele auf den Weg gemacht, so waren es vor ein paar Tagen nur noch wenige, die gegen rassistische und menschenverachtende Politik aufgestanden sind. Angesichts der Übermacht haben viele bereits aufgegeben. Nur Mariann Edgar Budde, Bischöfin von Washington, hat öffentlich die Stimme erhoben.
Also, schweigen wir nicht, wenn Menschen „abtransportiert“ und „abgestempelt“ werden sollen. Schweigen wir nicht, wenn der politisch notwendige Streit in Frage gestellt wird. Schweigen wir nicht, wenn Populismus und radikale Unmenschlichkeit die Debatte bestimmen. Schweigen wir nicht, wenn Gewalt zur Lösung gemacht wird.
„Bleibt auf der Wacht!“, muss der Impuls von diesem Ort an diesem Tag sein.