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Wort in Bewegung - Archiv

Hoffnungsfarbe Schwarz

Unzerstörbare Hoffnung – Gedanken zum Weihnachtsfest 2022

„Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht. Über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf“ (Jes 9,1). Halt! Diesen ersten Satz der biblischen Botschaft in der Heiligen Nacht muss ich noch einmal laut lesen. Liebe Schwestern und Brüder, können Sie diese Worte hören, ohne an die Millionen von Menschen in der Ukraine zu denken, die nach der großflächigen Zerstörung des Stromnetzes durch russische Raketen jetzt im Dunkeln und in der Kälte sitzen? Ich kann es jedenfalls nicht. Noch nie zuvor war in meinem nun bald sechzigjährigen Leben die brutale Realität von Kriegsgräueln so nahe und fast greifbar.

„Im Land der Finsternis strahlt ein helles Licht auf“. Diese Verheißung hat vor 2700 Jahren der Prophet Jesaja aufgeschrieben, als sein Heimatland Israel kurz vor der Vernichtung durch die benachbarte Großmacht Assyrien stand. Im ganzen Land und Jerusalem gingen damals alle Lichter aus. Es ist einfach unbegreiflich, woher Jesaja den Mut und das Vertrauen nimmt, so etwas anzukündigen. Die von einer todbringenden Belagerung bedrohten Menschen damals werden das mit der gleichen Ungläubigkeit zur Kenntnis genommen haben, wie Christinnen und Christen in der Ukraine, denen diese Botschaft genauso wie uns an Weihnachten vorgelesen wird. Jesaja behauptet nichts weniger, als dass das Leben siegen wird. Das Leben und nicht der Tod, auf den die Aggressoren mit Krieg und gezielter Vernichtung setzen.

Und dann setzt er noch eins drauf, indem er die Vision einer endgültigen Abrüstung entwickelt: Der Stab und das unterdrückende Joch werden zerbrochen, der dröhnende Soldatenstiefel wird ein Fraß des Feuers (Jes 9,3f.). Der hier beschriebene Frieden beruht also nicht auf der abschreckenden Wirkung von Waffen und Kriegsmaterial. Selten war diese wunderbare Vision weiter von der Wirklich entfernt als am Ende dieses von zahlreichen anderen Katastrophen zusätzlich geprägten Jahres 2022. Bombeneinschläge und das Muskelspiel der großen und kleinen Putins mit ihren tödlichen Waffen im Hintergrund bestimmen die Realität und damit unser Bewusstsein. Im übertragenen Sinn sind auch bei den ungezählten Menschen, die jahrzehntelang auf ein friedliches Miteinander der Völker gebaut haben, die Lichter ausgegangen. Auch ich gehören zu den Millionen in der westlichen Welt, für die der Frieden genauso banal und selbstverständlich war wie die Atemluft.

Helles Licht in der Finsternis: ob das stimmt oder es sich nur um einen verzweifelten Wunschtraum handelt, ist lebenswichtig. Ich selber finde Halt darin, dass die Verheißung des Jesaja Teil der Bibel ist und zusammen mit vielen anderen Stellen ein Buch formt, das über Jahrtausende hinweg von einer nachgerade unerbittlichen Hoffnung erzählt. Gott selbst steht in diesem Buch von der ersten Seite an auf Seiten der Opfer von Gewalt und gegen die Täter des Krieges. Gott selbst stellt dort die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, nach der Würde jedes einzelnen Menschen. Und Gott selbst macht sich dort zum Anwalt jedes einzelnen Menschen, der namenlos unter den vielen Toten von Gewalt und Krieg verbleibt: Anwalt der Opfer der unglaublichen Kriegsverbrechen in der Ukraine; Anwalt derer, die in ihren kalten Wohnungen zugrunde gehen; Anwalt derer, die ihrem Leben in tiefer Verzweiflung ein Ende setzen. Niemand, auch nicht der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche oder wie in vergangenen Jahrhunderten Päpste, katholische und evangelische Bischöfe, niemand kann deshalb in seinem Namen Krieg und Unmenschlichkeit rechtfertigen.

Vor diesem Hintergrund entwickelt der Prophet eine Vision von berückender Schönheit. Diese umspannt die ganze Weltpolitik mit all ihren brüchigen Friedensschlüssen genauso wie die tiefgehende Aussöhnung von zwei Menschen miteinander.(1) Der Prophetentext strahlt eine geradezu sperrige und unkaputtbare Hoffnung aus. Nichts und niemand kann diese Hoffnung mehr verkörpern als ein Kind. Das verletzbare Kind ist zu allen Zeiten die robusteste Form der Hoffnung. Deshalb sagt Jesaja: „die Herrschaft liegt auf seinen Schultern“. Alle Hoffnung geht vom Kind aus. Im Grunde müssten die Sätze des Jesaja zu Beginn von jeder Nachrichtensendung vorgelesen oder als Bilduntertitel bei Tagesschau und Co eingeblendet werden. Mir würde es helfen, angesichts des dort Vermeldeten nicht ganz in Resignation zu versinken. Und es würde mich an die Sehnsucht Gottes erinnern, die er in der menschlichen Geburt seines Sohnes verwirklichen will.  Aus der Krippe heraus fleht uns Gott in diesem Kind geradezu darum an, dass wir ihm helfen, seinen Frieden zu verwirklichen.

We refuse to be enemies – Wir weigern uns, Feinde zu sein. So steht es auf einem Felsen in der Nähe von Bethlehem. Das Kind, von dem die Botschaft des Propheten spricht, lässt sich nicht mehr aus unserer Welt herauskatapultieren – hoffentlich auch nicht aus den Herzen derer, die unter dem Krieg gegen die Ukraine leiden. Das Licht, das über den Menschen aufleuchtet, die im Finstern sitzen, erlischt nicht solange es in ungezählten Menschen weiterglimmt. Und sie strahlen diese unerbittliche und unendlich strapazierbare Hoffnung aus, dass der Frieden das letzte Wort haben wird.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Vgl. Huub Oosterhuis, Im Anfang war die Hoffnung. Worte von Widerstand und Zuversicht, Stuttgart 2016, 30.

Dieser Nachklang ist auch als Podcast erschienen

„Die fetten Jahre sind vorbei“ – Nachklang zum 3. Adventssonntag 2022

Im Stil einer Spaß-Guerilla mit dem Namen „Die Erziehungsberechtigten“ brechen die beiden 20-Jährigen Jan und Peter nachts in Villen ein und richten dort ein „kreatives Chaos“ an: sie räumen Gegenstände um, verstauen Pretiosen in der Kloschüssel und verschieben Möbel, stehlen aber nichts. Ihr Ziel ist die Verunsicherung der Superreichen. Auf Zimmerwände sprühen sie abschließend mit prophetischem Anspruch ihre Botschaft „Die fetten Jahre sind vorbei“. Zusammen mit ihrer Partnerin Jule träumen sie davon, die sozialen Verhältnisse insgesamt zu verrücken und nicht nur ein paar teure Möbelstücke. Am Ende des 2004 in Cannes präsentierten Filmes droht das Trio an der harten kapitalistischen Realität zu scheitern und es bedarf des quasi-göttlichen Eingriffs von Regisseur Hans Weingartner in das Drehbuch, um eine Art Happyend zu sichern.

Selbstzweifel am Ende

Bei dem ebenso tatbereiten wie wirkungslosen Idealismus von Jan, Peter und Jule muss ich unwillkürlich an den Lebensweg von Johannes dem Täufer denken. Auch dieser setzt sich in beißender Anklage mit den gesellschaftlichen und religiösen Systemauswüchsen seiner Zeit auseinander und - bewirkt so gut wie nichts. Seine letzten Lebenstage verbringt er im Staatsgefängnis des Herodes und wird von Selbstzweifeln gepeinigt. Dabei war es sein Lebensinhalt, als überzeugender „Rufer in der Wüste“ den Messias und damit den ultimativ „Größeren“ anzukündigen. Den, der endlich aufräumen und aller Gottlosigkeit ein Ende bereiten wird. Aber offensichtlich hat sich seitdem nichts verändert: „Bist du es, der kommen soll?“ So fragt Johannes mit Blick auf Jesus, der so gar nicht wie der von ihm angekündigte rächende Richter auftritt.

„Johanneszeiten“

Hat er sich für den Richtigen und für das Richtige engagiert? Was hat mein Einsatz gebracht? Eine Frage, die heutzutage viele umtreibt, die ihre Freizeit oder vielleicht sogar im Hauptberuf ihre Lebenszeit für ein soziales, ökologisches oder humanitäres Ziel einsetzen. Trotz einer in Krisenzeiten sehr starken Friedensbewegung bedroht in Europa ein Krieg die globale Sicherheit, trotz einer breiten grünen Protestbewegung treibt die Erde auf eine ökologische Katastrophe zu, trotz ungezählter sozialpolitisch und caritativ Engagierter ist die Schere zwischen Arm und Reich so weit geöffnet wie nie zuvor. Immer mehr Menschen packt angesichts wachsender Ohnmachtserfahrungen die Wut und diese sucht nicht nur in den sozialen Medien Gehör zu finden. Der Jesuit Martin Löwenstein spricht im Blick auf diese Stimmung von „Johannes-Zeiten“, Phasen, in denen sich der Zorn über Verlogenheit und Ungerechtigkeit Bahn bricht. Dieser wird noch wachsen, wenn die „fetten Jahre“ endgültig vorbei sind und unserer Gesellschaft die wahren Kosten für die gegenwärtige Vielfachkrise präsentiert werden. Dann wird sich die klaffende Ungleichheit zwischen arm und reich nicht mehr schönreden oder gar betäuben lassen. Ein Sozialverband wie die KAB würde ihren Namen nicht verdienen, wenn sie in dieser Situation ihre Füße stillhielte.

Neuanfang für alle

Nicht nur die KAB muss klar und scharf Kante zeigen: Jesus würdigt an Johannes ausdrücklich, dass er mit prophetischer Konsequenz und Wut die Verlogenheit und Inkonsequenz seiner Zeitgenossen beim Namen genannt hat. Aber den tiefen Zweifeln des Täufers begegnet er nicht mit der tröstenden Erinnerung auf dessen anfängliche Erfolge, sondern mit einem Hinweis völlig außerhalb von dessen Wahrnehmungsmuster. Gleiches gilt für uns. Es geht nicht darum, dass für die einen die „fetten Jahre vorbei“ sind und nach gewalttätiger Umschichtung nun für andere goldene Zeiten anbrechen. Würden die Reichen arm und Armen reich, bliebe trotz eines ersten Eindrucks von vorläufiger Gerechtigkeit alles beim Alten. Jesus aber steht mit seiner Botschaft und den von ihm vollbrachten Zeichen für einen völlig anderen Weg: für den Weg Gottes. Er will einen Neuanfang für alle, also auch für die Reichen. Dieser Neuanfang kommt aber nicht auf dem Weg einer Zwangsbeglückung, sondern gründet in der Liebe Gottes zu allen Menschen. Daher kann Jesus seinen Weg nur anbieten und muss ohnmächtig mit dessen Ablehnung rechnen und leben. Doch nur durch Liebe können sich Einstellungen und Herzen ändern. Daher gilt es um so entschiedener gegen die sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten unserer Gegenwart mit Wort und Tat anzugehen. Dies aber mit dem Langmut und der Ausdauer hartnäckiger Liebe, die sich aus der an Weihnachten gefeierten Unermüdlichkeit von Gottes Werben um uns Menschen ihre Kraft holt. Das ist seine Botschaft: „macht stark die schlaffen Hände, festigt die wankenden Knie“ (Jes 35,3), denn die schlimmen Jahre sind vorbei.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Von Baumstümpfen und „zarten Wurzeln“ - Nachklang zum Zweiten Adventssonntag 2022

Ein und dasselbe Wort kann so unterschiedlich klingen! Wir hören „Baumstumpf“ in der ersten Lesung dieses Zweiten Adventssonntags und danach ist vom „jungen Trieb aus seinen Wurzeln“ die Rede. Der Text ist noch nicht zu Ende und schon tönt in vielen Ohren leise das Lied vom „Ros“, das aus einer „Wurzel zart“ entsprungen ist. Endlich kommt so etwas wie weihnachtliche Vorfreude auf. „Baumstumpf“ hören auch die Katholikinnen und Katholiken in der Ukraine, assoziieren aber damit ganz andere Bilder, nämlich die der sich ausbreitenden Zerstörung in ihrem Land. Tatsächlich knüpft die Lesung an das Szenarium der bewussten Vernichtung aus dem vorhergehenden Kapitel an: Dort wird der Großmacht Assyrien von Gott in Bildern der Naturzerstörung das Gericht angesagt. Die Assyrer erleiden den gleichen Terror, den sie in ihren Eroberungskriegen angewandt haben. Gott selbst „haut Zweige ab mit Schreckensgewalt. Die Hochgewachsenen werden gefällt / und die Emporragenden sinken nieder. Er rodet das Dickicht des Waldes mit dem Eisen / und der Libanon fällt durch einen Mächtigen.“ (Jes 10,33f.) Rodungen und Baumfällungen waren und sind ein Mittel der Kriegsführung. eine psychologisch-propagandistische Kriegsmaßnahme, die eindrücklich vorführen soll, wer Herr über Leben und Tod ist. Bäume als Lebensgrundlage waren das, was heute die kritische Infrastruktur ist.

Alles ist möglich

Ich höre Baumstumpf und weiß nicht, was ich angesichts zerstörter Elektrizitätsleitungen, tagelanger Stromausfälle und vor allem mit Blick auf den vom Angreifer bewusst in Kauf genommenen Kältetod von vulnerablen Bevölkerungsgruppen in meinem Land empfinden würde. Mein erster und zweiter Gedanke wäre, möge es dem Angreifer mindestens genauso schlecht ergehen wie dem Volk, über das er hergefallen ist. Voller Wut frage ich nach: Wann wird das endlich wahr, dass Gott die Gewalttätigen im Land mit Stock seines Mundes schlägt und „den Frevler mit dem Hauch seiner Lippen tötet“? (Jes 11,4). Daher verstehe ich den Bischof von Odessa, Stanislaw Schyrokoradjuk OFM gut, wenn er einräumt, dass es angesichts des Krieges gerade schwierig ist, über die Friedensvisionen des Jesaja zu sprechen. Theoretisch klingen sie gut.“ Aber er fügt hinzu: die Hoffnungsbotschaft des Propheten bedeutet: „Bitte habt Geduld! Alles ist möglich.“ Erst durch Menschen wie diesen ukrainischen Bischof wird das trostlose Bild vom Baumstumpf zum Hoffnungssymbol.[i]

Das Ende ewiger Naturgesetze

Das trifft umso mehr für die Vision vom sogenannten Tierfrieden zu: „Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein.“ (Jes 11,6). Dieser Textabschnitt bringt etwas ins Wort, das geradezu undenkbar ist: das scheinbar
ewige „Naturgesetz“ von Fressen-und-Gefressen-Werden wird einmal überwunden sein. Der Prophet fordert damit nichts Geringeres, als jenseits der Kategorien von Fressfeind und Beute, Grausamkeit und Gier zu denken. Sätze wie „wer leben will, muss kämpfen“ lehnt er zumindest in ihrer vermeintlichen Letztgültigkeit ab. „Alles ist möglich“, sagt sein Text, auch dass Kinder in einer grundsätzlich friedlichen Welt ungefährdet aufwachsen und die Bilder des Zerfleischens in Vergessenheit geraten. Der Amerikanische Theologe Walter Brueggemann bringt es auf den Punkt: Hier „wird ein Bild entworfen, zu dem gehört, dass der Wettbewerb des Verschlingens und das alte Gesetz der Großen, die die Kleinen fressen, keine Zukunft hat. [...] Die gerecht regierte Welt wird wirklich ‚entgiftet‘ sein. Sie wird die Armen, Mickrigen, die Kinder, das Lamm, das Neugeborene nicht mehr bedrohen. Die neue Welt wird ein sicherer Ort für die Verletzlichen sein.“(1)

Gott bittet um Erhörung

Wann wird das sein? Klar ist, dass es um diese Welt noch schlechter als bisher bestellt sein wird, wenn adventliche Friedensvisionen ihre Kraft verlieren. Gegenwärtig dominiert der Blick auf den Baumstumpf. Es ist schwer auszuhalten, dass Gott trotz unserer vielen Bitten nicht im Stil der in unserem Land so populären „Wums-Entscheidungen“ den Zweig der Hoffnung zum Blühen bringt; nicht endlich „aus dem Baumstumpf Isais“ den Baum des Friedens und der Gerechtigkeit wachsen lässt. Vielleicht aber haben wir auch etwas missverstanden: kann es nicht sein, dass nicht nur wir ihn bitten, uns zu erhören? Ist es nicht vielmehr so, dass er uns bittet, ihn zu erhören und seinen Friedenswillen zu erlauschen?

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Walter Brueggemann, Isaiah 1-39, Louisville /London 1998. Zit. nach Bittgottesdienst für den Frieden (2019), 15.

Dieser Nachklang ist auch als Podcast erschienen

„Bitte nimm für deinen nächsten Text mal weniger schwarze Farbe“. So mahnt mich sinngemäß der für den Internetauftritt der KAB zuständige Redakteur. Dabei weiß er genauso gut wie ich, dass es sich bei Schwarz um keine wirkliche Farbe handelt. Aber da ist es schon zu spät. Längst bin ich in der düsteren Vision versunken, die das Matthäusevangelium zu Beginn der Adventszeit 2022 heraufbeschwört. Es erzählt von den umfassend katastrophalen „Begleiterscheinungen“ beim Erscheinen des Menschensohns und von der Eindeutigkeit der Zeichen, die auf sein Kommen hinweisen. Klar, nach den angekündigten Schreckensereignissen wird sich das endgültige Heil für Mensch und Welt zeigen. Aber ich kann dieses verfehlen, und ob ich und die mir nahen Menschen das Endzeitszenarium ohne Schaden und Verzweiflung überstehen werden, steht noch einmal auf einem anderen Blatt.

„Bitte weniger Schwarz“: wie denn, frage ich zurück, wenn die Menschheit weiterhin fast alle roten Ampeln in Richtung Abgrund überfährt? Wenn ihre mächtigsten Vertreterinnen und Vertreter sich im Rahmen aufwändiger Klimakonferenzen nicht einmal auf die Abschaffung den globalen Hitzetod bringender Energieträger verständigen können, wenn Großmächte in die Schemata brutaler Eroberungskriege zurückfallen oder der blühende Wohlstand einer globalen Minderheit mit der Verelendung des Großteils der Menschheit bezahlt wird? Wie denn, wenn Dürrekatastrophen, Pandemien und galoppierende Inflation längst zur Alltagsrealtität gehören?

Christus Superheld?

Weniger Schwarzmalerei? Weil Christus am Ende als Richter kommt, um einen Schlussstrich unter alles Unrecht und alle Anmaßung zu ziehen? Ich möchte es gern glauben, dass Christus (wie es im Originaltext heißt) „nahe bei den Türen“ (Mt 24,33) ist und nicht das drohende Ende, wie die revidierte Einheitsübersetzung fälschlicherweise den Eindruck erweckt. Kommt da wirklich der Menschensohn heran, um alle sozusagen mit einem Fingerschnippen auszuknipsen, die Terroristen, Gewaltherrscher, Kriegstreiberinnen und Hardlinerinnen - mit ihnen alles Elend und alles Unrecht? Nein, ich kann es nicht glauben, dass jener Christus, der sich abschieben und ausgrenzen, verfolgen und demütigen, quälen und erschlagen ließ, dass er eines Tages zurückkommen wird als allgewaltiger Superheld.

Endgültigkeit unserer Welt?

Aber ich baue darauf, dass sein Erscheinen das Ende von Systemen und Verflechtungen bewirkt, die uns in einem sehr umfassenden Sinn als Welt gelten: das Ende einer Welt, in der der Hochfrequenzhandel auf dem Börsenparkett den Takt für sämtliche Lebensbereiche und -vollzüge vorgibt; das Ende einer Welt, in der sich mit Wetten auf Lebensmittelknappheit richtig viel Geld verdienen lässt; das Ende einer Welt, in der nationale Egoismen die globale Sicherheit in Frage stellen; das Ende einer Welt, deren Wirtschaft tödlich ist. Ich halte es für eine adventliche Pflicht, auf die Vorläufigkeit dieser Welt(en) hinzuweisen und deren Totalitätsanspruch aktiv zu widerstehen. Im Sinne des Evangeliums muss und wird diese Weltordnung zerbrechen, um dem Reich Gottes Platz zu machen. Mein Widerspruch und mein Widerstand nähren sich aus der festen Hoffnung auf das Kommen einer Welt, die getragen ist vom Bemühen um Verstehen untereinander und die die Menschlichkeit zum Maßstab allen Handelns erhoben hat.

Überall, wo Menschen sich für jene Welt engagieren, die mit der nahenden Wiederkunft des Menschensohns im Kommen ist, „brechen sie Steine aus dem Gefängnis dieser Welt und es wächst die Freiheit in unserem Herzen. … Das Ende der Welt ist keine schreckliche Vision, es ist der Anfang unseres wahren Lebens.“(1) Und Schwarz wird zur Hoffnungsfarbe.

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Eugen Drewermann, Der offene Himmel. Predigten zum Advent und zur Weihnacht, München 1990, 15.

 

„Das setzt dem Ganzen noch die Krone auf!“ Wie oft ist Ihnen dieser Satz während der letzten Monate durch den Kopf oder über die Lippen gegangen? Das sich nun seinem Ende zuneigende Jahr 2022 hat weiß Gott einiges an gefühlten „Krönungsmomenten“ geboten: die durch unglaubliche Preistreiberei zusätzlich angefachte Inflation, schwierig nachvollziehbare politische Entscheidungen, subjektiv empfundene Ungerechtigkeiten in Serie. Beim „Kronenaufsetzen“ fallen mir aber nicht nur Entwicklungen in Gesellschaft und Politik ein. Ich denke dabei auch an bestimmte Menschen, deren Unverschämtheit scheinbar nicht mehr zu toppen ist. Menschen, die mit unglaublich verbohrter Dreistigkeit „ihr Ding“ durchziehen und billigend eskalierende Konflikte in Kauf nehmen. Fallen Ihnen auch bestimmte Personen ein, deren übersteigertes Selbstbewusstsein an manchen Tagen schier unerträglich gewesen ist, „Kronenaufsetzer“ eben?

„Das setzt dem Ganzen noch die Krone auf!“ Dieser Satz fällt überall dort, wo es unentrinnbar anstrengend wird. Unentrinnbar? Vielleicht gibt es doch einen Ausweg aus der Ohnmacht! Ich selber kann anderen die Krone aufsetzen. In Gedanken kröne ich mein Gegenüber und mache mir klar, dass dieser unendlich nervenaufreibende Mensch unabhängig von seinem Verhalten eine gottgegebene Würde besitzt. Mehr noch: es gibt ganz sicher königliche Züge an ihm, die ich in meiner Fixierung auf sein negatives Gebaren einfach nicht (mehr) sehe. Gefordert ist ein königliches Verhalten, das andere zu Königinnen und Königen macht. Das klingt nach großem Kraftaufwand. Wesentlich einfacher, weil gesellschaftlich wenig beanstandet, sind „unkönigliche“ Umgangsformen. Schnell stehen Würde und Ansehen von Menschen, die einem nicht passen, in Frage. Die einmal mithilfe Sozialer Netzwerke losgelassene Entwürdigung einer bestimmten Person lässt sich nicht mehr einfangen und leistet in der Regel ganze Zerstörungsarbeit.

Der von uns am letzten Sonntag im Kirchenjahr als König gefeierte Jesus hat in der kurzen Zeit seines Wirkens vielen die Kronen aufgesetzt. Sein verständiger und barmherziger Umgang krönt Menschen, die an ihren Schwächen und den in ihrem Leben herumliegenden Trümmern leiden. Seine Krone tragen diejenigen, die aufgrund ihrer Lebensführung, ihrer persönlichen Glaubensüberzeugung oder ihnen angehängter Fehler am Rande oder außerhalb des gesellschaftlichen Lebens ihr Dasein fristen. Bei ihm sind all jene Königinnen und Könige, die trotz eines oder mehrerer „Jobs“ kaum das Nötigste zu einem Leben in Würde haben; genauso wie jene, deren Arbeit gesellschaftlich nicht wertgeschätzt order erst gar nicht als solche gewertet wird. Jesu Zeugnis von einem Gott, der jeden Menschen mit königlicher Würde erschaffen hat und für die Würde seiner Mitmenschen in die Pflicht nimmt, - diese Botschaft setzt ihm selbst die Krone auf.

Anderen die Krone aufsetzen bedeutet, ihnen seine Krone aufzusetzen. „Portraits“ so gekrönter Menschen zeigt der Bonner Künstler Ralf Knoblauch in seinen Skulpturen. Als Diakon ist er in einem der sozialen Brennpunkte am Rande der Bonner Innenstadt tätig. Über sein Werk sagt er: „alle Nöte und Ängste, der mir täglich anvertrauten Menschen sind in diese Könige hineingearbeitet. Den Menschen auf Augenhöhe begegnen. Das ist mein Grundanspruch. Wertschätzung frei von jeder sozialen Klasse.“ Und er fügt ein Zitat des Religionsphilosophen Martin Buber hinzu: „Es gibt nur eine wirkliche Sünde: zu vergessen, dass jeder Mensch ein Königskind ist.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

Nagelprobe für das „Wir“ in der Gesellschaft – Nachklang zum 33. Sonntag 2022

„WIR gesucht – was hält uns zusammen?“ lautet das Motto der diesjährigen ARD-Themenwoche. Wie aktuell diese Frage ist, belegen die jüngsten Umfragen, die unsere Gesellschaft in einem denkbar schlechten Zustand zeigen: zwei Drittel der Befragten sehen immer tiefere Gräben zwischen Arm und Reich, politischen Lagern sowie vermeintlich „Fremden“ und „Einheimischen“. Hinzu komme der wachsende Konflikt zwischen den Generationen.

„WIR gesucht“ ließe sich auch der Zweite Brief an die Thessalonicher betiteln. In ihm ringt ein unbekannter Autor in der Tradition des Völkerapostels Paulus zu Beginn des zweiten Jahrhunderts mit den Konflikten in einer ebenso lebendigen wie zerrissenen frühchristlichen Gemeinde. Einer der Streitpunkte war die Frage nach dem Umgang mit religiös überdrehten Gemeindemitgliedern, die in ihrem Enthusiasmus über die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Christi jede Sorge um den eigenen Unterhalt und den der Gemeinschaft eingestellt hatten. Diesen Leuten, die so über allen Dingen schwebten, dass ihnen die Solidarität mit den anderen völlig egal war, schreibt der Verfasser einen folgenschweren Satz ins Stammbuch: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“.

Wahrscheinlich gehört dieser Vers zu den meistzitierten Sätzen aus der Bibel. Wo er nicht wortwörtlich genannt wird, bildet er den Hintergrund für Parolen wie „Arbeit muss sich wieder lohnen“ oder „wenn der Fleißige der Dumme ist, dann droht Sozialstaat zu erodieren“. Parolen wie diese kommen meistens aus wohlgenährten Mündern. Auf der Suche nach den aktuellen Gefährdungen des WIR gehört das vielfach auf Stammtischniveau verwendete Pauluszitat unbedingt mit dazu. Gerne wird dieses ohne großes Nachdenken falsch wiedergegeben und lautet dann: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Spätestens in dieser Form liegt dann die Keule bereit, um auf Langzeitarbeitslose und Asylsuchende einzuprügeln. Was aber, wenn immer häufiger das Geld „arbeitet“? Dann sollte auch das Geld zu Essen bekommen, nicht aber jene, die ihr Geld arbeiten lassen.

 

Christinnen und Christen müssen nicht nur immer wieder auf den historischen Kontext des korrekten Zitats hinweisen, sondern auch darauf, dass eine wachsende Anzahl von Menschen in unserem Land trotz Arbeit nicht ausreichend essen kann. Wer zu Anfang dieses Jahres mit Ach und Krach monatlich noch über die Runden kam, ist nun schon fünf bis zehn Tage vor Monatsende pleite. Noch wichtiger aber ist es, mit ruhiger Entschiedenheit den Zynismus all jener bloßzustellen, die in unserem Land den Niedriglohnsektor weiter ausbauen bzw. zementieren und dann behaupten „Fleiß“ würde sich lohnen. Gleiches gilt für jene, denen die neuen Regeln für das Bürgergeld nicht „schikanös“ genug sein können.

WIR gesucht? Wer Essendürfen mit vorherigem Arbeiten verknüpft, der braucht gar nicht erst mit dem Suchen anfangen, denn er findet nur Ichs. Fündig hingegen wird, wer sich an die katholische Soziallehre hält. Sie geht für ein christliches Miteinander in der Arbeitswelt auf die Straße und nötigenfalls sogar auf die Barrikaden, weil Bedürftige und Ausgebeutete genauso wie als „Schmarotzer“ Abgestempelte zuallererst Menschen sind. Und die brauche was zu essen.

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Diesen Text können Sie auch als podcast hören!

Das kann doch nicht sein! – Nachklang zum 32. Sonntag 2022

Selbst für Menschen, in deren Medienkonsum Folterszenen häufig vorkommen, bieten die Schilderungen des zweiten Buchs der Makkabäer vermutlich Schwerverdauliches: grausam und ekelerregend wird hier von einer Mutter berichtet, die zusehen muss, wie ihre sieben Söhne zu Tode gequält werden, bevor sie selber hingerichtet wird. Den geschichtlichen Kontext bildet die mit äußerster Brutalität betriebene Gleichschaltungspolitik von Antiochos IV., der Mitte des zweiten Jahrhunderts über den mittleren und nahen Osten herrschte. Er wollte die jüdische Bevölkerung in seinem Reich dazu zwingen, sich auch religiös den Vorgaben der hellenistischen Leitkultur anzupassen und damit den Glauben an den Gott der Bibel aufzugeben.

Vor diesem Hintergrund stellen sich in den Makkabäerbüchern vom ersten bis zum letzten Buchstaben Fragen, die heute genauso drängend und aktuell sind wie vor 2200 Jahren: Kann es denn sein, dass die unsäglichen Grausamkeiten dieser und jeder anderen Gewaltherrschaft ungesühnt bleiben? Wird Gott auf Dauer mit sich spielen lassen? Wird er zusehen können, wie Menschen massiv unter Ungerechtigkeit und Gewalt leiden müssen? Die biblischen Autoren geben eine klare Antwort: Nein! Denn es wird einmal Gerechtigkeit geben und Täter werden nicht bis in alle Ewigkeit über die unschuldigen Opfer triumphieren. Für sie ist klar, dass Gott ein Gott des Lebens ist, der denen seine Treue bewahrt, die unter anderen Menschen unschuldig leiden. Er wird einmal die Welt nach seinen Maßstäben richten und neu ausrichten. Der so ins Wort gebrachte Glaube hinterfragt bis heute Machtstrukturen und scheinbar „gottgegebene“ Verhältnisse. Es geht nach einer Formulierung des Theologen Karl Josef Kuschel um „die Urfrage nach Gerechtigkeit, von der man sich nur um den Preis des Fatalismus oder Zynismus achselzuckend abwenden kann. Man muss schon ein fatales Maß an Verblüffungsfestigkeit entwickelt haben, um den Schrei der Opfer nicht mehr zu hören".

Es zeichnet uns als Menschen aus, dass wir die Fähigkeit besitzen, uns gegen himmelschreiende Unrechtsverhältnisse aufzulehnen. Auch mein persönlicher Glaube an die Auferstehung gründet deshalb in der bohrenden Frage nach einer bleibenden Gerechtigkeit: „Es kann doch nicht sein …“ Der Schweizer Schriftsteller und Pfarrer Kurt Marti versucht eine Antwort, die sicherlich nicht nur mich überzeugt:

das könnte manchen herren so passen
wenn mit dem tode alles beglichen
die herrschaft der herren
die knechtschaft der knechte
bestätigt wäre für immer

das könnte manchen herren so passen
wenn sie in ewigkeit
herren blieben im teuren privatgrab
und ihre knechte
knechte in billigen reihengräbern

aber es kommt eine auferstehung
die anders ganz anders wird als wir dachten
es kommt eine auferstehung die ist
der aufstand gottes gegen die herren
und gegen den herrn aller herren: den tod
(1)

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB

(1) Kurt Marti, in: Paul K. Kurz, Wem gehört diese Erde, Mainz 1984, 85

Sichtschutz oder Sehhilfe? – Nachklang zum 31. Sonntag 2022

Wo kommt in der Geschichte von der Begegnung des Zollpächters Zachäus mit Jesus die Kirche oder (als deren Teil) ein Sozialverband wie die Katholische Arbeitnehmerbewegung ins Spiel? Im Idealfall würde die Antwort auf die hindeuten, die als Begleiterinnen und Begleiter Jesu in Jericho eintreffen. Dennoch könnte es auch sein, dass ein Gutteil der Kirche sich ähnlich wie bei Papstaudienzen auf dem Petersplatz schlichtweg als staunende, ergriffene oder manchmal auch nur gaffende Masse drängt. Zachäus kommt dort genauso wenig vor bzw. durch wie in Jericho, wo er für sich immerhin trotz der Menschenmenge einen Platz mit Ausblick organisieren konnte. Wahrgenommen wird er trotzdem nicht.

Mich macht die Menge, die den Zachäus ebenso bewusst wie selbstverständlich übersieht, stutzig. Ich gehöre einem Sozialverband an, der sich den aufmerksamen Blick für all jene auf die Fahnen geschrieben hat, die wie Zachäus keine Beachtung finden und sich gleichzeitig nicht von alleine melden. Gemeint sind die wirtschaftlich und sozial Unscheinbaren und Abgedrängten. Also auch jene, die sowohl durch die Großkrisen der Gegenwart als auch die technologischen und kulturellen Umbrüche regelrecht überfahren wurden und werden. Genauso die Menschen, denen die Sorgen um ihre eigene Zukunft und die ihrer Familie den Schlaf rauben, weil sei trotz harter Arbeit kaum durch den Monat kommen. Menschen, deren Gerechtigkeitsgefühl zugleich mit dem „Gießkannenprinzip“ der diversen „Rettungspakete“ wieder und wieder mit Füßen getreten wird.

Zurück zur Geschichte. Gottlob ist der Blickwinkel Jesu ist ein anderer als der am Straßenrand versammelten Schar. Wer hier steht, ist nicht nur brennend für die mögliche Sensation interessiert, sondern will auch in seinem Interesse wahrgenommen und gewürdigt werden. Die Aufmerksamkeit Jesu gilt aber nicht ihnen, sondern dem Zachäus. Er schaut über die Wand aus Leuten hinüber auf den, der gar nicht auf Wahrnehmung aus ist, diese aber braucht. Denn aus den bekannten Gründen (Kollaboration mit der römischen Besetzungsmacht, persönliche Gewinnmaximierung im Rahmen des bestehenden Steuersystems) ist Zachäus aus der Aufmerksamkeitskultur seiner Gesellschaft ausgeschlossen. Er gilt als Marginalisierter ohne Ansehen und Stimme, als einer, der nicht einmal ignoriert wird. Jesus erblickt ihn nicht nur einfach, sondern – so lässt sich das entsprechende griechische Verb an dieser Stelle übersetzen – „sieht ihn richtig“, nimmt ihn wertschätzend wahr und schenkt ihm Ansehen, indem er ihn ansieht.

 Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Katholische Arbeitnehmerbewegung für die heute wie selbstverständlich an den Rand Gedrängten und sozial Stigmatisierten stets die nötige Aufmerksamkeit aufbringt. Bieten wir denn ihren Sorgen und Zweifel ausreichend Raum in unseren Aktionen und Auftritten? Sind wir denn als die diejenigen bekannt, die sich besonders gut in die Situation dieser Menschen hineinversetzen können? Anders gefragt: Wie groß ist die Gefahr, dass selbst ein kirchlicher Sozialverband zum Bestandteil jener Menge wird, die die Sicht auf diese Menschen versperrt? Kann es sein, dass interne Konflikte in diesem Sinn genauso zur wachsenden Sichtbarriere werden wie die zuweilen lustvolle Fixierung auf das, „was nicht mehr geht“? Wenn dem so ist, dann läuft die KAB genauso wie die Kirche als ganze Gefahr, damit wesentlich dazu beizutragen, dass jene Menschen auch Jesus nicht mehr sehen können. Denn im eigentlichen und zugleich schlechten Sinn des Wortes können sie die Kirche und alles mit ihr Assoziierte nicht mehr über-sehen. Die allerwenigsten steigen noch auf einen Baum, um Jesus trotzdem zu sehen …

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Laute Abstiegsangst, leise Armut – ein Nachklang zum 30. Sonntag 2022

„Solidarischer Herbst. Soziale Sicherheit schaffen – Energiewende beschleunigen“. Unter diesem Motto soll es am 22.10. bei den für sechs große Städte angekündigten Großdemos laut werden. In diesem Zusammenhang wird viele Menschen sicherlich auch die wachsende Angst vor der drohenden Verarmung auf die Straße treiben. Eindringlich heißt es im Aufruf: „Viele von uns wissen nicht, wie sie Gas- und Stromrechnung bezahlen sollen. Etliche haben sogar Angst, ihre Wohnung zu verlieren und vom gesellschaftlichen Leben weiter ausgeschlossen zu werden – weil alles teurer wird, Löhne und Transferleistungen reichen nicht mehr aus.“ Aus Angst vor der eigenen Verarmung wird es also laut …

Himmelschreiende Armut

Normalerweise kommt in Deutschland die Armut selbst eher verschämt und leise daher. Direkt Betroffene haben kaum eine Stimme und eher unwillig macht die Politik ihr Schicksal zum Thema. Wenn überhaupt von ihnen die Rede ist, dann mit einer unterschwelligen Angst vor Umverteilung und/oder diffamierenden Hinweisen auf eine „angebliche“ Bedürftigkeit. Von Armut selbst wird offenbar ungern gesprochen. Selbst die Autorinnen und Autoren der aktuellen Bibelübersetzung scheuen anscheinend vor dem Gebrauch dieses Begriffs zurück. In der ersten Lesung zum heutigen Sonntag aus der Weisheitsschrift des Jesus Sirach wurde aus dem „Flehen des Armen“ (alte Einheitsübersetzung) das „Gebet eines Demütigen“ (Sir 35,21). Es geht aber um den Ge-Demütigten! Die Aussageabsicht des um 180 vor Christus schreibenden Weisheitslehrers ist eindeutig: Gott hilft dem Armen ohne Ansehen der Person. Das Gebet notleidender Menschen durchdringt die Wolken und wird erhört. Aus biblischer Perspektive ist Armut wortwörtlich himmelschreiend.

Armut benennen

Aber welche Armut ist gemeint? Im Ersten Testament ist Armut an sich schon „skandalös“, weil es sie im Volk Gottes überhaupt nicht geben dürfte (Dtn 5,14). Sie bezeichnet mehr als den bloßen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Status einer Person, die sich kaum oder gar nicht das Überlebensnotwendige verschaffen kann. Im Kern geht es um die Machtlosigkeit der Betroffenen. Deshalb tritt Gott ohne Wenn und Aber für sie und ihr Recht ein: für das fundamentale Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Arme sind Menschen, denen dieses Recht verwehrt ist. Daher gingen bereits in biblischen Zeiten mit dem Begriff der Armut starke Emotionen einher. Es war und ist eine Frage lebendiger Menschlichkeit, ob ihr Vorhandensein Empathie, Zuwendung und Hilfsbereitschaft auslöst. In ihrem gemeinsamen Sozialwort von 1997 haben die großen Kirchen eine Beschreibung von Armut versucht, die auch heute noch zutrifft: Diese „hat viele Gesichter und viele Ursachen. Sie ist mehr als nur Einkommensarmut. Häufig kommen bei bedürftigen Menschen mehrere Belastungen zusammen, wie etwa geringes Einkommen, ungesicherte und zudem schlechte Wohnverhältnisse, hohe Verschuldung, chronische Erkrankungen, psychische Probleme, lang andauernde Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und unzureichende Hilfen.“ (1) Natürlich wurde und wird selbst dieser eher harmlose Versuch einer gewollt ausgewogenen Beschreibung hinterfragt und relativiert. Entscheidend ist, dass Armut als solche benannt wird. Ein gravierender Unterschied zu den schönfärberischen Versuchen, anstatt dessen von „sozialer Ungleichheit“ zu sprechen, die es „naturgemäß“ in unserer Gesellschaft geben müsse.

Das Ende der Verharmlosung

Jahrzehntelang wurde mit Begriffsumdeutungen dieser Art die durch eine entfesselte Wirtschaftspolitik und den gleichzeitigen Abbau von Sozialstandards schnell wachsende Armutsgefährdung retuschiert und verharmlost. Arm war „lediglich“, wer es nicht verbergen konnte. Das traf „höchstens“ auf jene zu, die in Lumpen herumliefen, nach Pfandflaschen suchten oder keine feste Bleibe mehr hatten. Spätestens seit diesem Herbst zeigt sich aber, dass Armut für eine wachsende Zahl an Menschen schlichtweg eine Frage ihres durch Inflation und Energiekrise abschmelzenden Einkommens ist. So wird die Zahl der Machtlosen im Sinne eines gesellschaftlichen Ausschlusses wachsen, schon allein weil adäquate Kommunikationsmittel und damit der Verbleib in sozialen Netzwerken nicht mehr erschwinglich sein werden. Gleiches gilt für die Teilnahme an teuren Schulausflügen, Betriebsfeiern, Kulturevents usw. Bislang Betroffene hatten und haben kaum eine Lobby und gelten tendenziell persönlich für ihre Situation verantwortlich. Aus Scham schützten sie im Einzelfall Krankheit oder andere Verhinderungsgründe vor.

Lautstarker Protest für die wirklichen Betroffenen

Nun soll es laut werden, weil die Angst vor der eigenen Verarmung und dem persönlichen sozialen Abstieg sich immer mehr zum gesamtgesellschaftlichen Schreckensszenario entwickelt. Das mag ein triftiger Grund sein. Besser, viel besser aber wäre es für die Zukunft unserer Gesellschaft, wenn Menschen auf die Straße gingen, weil sie das Schicksal und die Situation der bisher Betroffenen berührt. All die Wut und Empörung, die am kommenden Wochenende und ganz bestimmt noch lange danach laut werden, sollten zunächst einer Gesellschaft gelten, die sehr lange das Schicksal der Armen in der Mitte eines immer reicher werdenden Landes verdrängt hat. Wut und Scham über die eigene Beteiligung an dieser Vertuschung wären ein guter Grund fürs Demonstrieren. Ein anderer ist der bitter nötige Prostest angesichts der nun noch mehr schwindenden Chancen für ein menschenwürdiges Dasein der schon seit langem verstummtem Armen. Wer wird für sie in diesem Herbst die Stimme erheben? Oder bleibt ihnen nur der „Schrei zum Himmel“?

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der DBK zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland 1997, Nr. 68.

Was haben die Witwe und der Richter im nach ihnen benannten Gleichnis gemeinsam: Haare! Sie trägt diese auf den Zähnen, er in Form eines dicken Fells. Zugegeben, das ist ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, beschreibt aber treffend das überaus markante Profil der von Jesus skizzierten Hauptfiguren. „Frau“ muss Haare auf den Zähnen haben, um so auftreten zu können wie diese Witwe.  Ganz nach dem Werbeslogan-Klassiker „Nichts ist unmöglich!“ setzt sie ihre ganze Energie für die Durchsetzung ihres guten Rechts ein. Dabei war ihre Position praktisch aussichtslos. Im biblischen Ranking der hilf- und schutzlosen Personengruppen firmieren die Witwen stets auf Platz 1 weit vor Waisen, Tagelöhnern und Sklaven. Besaßen Frauen an sich schon nur die Hälfte an verbrieften Rechten im Vergleich zu den Männern, so standen Frauen ohne Männer defacto außerhalb der patriarchalisch geprägten Solidargemeinschaft. Sie hatten schlichtweg keine Lobby. Auf den Rechtsweg für die Realisierung der ihnen theoretisch zustehenden Ansprüche zu bauen, war ein mehr als utopisches Unterfangen.

„Witwengleiche Zustände“

Natürlich hat sich seit den Zeiten Jesu in Bezug auf Frauen und deren Rechte ganz viel geändert. Aber bei weitem noch nicht genug! Selbst nach einer vergleichsweise normalen Erwerbsbiographie steht eine Frau aufgrund des niedrigeren Gehaltsniveaus noch immer als eine Benachteiligte da: im Durchschnitt fällt ihre Rente um gut 50% niedriger aus als die ihrer Kollegen. Kein Wunder, dass beim Thema akuter Armutsgefährdung sofort von älteren alleinstehenden Frauen die Rede ist. „Verschaffe mir Recht gegen meinen Widersacher“, fordert die Witwe vom Richter. Der Gegner trägt keinen Namen. Die „Widersacher“ heute sind all jene, die aktiv oder subtil auf indirektem Weg Frauen eine eigenständige Existenzsicherung verunmöglichen. Noch immer ist die Wahrnehmung und Bekämpfung der Altersarmut von Frauen eine Frage des jeweiligen politischen Kalküls. Es sei nur an den beschämenden Schacher um die Grundrente erinnert. Dabei fängt „witwengleicher“ Gesellschaftsausschluss bereits viel früher an: z.B. bei den Problemen, als Minderqualifizierte im Alter von 50 Jahren nach längerer Familienpause oder einer Trennung noch einen Job zu finden. Aus vielerlei Gründen besitzen nur sehr wenige Frauen die Wadenbeißer-Hartnäckigkeit der Witwe aus dem Gleichnis.

Arroganz und Angst

Das dicke Fell ihres Antipoden, der Pelz des schließlich vor ihr kapitulierenden Richters bezeichnet dessen vermeintliche Unbeeindruckbarkeit durch nichts und niemanden. Es ist sozusagen sein Markenzeichen, dass er sich seine Fälle aussucht und in kalter Arroganz zur Urteilsfindung schreitet. Beim ersten Hinsehen steht er für all jene Menschen, die damals wie heute mit strahlender Selbstherrlichkeit eine einflussreiche Position in der Gesellschaft besitzen und gnadenlos für sich instrumentalisieren. Insbesondere erinnert mich der Richter an jene, die mit wohldosierter Machtanwendung Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen können. Vor allem aber sehe ich diese Figur bei all jenen Entscheidungsträgerinnen und -träger durchschimmern, die aus taktischen Gründen andere und deren Rechtsanspruch gezielt herabwürdigen. Da ist dann schon einmal anstatt von Kriegsopfern auf der Flucht von „Sozialtouristen“ die Rede. Die „Witwe“ verwandelt sich durch diese Strategie zur leibhaften Bedrohung der sozialen Sicherungssysteme. Mich beeindruckt deshalb umso mehr, mit welcher Sicherheit die Witwe aus dem Gleichnis um ihr Recht weiß und sich von dieser Gewissheit ebenso wenig abbringen lässt, wie der Richter von seinen Prinzipien. Schon in dieser Hinsicht ist diese Frau ihm ebenbürtig. In der entscheidenden Frage persönlicher Souveränität aber deklassiert sie ihn regelrecht. Sie deckt die Schwachstelle in der fest gefügten Schutzmauer aus Anmaßung und Verachtung auf: Es die Angst des Richters vor einem schlechten Image. Er fürchtet zwar nichts und niemand, die öffentliche Meinung aber umso mehr.

Berührbar bleiben!

Wie lange muss „die Politik“ bedrängt werden, damit sie mehr gegen die „witwengleichen“ Ursachen für die größtenteils weibliche Altersarmut unternimmt? Und: wer setzt das Thema mit der nötigen Unbeirrbarkeit auf die Tagesordnung?  Christinnen und Christen aller Konfessionen müssen viel deutlicher als bisher nach dem Vorbild der Witwe Recht und Gerechtigkeit einfordern. Es ist höchste Zeit, dass sich Bischöfe und Kirchenleitungen endlich erkennbar positioniert in die an Schärfe zunehmenden Verteilungskämpfen dieser Tage einbringen. Vielleicht gäbe es etwas an Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, wenn sie entdecken würden, dass es auch außerhalb der Kirche und ihrer ergebnisarmen Reformbemühungen um mehr Gender-Gerechtigkeit eine „Frauenfrage“ gibt mit fortdauernder Diskriminierung, Lohn- und Rentenlücke. Die quasi-rechtlose Witwe aus dem Gleichnis erinnert mit Nachdruck daran. Berührt ihre Situation noch jene, die in ihrer Leitungsverantwortung behaupten „Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ seien mit ihrer Trauer und Angst identisch? Oder ist ihnen längst ein noch dickeres Fell als dem Richter gewachsen? Das wäre dann mehr als eine haarige Angelegenheit …

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Eine Frage der Kinderstube?

Ganz sicher gehört „Danke“ zu den ersten zweisilbigen Wörtern, die ich als Kleinkind beherrscht haben „musste“. Ob es sich nun um ein kleines Stück Gelbwurst vom Metzger oder den Kirsch-Lutscher aus der Hand der Verkäuferin im Tante-Emma-Laden handelte: schon lange Sekunden vor ihrem Empfang musste ich die begehrten Dreingaben mit einem laut vernehmlichen Danke quittieren. Mitte der 1960er Jahre hatten eben schon Dreijährige ein tadelloses Benehmen an den Tag zu legen, um als wertvolle Glieder in der Mitte einer damals scheinbar noch wohlgeordneten Gesellschaft angesehen zu werden. Die Frage „Wie sagt man …?!“ durfte da erst gar nicht aufkommen!

Undankbare Randfiguren?

Die von Lukas erzählte Geschichte spielt in vielerlei Hinsicht am und mit dem „Rand“. Jesus bewegt sich im Randgebiet zwischen Judäa und dem „unreinen“ Samarien. Dort begegnet er zehn aussätzigen Männern, die förmlich über den Rand ihrer bisherigen Lebenskontexte gekippt worden waren. Nach biblischem Verständnis bedeutete Aussatz nicht nur die von uns in Entsprechung zum griechischen Begriff „Lepra“ so bezeichnete Erkrankung, sondern stand für den Totalausschluss der Betroffenen aus allen gesellschaftlichen Lebensvollzügen. Es genügte bereits eine Unreinheit der Haut und deren amtliche Bestätigung durch den zuständigen Priester, um einen Menschen in den Dauerzustand einer unbedingt zu meidenden toxischen Randfigur zu schicken. Jesus kehrt nun diesen Vorgang um, denn er glaubt an die Heilbarkeit der ihn anflehenden Aussätzigen und damit an ihre Heilung! Er gibt ihnen die Kraft für den Weg zurück in die Gesellschaft. Natürlich zeigt er sich danach erstaunt darüber, dass nur einer der zehn Männer zurückkehrt, um sich zu bedanken. Dieser eine ist ein Samariter. Aber dieser hat keine bessere Kinderstube als seine neun Kollegen genossen, sondern hat aufgrund seiner religiösen und ethnisch-sozialen Zugehörigkeit ein ganz besonderes Gespür dafür, was es heißt, auch ohne Aussatz als unrein, ja als Abschaum zu gelten. Daher begreift er als erster das Geschenk, das die anderen neun (noch) nicht recht einordnen können: den erneuerten und gestärkten Glauben an sich selbst und das Erbarmen Gottes, das aus schier aussichtslosen Situationen retten kann.

Verpflichtung zur Dankbarkeit?

Aussatz grassiert als schleichende Seuche auch in Deutschland. Eine seiner krassen Ausprägungen ist die Armut. Von ihr Betroffene sagen über ihren Alltag nicht selten: „Das Schlimmste ist, dass niemand hilft und es keiner wissen darf. Wer noch nie bei einer Tafel oder bei einer Essensausgabe gestanden hat, weiß nicht, wie erniedrigend dieses Gefühl ist" (1), schreibt die als Findelkind in prekären Verhältnissen aufgewachsene Kölner Autorin Mirijam Günter. Mit Schreibwerkstätten hilft sie von einem ähnlichen Schicksal betroffenen Kindern und Jugendlichen Selbstwert und Würde zu finden und zu entwickeln. Müssen diese dafür dankbar sein? Ich selber habe erst als junger Erwachsener begriffen, dass beschenkte Menschen nicht automatisch zu Schuldnerinnen oder Schuldnern werden. Zudem steht es ihnen frei, nach Belieben mit ihren Geschenken zu verfahren. Weder in puncto Dankbarkeit noch mit Blick auf die Verwendung des Erhaltenen müssen sie auch nur im Ansatz meinen Vorstellungen entsprechen. Doch bei strenger Betrachtung handelt es sich beim Engagement am Rand der Gesellschaft gar nicht um ein großzügiges Geschenk, sondern um eine für Christinnen und Christen verpflichtende Selbstverständlichkeit. Deren Unterlassung bedarf der Erklärung und nicht der mehr oder weniger ausbleibende Dank. Die Betroffenen haben aus Sicht des Evangeliums ein Recht auf Hilfe! Sozialverbände wie die Katholische Arbeitnehmerbewegung und die vielen anderen, die sich für Entrechtete in den unterschiedlichsten Kontexten unserer Gesellschaft engagieren, sollten schon allein deshalb nicht mit Dankbarkeit rechnen. Auch wenn das plötzliche Verschwinden von Unterstützten, sobald diese wieder auf den Beinen sind, sehr schmerzlich sein kann. Vielleicht können sich die Helfenden anstatt dessen selbst zu einem Dankeschön durchringen: dafür, dass sie etwas bewirken konnten und können.

„Wie sagt man …?!“ Als ursprünglich selbst von krasser Mittellosigkeit Betroffene dankt Mirjiam Günter gewissermaßen durch die Blume: „Mir begegneten gute Katholiken und hilfsbereite Kommunisten. So groß war der Unterschied nicht.“

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Mirijam Günter, in FAZ vom 4.10.2022

Restaurantbesuch „beim Inder“ am Sonntagmittag. Aufgrund akuten Personalmangels bedient der Inhaber selber und seine Frau arbeitet mit nur einer Hilfskraft in der Küche die Bestellungen der überraschend zahlreich erschienen Gäste ab. Obwohl dieser Engpass offensichtlich ist empört sich zwei Tische von mir entfernt eine mir bekannte kirchliche Mitarbeiterin über die vermeintliche Ignoranz des kellnernden Chefs und äußert lauthals Kritik über den „grottenschlechten Service“. Noch Stunden später schäme ich mich fremd für meine Kollegin. Nach diesem Erlebnis verstehe ich sofort den Erzähleinstieg Jesu, „wenn einer von euch einen Knecht hat“ als Aufforderung dazu, die eigene vielleicht etwas abgestumpfte Empathie für arbeitende Mitmenschen durch ein Spezialtraining fürs eigene „Einfühlen“ endlich wieder einmal auf Vorderfrau bzw. Vordermann zu bringen

Die Herrin, der Herr in uns

Erste Übungseinheit: „Stell dir vor, du hast einen Diener, eine Dienerin.“ Natürlich klingt das beim ersten Hinhören realitätsfremd: „nicht meine Welt“ erwidern die meisten von uns. Aber wer kommt tatsächlich ohne Bedienstete im weitesten Sinn des Wortes aus? 2016 übt der Publizist Christoph Bartmann in seinem Buch „Die Rückkehr der Diener“ scharfe Kritik am vielfach zynischen Umgang eines gutsituierten Mittelstandsbürgertums mit Dienstleisterinnen und Dienstleistern. Nachgerade schamlos legen nicht nur viele „Besserverdiener“, sondern auch Menschen mit eher unterdurchschnittlichen Einkommen beim Thema Serviceerwartung eine erschreckende Herrschermentalität an den Tag. Aber auch wo diese nicht ausgeprägt ist, stellt sich die Frage, mit welcher Selbstverständlichkeit die von gesichtslosen „Dienstleisterinnen“ und „Dienstleistern“ verrichtete „Drecksarbeit“ hin- und angenommen wird! Sehr selten stehen miserabel bezahlte Arbeitsverhältnisse unter himmelschreiend miesen Rahmenbedingungen im Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit! Die kostengünstige Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch häusliche Pflegekräfte, das Liv-in-Konzept, zum Beispiel erfreut sich trotz höchstrichterlicher Beanstandungen ungebrochener Beliebtheit. „Stell dir vor …“ Unsere Sprache verrät die kleine Feudalherrin und den kleinen Feudalherren in uns: „Wir haben für unsere bettlägerige Oma jetzt eine tüchtige Polin daheim“. „Nehmen Sie Ihre (fünf Minuten) zu spät gelieferte Pizza gefälligst wieder mit“. „Meine Bestellung muss in den dritten Stock!“ Und natürlich bekommt auch der eingangs erwähnte „Inder“ zu spüren, wer hier der Herr ist. Damit kein Zweifel aufkommt: auch ich profitiere sehr oft von schlecht bezahlten Dienstleisterinnen und Dienstleistern und mache mir sehr selten Gedanken um deren Wohlgehen.

Seitenwechsel

Zweite Übungseinheit: Macht euch einmal klar, dass ihr „unnütze Mägde bzw. Knechte seid“, will heißen, versetzt euch möglichst oft in die Rolle von Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen, vollzieht einen gedanklichen „Seitenwechsel“. Wie ist das, wenn ich die mir aufgetragene Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen erledige, dafür aber kein einziges Wort von Anerkennung zu hören bekomme. Anstatt dessen werde ich von allen Seiten „angemacht“: von schlecht gelaunten Vorgesetzten, von gestressten Kundinnen, von Politikern, die auf mich herabschauen. Und das, obwohl ich einen guten Job mache. Es wäre für unser gesellschaftliches Klima schon einiges gewonnen, wenn möglichst viele Menschen zeitweise in schlechtbezahlten und wenig angesehenen Berufen entsprechende Erfahrungen sammeln könnten. Führungskräfte können im Projekt "SeitenWechsel" Erfahrungen in der Lebenswelt niedriger Dienstleistungen sammeln und so ihre Sozialkompetenz steigern. Eine wunderbare Idee, nicht nur für Chefs und Chefinnen!

Sinn und Zweck der Übung

Wenn wir allein schon mehr Bereitschaft zeigen würden, die uns gestellten Aufgaben einfach anzugehen, würde sich in unserem Zusammenleben schon durch diese Grundhaltung einiges ändern. Ein regelrechter Wandel aber vollzöge sich, wenn wir ab und an in die Rolle der modernen Knechte bzw. Mägde schlüpfen würden. Wenn wir aber weiterhin auf andere herabschauen, ihre Kompetenz und vor allem ihr Menschsein und ihre Persönlichkeit übersehen oder gar missachten, sollten wir über den geistlichen Sinn dieses Sonntagsevangeliums kein Wort verlieren. Es geht darum, mental einen „Seitenwechsel“ zu vollziehen. Wo das gelingt, fängt das Ende prekärer Arbeit an.

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

„Sorry we missed you“ (Wir haben sie leider verpasst) lautet der Titel eines Filmdramas von Ken Loach. Der britische Altmeister des sozialkritischen Films gibt in diesem Werk mit der Figur des als Subunternehmer ausgebeuteten Paketdienstzustellers Ricky Turner all jenen Menschen ein Gesicht, die zumeist anonym und unsichtbar unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen vor unseren sichtbaren und unsichtbaren Haustüren für unsere Bequemlichkeit sorgen. Er zeigt uns mit Ricky und seiner Familie Menschen, für die sofort Sympathie, Verständnis, ja sogar Liebe aufkommt: ausgepresste, fehlerhafte, verzweifelnde Menschen.

Jesus verfährt beim Erzählen seiner Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus ähnlich. Der vor der Haustür dahinvegetierende Arme bekommt einen Namen und damit auch ein Gesicht. Es ist überflüssig, daran zu erinnern, dass es im wirklichen Leben genau umgekehrt läuft. Auch ich betrachte oft genug fälschlicherweise Namedropping (Einflechten berühmter Personen/Namen) als Hinweis auf persönlich erfolgreiches Arbeiten: „Stell dir vor, mit wem ich in Berlin beim XY-Empfang plaudern konnte!“ oder „Bischof Z hat mich auf unsere jüngste Pressemeldung angesprochen.“ Würde ich mit ähnlichem Interesse rechnen, wenn ich von einer beiläufigen Begegnung mit Geringverdienenden erzählte? Oder gar von dem Obdachlosen (Manfred), der sich seit vier Jahren auf dem Grundstück der Verbandszentrale in Köln „eingerichtet“ hat? Es gibt mir zu denken, dass Jesus sehr bewusst den Reichen als farblosen Irgendjemand skizziert. Sein Kleidungsstil ist obszön teuer und der seiner wenig später erwähnten Brüder sicherlich auch. Ansonsten bleibt es bei diesem Schlüssellochblick auf ein Luxusleben.

Lazarus - Gott hat geholfen

Weitaus mehr erfahren wir über die Lebensumstände des Armen, der einen sogenannten „Programmnamen“ trägt. Lazarus bedeutet „Gott hilft“ bzw. „Gott hat geholfen“ – ein Name, der beim ersten Hinschauen kaum unpassender sein könnte. Jesus spricht ausführlich über dessen Krankheit, seine Bedürfnisse und „Ansprüche“. Abfälle würden ihm genügen. Ganz nebenbei: Fast 11 Millionen Tonnen Lebensmittel landeten 2020 in Deutschland im Müll, 59% allein aus privaten Haushalten. Dennoch ist das sogenannte „Containern“, die Aneignung der weggeworfenen Nahrung, nach wie vor strafbar …

Insgesamt schaffen es Jesus und Ken Loach, von der Situation eines absoluten „Underdogs“ überaus wohlwollend und mitfühlend zu erzählen. Möglicherweise genügt es schon, nur diese eine Botschaft vom Evangelium zu begreifen und umzusetzen: je nachdem, auf wen ich höre, bilde ich mir Meinung über Menschen wie Lazarus oder Ricky. Woher stammen also meine Informationen – vorausgesetzt ich will überhaupt mehr z.B. über die Dienstleisterinnen und Dienstleister vor meiner Haustür wissen? Bin ich bereit, mich von deren Lebensumständen und Schicksal berühren zu lassen? Es sind genau diese Fragen, die sich Frauen und Männer in der Katholischen Arbeitnehmerbewegung stellen, weil sie immer öfter merken, dass Menschen in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen regelmäßig übersehen werden und kaum jemand weiß, was sie tagtäglich ertragen müssen. Daher startet der Verband im Oktober die bundesweite Aktion „prekärer Arbeit ein Gesicht geben“.

Es geht um Menschen - nicht um Zahlen

Es geht um echte Menschen mit einem konkreten Leben und nicht nur um Zahlen aus diversen Sozialstatistiken. Verbandsmitglieder werden auf Betroffene zugehen und sie bitten, von ihrem Arbeitsleben zu erzählen. Die KABlerinnen und KABler wollen nicht zuletzt auch auf diesem Weg zu einer positiven Meinungsbildung über Menschen in prekären Verhältnissen beitragen. Das Beispiel des armen Lazarus, aber auch Filme wie „Sorry we missed“ you, sind zumindest Mitgliedern in der KAB Antrieb genug, um nicht auf weitere Hilfspakete und andere Interventionen durch die Regierung zu warten, sondern selbst in eigener Verantwortung das zu tun, was ihnen jetzt in diesem Leben (!) möglich ist. Denn irgendwann, daran lässt Jesus keinen Zweifel, könnte es dann doch einmal zu spät sein.

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

„Gauner“ scheint als Bewertung fast zu mild für das Verhalten der Hauptperson im Evangelium dieses Sonntags: Untreue, Urkundenfälschung und Betrug sind dem Verwalter anzulasten. Trotzdem lobt sein Chef, der ihn wegen Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung entlassen will, ausdrücklich dieses Handeln. Gewissermaßen erzählt Jesus in diesem Gleichnis mit diesem Ansatz von der paradoxen Figur des „guten Gauners“.

Offensichtlich war es in seinem Job als Verwalter, nämlich das Vermögen seines Herrn durch vorteilhafte Pacht- und Handelsverträge sowie maximale Ertragsausbeute zu vermehren, zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Nun sieht er seinem Rauswurf und damit einer mittellosen Zukunft entgegen. Schließlich rettet er sich mit einem kaum zu glaubenden Seitenwechsel vor einer Existenz am Bettelstab. Bislang war er Akteur in einem System, das den Pachtbauern einen Großteil der Jahresernte unabhängig vom Ergebnis abnahm. In die zu leistenden Abgaben war zusätzlich der Schuldenzins für die Ausfälle aus den Vorjahren eingepreist. Hier nun setzt der Verwalter an und verzichtet auf seinen Anteil an den Zinsen. Er verschafft damit den verschuldeten Pächtern nicht nur neuen Handlungsspielraum, sondern durchbricht beispielhaft einen tödlichen Kreislauf, der durch willkürliche Forderungen und von ihnen verursachten Schulden und Zinsen einen ausweglosen Enteignungsprozess der Kleinbauern angetrieben hatte. Somit ist sein Verhalten nicht nur klug, weil er fest mit der dankbaren Aufnahme bei den von ihm gut behandelten Pächtern rechnen kann, sondern folgt in einem umfassenderen Sinn der Spur des Evangeliums: weg von der maßlosen Anhäufung von Gütern und Kapital hin zur Großzügigkeit und zum Verzicht auf Eigennutz um jeden Preis.

Zum strahlenden Sympathieträger wird der Verwalter dadurch nicht. Das ändert aber nichts daran, dass er sich einer bedrohlichen Entwicklung mutig stellt und einen gut durchdachten Rettungsplan ersinnt. Allein dies macht ihn schon zum Vorbild. Hinzukommt seine Fähigkeit, sich aus der für ihn zuspitzenden Situation durch die Verbindung von Eigennutz und Wohltätigkeit zu retten. Er baut ein Beziehungsnetz auf, in dem nun Solidarität und ein gutes Leben für alle Beteiligten im Blick sind. Damit ist eine der zentralen Fragen für das Zusammenleben in unserer krisenbeherrschten Gesellschaft berührt. Auch hier findet in Politik und Wirtschaft entschlossenes Handeln statt. Aber die beschlossenen Maßnahmen müssen zu mehr führen, als lediglich zu einer Milderung der allerschlimmsten Not. Hilfspakete, Einmalzahlungen, die Deckelung von Energiekosten und bezahlbare Mobilität für alle Menschen sollten nicht nur für kurzfristige Entlastungen sorgen, sondern zum langfristigen Umbau von Wirtschaften und Arbeiten im Sinne eines würdigen Lebens für alle führen. Es geht um ein echtes Teilen von Macht und Besitz, Lebens- und Handlungschancen.

Bleibt die Frage nach dem „üblen Gauner“. Etymologisch stammt das Wort aus dem Rotwelsch und bezeichnet einen Falschspieler. So gesehen ist die Zusatzbezeichnung „übel“ fast überflüssig. Immerhin wird durch sie zusätzlich betont, dass es sich hier um Bereicherung und Manipulation zum Schaden aller anderen Beteiligten handelt. Beispiel gefällig? Am Wochenende wurde bekannt, dass zahlreiche Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen die Corona-Prämie für ihre Mitarbeitenden erst gar nicht beantragt und somit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorenthalten hatten. Noch übler ist die Nachricht, dass auch Firmeninhaber im Krankenhaus- und Pflegesektor völlig zu Unrecht die Prämie für sich selbst geltend gemacht haben. Im Sinne des Evangeliums ist dieses Verhalten angesichts der Gefahr der Aufdeckung nicht nur „unklug“, sondern menschenverachtend. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass diese Auswüchse zu einem Mechanismus gehören, den wir solange mit am Laufen halten, solange das Bruttosozialprodukt einziger Maßstab für das Wohl und Wehe unserer Gesellschaft bleibt. Dieser Maßstab sollten die Bedürfnisse derer sein, die auf die Solidarität dieser Gesellschaft angewiesen sind.

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deuschlands

 

Ablenkungsmanöver im Kleinen

Wie im Schnelldurchlauf eines Films rauscht die Geschichte vom jüngeren, bekanntermaßen „verlorenen“ Sohn an unseren Augen und Ohren vorbei: kurze Beschreibung der Ausgangslage, Einforderung des Erbteils und Auszug in ein fernes Land, Leben in Saus und Braus, krisenhafte Verschlechterung der Rahmenbedingungen und rasanter sozialer Abstieg der titelgebenden Hauptfigur, die schließlich bei den Schweinen landet und damit in der für Juden denkbar unreinsten bzw. unfeinsten Gesellschaft. Dann wechselt das Erzähltempo ohne Vorankündigung mit einer Vollbremsung in die Zeitlupe und gibt Wort für Wort ein Selbstgespräch wieder: „Da ging er in sich“. Und was sich in diesem inneren Monolog danach abspielt, ist ein beispielloser Vorgang von Selbsteinsicht und Umkehr. Ein richtiges Sündenbekenntnis und eine wirkliche Änderung der Lebensrichtung. „Richtig“ und „wirklich“, weil der jüngere Sohn klar auf den Punkt bringt, was bei ihm schiefgelaufen ist: er hat die Grundlagen seines Lebens durch die Abwendung vom Vater und vom „Himmel“ selbst zerstört. Für mich ist es nachgerade vorbildlich, dass er im dunkelsten Moment seines Lebens jede Art von Fremdverschulden ausschließt: Keine Erziehungsfehler daheim, keine falschen Freunde, keine krankmachenden Strukturen. Am Tiefpunkt zeigt er sich verantwortlich für sein bisheriges Handeln. Bekomme ich das so hin, Verzicht auf die üblichen „Ablenkungsmanöver“?

Hungersnot heute

Ich bleibe aus einem weiteren Grund an dieser ersten Scharnierstelle im Erzähltext hängen. Die Rahmenbedingungen für das Schuldbekenntnis des jüngeren Sohnes scheinen mir mit den heutigen Zeitumständen vergleichbar. Der Begriff „große Hungersnot“ beschreibt in der Bibel Versorgungskrisen mit unterschiedlichen Ursachen (Missernten, Schädlingsbefall, Kriege, Naturkatastrophen). Immer geht es im Ergebnis um knappe und teure Nahrungsmittel, die für eine zunehmende Anzahl an Betroffenen nicht mehr bezahlbar sind: fast über Nacht tragen bisher alle möglichen Produkte Preisschilder, auf denen unglaubliche Zahlen stehen. In der Folge drohen soziale Verwerfungen und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Das Allerschlimmste sollen die von der Regierung zusammengestellten „Entlastungspakete“ abwenden. Letztlich lässt sich das nächtelange Nachdenken von Kanzler und Kabinett ein wenig mit dem „In-sich-gehen“ des jüngeren Sohnes vergleichen. Das Ergebnis aber ist ein anderes: auch im dritten Anlauf wird nicht gesagt, was wirklich Sache ist, werden die auf der Hand liegenden Konsequenzen nach wie vor nicht beim Namen genannt. Dies müssen erneut die politischen Kommentartorinnen und Kommentatoren übernehmen. So z.B. Florian Geyer in der FAZ: „Geht es … im großen Stil um Konsumverzicht? Ums Drücken der Ausgaben? Und wenn ja, warum findet sich niemand als Überbringer dieser Botschaft?“ (FAZ 6.9.2022)

Ablenkungsmanöver im Großen

Bekommen „die“ das endlich hin, den Verzicht auf die üblichen Ablenkungsmanöver? Leider steht uns vorerst kein Happy End wie dem jüngeren Sohn bevor. Aber dies offen anzusprechen und auf den bevorstehenden Wandel von einer „saturierten“ hin zu einer „prekären Existenz“ zu verweisen, könnte Bestandteil der entscheidenden Kehrtwende sein. Noch immer gelten die monatlich gemessene Kauflaune und die Aussagen des Konsumbarometers als angemessene Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft. Eine ebenso ehrliche wie kritische Auseinandersetzung mit einer ständig angeheizten und zum eigentlichen gesellschaftlichen wie individuellen Entwicklungskriterium erklärten Bedürfnisbefriedigung könnte an den Tag bringen, dass die gegenwärtige Notlage weit zurückliegende und tief wurzelnde Ursachen bzw. bewusste Fehlentscheidungen hat. Die Krisen unserer Tage lassen sich deshalb vielleicht in einer einzigen Frage zusammenfassen: Warum haben wir denn nie genug? Genug an Macht, an Prestige, an Konsum? Es braucht die Verzweiflung und Entschlusskraft des jüngeren Sohnes, um aus der ehrlichen Antwort noch ehrlichere Konsequenzen zu ziehen.

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

Wer könnte dieser bereits vor mehr als 2000 Jahren im neunten Kapitel des biblischen Weisheits-Buches formulierten Erkenntnis nicht zustimmen? Die damalige Epoche scheint der unseren ziemlich ähnlich zu sein: Geldverdienen um jeden Preis, Gewaltherrschaft, Ausbeutung im großen Stil. In einer vom siegreich vorrückenden Römischen Reich geprägten Umbruchszeit, die von tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen begleitet wurde, erkannten die meisten Menschen in der Mittelmeerwelt des zweiten Jahrhunderts vor Christus nur noch „mit Mühe, was auf der Hand liegt“ (Weish 9,16). Von einem übergreifenden „im Himmel“ angesiedelten Sinn ganz zu schweigen (Weish 9,16). - Auch „wir erraten kaum, was auf der Erde vorgeht“. Oder, um es genauer zu sagen, wir leben in einer Welt, die sich so schnell von einer Katastrophe in die nächste bewegt, dass selbst professionellen Pessimisten der Atem stockt. Wie sich verhalten, wenn es scheinbar nur noch ums Überleben geht? Was passiert da aktuell? Gegen Putin, für die Rettung des Klimas, angesichts gesellschaftlicher Zerreißproben im Wochenrhythmus und zeitweilig nach Bedarf abgeschalteter Grundüberzeugungen nicht nur im parteipolitischen Spektrum?

 

Augen öffnen – erlernte Denkmuster überwinden

„Erraten, was vorgeht“. Eine Anleitung dazu könnte der neue Roman der deutsch-schweizerischen Autorin Sibylle Berg mit dem kryptisch anmutenden Titel „RCE #RemoteCodeExecution“ bieten. RCE - das ist die Remote-Code-Ausführung, die den Zugriff auf einen Computer aus der Ferne erlaubt. In der Hauptsache aber geht es um die von ungezählten Millionen Menschen erlernten Denkmuster, die ihnen in naher Zukunft einen Rest an Entscheidungsfreiheit vorgaukeln. Ihnen sollen die Augen geöffnet werden. Geschildert wird eine vergiftete und komplett überwachte Welt, deren Entwicklung von dubiosen Megakonzernen bestimmt wird. Viele Gebiete sind unbewohnbar geworden. Die Regierungen haben die Infrastruktur, das Gesundheitssystem, sogar die Polizei privatisiert. Der größte Teil der Bevölkerung ist verarmt, arbeitslos und zieht sich zurück. Nur die Computerbranche beschäftigt noch Leute. Keiner macht mehr Urlaub. Das eingeführte Grundeinkommen ist ein Witz. Ein Punktesystem für ökologisches Verhalten verteilt warmes Wasser und Energie.  Zornig und zynisch wirft Berg grelle Schlaglichter auf Auswüchse des Turbokapitalismus und die Fehlentwicklungen der westlichen Gesellschaften, in denen Arbeit und das Leben des einzelnen Menschen nichts mehr, Gewinnmaximierung und Kapitalanhäufung hingegen alles bedeuten. In dieser Weltuntergangsmelange findet sich nun eine Gruppe Nerds zusammen und baut ein Medienimperium mit dem Ziel auf, die Welt, wenigstens Europa zu retten: Durch die Übernahme von Netzwerken und in Folge der Meinungshoheit sollen die Menschen so beeinflusst werden, dass sie sich einer Revolution anschließen und es zu dem „Ereignis“ kommt.

 

Irrwitzige Glaubenssätze einer Religion "Ökonomie"

Niemand muss dieses Buch gelesen haben, um als ebenso alarmierter wie verängstigter Gegenwartsmensch in die Bitte des biblischen Weisheitsbuches um die von Gott geschenkte Erkenntnis einstimmen zu können. Mir hilft die Autorin, die Ökonomie der Gegenwart als eine Art Religion mit irrwitzigen Glaubenssätzen wie „Jeder/Jede kann es schaffen“ einzuordnen. Gleichzeitig erkenne ich mich als Teil einer Mehrheit die zunehmend nervös, überfordert und traumatisiert ist: von Corona, dem Krieg gegen die Ukraine und globalen Spannungen, der Inflation, den Benzinpreisen, den Lebenshaltungskosten. Die Lesung dieses Sonntags fordert mich dazu auf, meine Erklärungsversuche für den Zustand dieser Welt kritisch zu hinterfragen. Wenn ich aber tatsächlich etwas von dem errate, was da vorgeht, welche Konsequenz ziehe ich dann? Warte ich auf die Weltrettung durch eine idealistische Hackergruppe oder packe ich selber an und lebe das vom Evangelium, was ich verstanden habe?

 

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

 

Ulm Hauptbahnhof, 9. August 2022, 9 Uhr 35: Gott schaut auf „die Niedrigkeit seiner Magd“. In diesem Fall ist es eine jüngere Frau, die sich zu diesem Zeitpunkt betont unauffällig einem der Mülleimer in der Halle des Ulmer Bahnhofs nähert. Verstohlen greift sie in den Plastikmüllbehälter und angelt wenig später drei Pfandflaschen heraus. Danach verwandelt sie sich wieder in irgendeine Passantin. – Ich habe diese Szene zufällig beim Umsteigen in Richtung Bodensee beobachtet. Ich hätte die Frau aufgrund ihrer relativ normalen Alltagskleidung nicht weiter bemerkt, wäre da nicht in ihrem Auftreten diese auffällige Unauffälligkeit gewesen.

Der Evangelist Lukas lässt Maria beim Besuch ihrer Verwandten Elisabeth einen Lobgesang auf das einzigartige, alle Verhältnisse umkehrende Handeln Gottes anstimmen. In ihrer Freude stellt sie für sich fest, Gott habe auf die „Niedrigkeit seiner Magd“ geschaut. In der traditionellen Auslegung dieser Zeile schien immer klar, dass es hier um ihre Demut und Unterordnung geht. Maria setzt sich, so der Tenor der Kommentare, selbst herab und findet die erwählende Aufmerksamkeit Gottes. Die Folgen dieser Deutung für die Rolle der Frauen in Kirche und Gesellschaft sind hinlänglich bekannt.

Marias Blick für die Menschen

Der griechische Originaltext spricht von Tapeinosis, was primär für gesellschaftliche Geringschätzung, Erniedrigung und Verachtung steht. Und dies im umfassenden Sinn. Das Wort kann politische und soziale Unterdrückung, Armut und Gewalterfahrungen unterschiedlichster Art bezeichnen. Maria gehört zu einem von den römischen Besatzern weithin unterdrückten Volk. Mit und in diesem Volk vertraut sie auf einen Gott, der hinschaut und einen Blick für die Menschen hat, der rettet und Perspektive gibt. Für mich ist das die Hauptaussage des Festtagsevangeliums von Maria Himmelfahrt und zugleich der inhaltliche Kern dieses Hochfestes.

Gott schaut auf die Niedrigen

Was aber bedeutet das für die „Niedrigkeit“ in unserer Gesellschaft? Für die wachsende Zahl der Menschen in Altersarmut, mit schlechten Löhnen oder für die als soziale Verlierer Abgestempelten und Pfandflaschensammlerinnen? Wer in das Loblied Mariens einstimmt, muss nach den aktuellen Mustern der Diskriminierung und Alltagsausbeutung fragen. Vor allem darf er sich nicht an die wachsende Zahl der sozial Deklassierten gewöhnen und ihre Existenz mit einem Schulterzucken hinnehmen. Gott schaut auf die Niedrigen: es geht darum seine Perspektive einzunehmen und Ja zu sagen zu seinem Maßstab für Menschenwürde und Menschlichkeit. Aus dem Blickwinkel der KAB bedeutet dies unter anderem, sich für Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen einzusetzen. Dies beginnt mit ihrer Würdigung als Menschen, die ein Gesicht, einen Namen sowie Geschichte und Zukunft haben.

Zurück in den Ulmer Hauptbahnhof. Die verschämte Armut der nach Pfandflaschen suchenden Frau hat mich beschämt. Es war nicht ihr Stochern im Plastikmüll, sondern ihr Verhalten, das meine Aufmerksamkeit geweckt hat. Längst habe ich mich an den Anblick von Menschen gewöhnt, die wie sie verzweifelt um ein paar zusätzliche Euro ringen. Diese Abstumpfung kommt einem sozial degradierenden Herabschauen gleich. Gott aber blickt, genau genommen, hinauf zur „Niedrigkeit seiner Magd“.

 

Natürlich wurde dieser Sponti-Spruch nicht zur Zeit Jesu, sondern erst in den 80er Jahren geprägt. Dennoch scheint er das Evangelium, in dessen Mittelpunkt die beiden ungleichen Schwestern Marta und Maria stehen, auf den Punkt zu bringen. Wer sich nicht wehrt wie Maria und sich der Hauswirtschaft entzieht, um dann im Kreis der Jünger Jesus zuzuhören, der bekommt wie Marta den kompletten Stress der Zuständigkeit für Gäste, Familie und Haus ab. Allzu schnell übersieht aber diese Deutung, dass Marta nicht weniger emanzipiert als ihre Schwester handelt. Es war für antike Verhältnisse ungewöhnlich, dass eine Frau als Gastgeberin Männer einlud, denn das setzte wirtschaftliche Selbständigkeit und ein eigenes Anwesen voraus. Daher sprechen einige Handschriften von ihrem Haus. Nicht weniger selbstbewusst ist ihr anschließendes Auftreten gegenüber Jesus und ihre Kritik an ihm. Diese Sicht passt natürlich nicht zu einer jahrhundertelangen Auslegungstradition, die Marta auf die Rolle der aufmüpfigen und von Jesus zurechtgewiesenen Hausfrau reduziert. Sie reibt sich aber auch mit einer Deutung, die ihre Schwester Maria als alleinige Pionierin eines selbstverantworteten Frauenlebens feiert.

Daher halte ich es für angebracht, in diesem Nachklang Marta bzw. ihrer Arbeit die Hauptaufmerksamkeit zu schenken. Wer genau hinschaut, wird entdecken, dass Jesus die Hausarbeit von Marta als wichtig und wertvoll würdigt. Mehr noch! Der im Deutschen verwendeten Formulierung „du machst dir viel Sorgen und Mühen“ (Lk 10,41) liegt im Griechischen Original ein Wort zugrunde, das auch die Erwerbsarbeit von Männern und damit die für das eigene Überleben notwendige Arbeit beschreibt. Hierin, so der evangelische Landessozialpfarrer Matthias Jung, liegt die eigentliche Sprengkraft dieses Evangeliums. Bis heute gilt die scheinbar unüberwindbare Ansicht, dass nur Erwerbsarbeit „richtige Arbeit“ ist. Alles „andere“ wie Kindererziehung, Angehörigenpflege und Hausarbeit findet selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts in unserem Land nicht die nötige Wertschätzung, geschweige denn eine adäquate Vergütung. Und diese so genannte „Care-Arbeit“ ist weiblich. Eine Oxfam-Studie von Januar 2020 belegt, dass im weltweiten Durchschnitt Männer für 80% ihrer Arbeit bezahlt wurden, Frauen hingegen nur für 41%. „Das bisschen Haushalt“, das Johanna von Koszian 1977 ironisch in einen Schlager packte, schlägt sich unter anderem darin nieder, dass in Deutschland ein Drittel mehr unbezahlte als bezahlte Arbeit geleistet wird. (Beachten Sie auch den Hinweis unten)

Jesus setzt Erwerbs- und Carearbeit gleich. Wir tun das immer noch nicht. Obwohl uns klar ist, dass unsere Wirtschaft nur funktioniert, weil ständig jemand, kocht, Kinder großzieht und Angehörige pflegt, leugnen wir diese Ebenbürtigkeit. Bevor Arbeiter in Fabriken und Angestellte in Büros Gewinn erwirtschaften können, müssen sie erst einmal geboren, gepflegt, geliebt, erzogen und versorgt werden. Diese Tätigkeiten stellen die Basis jeglicher Ökonomie dar, werden aber als außerökonomische Tätigkeiten abqualifiziert. Unsere Wirtschaftsordnung greift einfach auf sie ohne große Ausgaben zu wie auf eine scheinbar grenzenlos verfügbare natürliche Ressource und beutet sie aus. Schlimmer noch: anders als bei ihrer biblischen Urahnin ist die Situation der Martas von heute so miserabel, dass ihnen meistens die Kraft und die Zeit fehlen, um auf sich aufmerksam zu machen. Und selbst dort, wo Sorgearbeit als Beruf und Lohnarbeit anerkannt wird, sind die Arbeitsbedingungen alles andere als rosig und die Gehälter skandalös niedrig. Wo es geht, spart man am Personal und an der Bezahlung der Arbeitenden. Am schlimmsten trifft es die zumeist osteuropäischen Martas, die in sogenannten „Live-ins“ unter sklavenähnlichen Rahmenbedingungen in der häuslichen Pflege schuften.

Hätten sie aber die Gelegenheit, dann würden die Marta von heute so zu Jesus sprechen: „Kümmert es dich denn gar nicht, dass die Sorgearbeit von Frauen heutzutage wie seit eh und je als dauerverfügbare Ressource gilt, an der vor allem MANN sich beliebig bedienen zu können glaubt? Ist es dir denn egal, dass diejenigen, die gerade während der Coronakrise noch mehr Profite als sonst einstreichen konnten, sich nur minimal an den Kosten für ein durch meine Arbeit wesentlich mitgetragenes soziales Miteinander beteiligen?“ Und vielleicht würde Jesus mit einem Sponti-Spruch erwidern: „Setz dich zur Wehr, sonst endest du prekär!“

Liebe Leserinnen, lieber Leser dieses letzten Nachklangs vor der Sommerpause: von Maria und das von ihr erwählten „guten Teil“ war bislang keine Rede. Jesus bietet auch Marta diesen „guten Teil“ an, bietet ihr an, sich in aller Würde als Mensch weiterzuentwickeln und zu entfalten. Damit dies geschehen kann, müssen die Martas (und ihre männlichen Kollegen) unserer Tage entlastet und ihre Arbeit auf viele Schultern verteilt werden. Ich verstehe dieses Evangelium als Aufforderung, für eine Gesellschaft einzutreten, in der allen die Freiheit einer Maria ermöglicht wird. Dafür müssen die Marias den Martas zumindest den Rücken freihalten. Unsere Verantwortung ist es, Marta Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und sie mit Maria in eine Balance zu bringen. Dann können wir nach „Höherem“ streben, ohne dabei die vermeintlichen Niederungen der Fürsorgearbeit aus den Augen zu verlieren. Und gleichzeitig werden sich in der Carearbeit genügend Freiräume finden, die den Einsatz für eine noch gerechtere und menschwürdigere Wirtschaftsordnung im Sinne des Evangeliums ermöglichen. Eine Wirtschaftsordnung, die jedem Menschen Momente einfachen, zweckfreien Daseins schenkt.

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Wer genau wissen will, wie sich die geleistete Care-Arbeit als Stundenlohn darstellt, der sollte die App WhoCares installieren:
https://whocares-app.de/

 

Ich sehe was, was du nicht siehst. Ein wunderbares, ganz einfaches Kinderspiel. Aber auch Erwachsene erfreuen sich daran. Denn der Kick dieses Spiels liegt im Informationsgefälle unter den Mitspielenden. Im Alltag von Paaren wird aus diesem Spiel schnell Ernst. Bei Erledigungen rund um den Haushalt erweisen sich manche Männer recht häufig als diejenigen, die auch nach einer Viertelstunde nicht dahinterkommen, was ihre Frauen sehen. Beliebte Objekte sind in diesem Zusammenhang überquellende Mülleimer und herumliegende Socken.

Ich sehe was, was du nicht siehst. Der barmherzige Samariter aus der gleichnamigen Geschichte könnte dieses Spiel mit den anderen von Jesus erwähnten Beteiligten spielen. Priester und Levit zeigen uns, wie blind unsere Augen manchmal sind und wie unterschiedlich die Wahrnehmung sein kann. Sehn und wirklich wahrnehmen sind nun einmal zweierlei Paar Schuhe. „Ich sehe was …“ Der Priester, der auf dem gleichen Weg wie der Mann aus Samarien nach Jericho unterwegs ist, „sieht was“, aber im Grunde „sieht er nicht“. Warum passiert das gerade ihm? Schließlich ist er doch Priester, also einer, dessen Auge durch die ungeschönte Darstellung von Unrecht und Gewalt in der Bibel regelrecht geschult sein müsste. Dem ist nicht so. Offensichtlich kommen in seiner Klerikercommunity, kommen in der Blase der Priesterschaft Opfer von physischer Gewalt so nicht vor. Womit wir nie rechnen, weil unser Weltbild es ausblendet, das können wir hartnäckig über-sehen. Wir bekommen schlichtweg nicht mit, dass da etwas passiert ist. Auch in unseren Breitengraden kommt es z.B. immer wieder zu Gewalt gegen Frauen und Kinder. „Häusliche Gewalt“ nebenan und keiner hat’s geahnt oder registriert? Wer sich immer schon sicher war, dass 'so etwas' bei „uns“ nicht vorkommt, wird auch die deutlichsten Anzeichen im Kopf ausfiltern. Auch die vielen Fälle des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker blieben auch deshalb lange verborgen. In diesem Sinn wurden brave Gemeindemitglieder unwillentlich zu Mittäterinnen und Mittätern.

Ich sehe was … Eine andere Art des Sehens (besser Nicht-Sehens) kennzeichnet den unter Termindruck stehenden Tempeldiener, den Leviten. Möglicherweise kann er zwar sehr gut verstehen, was da passiert ist – aber ihm fehlt die Kraft dazu, länger hinzusehen und sich auf die Situation einzulassen. Der Blutende am Wegrand überfordert ihn einfach. Der Levit sieht und versteht was geschehen ist, spürt dass er helfen müsste - und geht dennoch weiter. Ihm fehlt das Vertrauen, dieser Herausforderung gewachsen zu sein. Dabei könnte doch gerade er als Hauptamtlicher aus der Glaubenserfahrung so vieler „Laien“, die zum Tempel pilgern, wissen, dass Gott uns auf seine Weise dabei hilft, in bestimmten Extremsituationen über uns selbst hinauszuwachsen. Wäre es mir denn anders ergangen? Mein Blick ist durch das Dickicht zahlreicher Vorbehalte eingeschränkt: „Was kann ich denn als einzelner schon ausrichten? Das ist für mich eine Nummer zu groß. Oder: Geht es nicht darum, professionelle Hilfe zu organisieren? Oder: Wo anfangen? Beim sichtlich vernachlässigten Kind in der Nachbarschaft an oder lieber doch bei der alten Frau, deren kleine Rente durch die Inflation nun endgültig aufgezehrt wird? Oder: Müsste ich nicht anstatt als abschätzig beäugter „Gutmensch“ herumzudilettieren durch gezieltes politisches Engagement für den großen Wandel sorgen? Am besten ich gründe erst einmal einen Arbeitskreis.

Ich sehe was, was du nicht siehst. Die Kirche an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat was gesehen, was ihr zuvor lange Jahrzehnte entgangen war: Das Elend der sogenannten kleinen Leute und insbesondere die unerträgliche Situation der Arbeiterschaft. Marx und Lasalle hatten schon längst darauf hingewiesen und Lösungen vorgeschlagen. Und nun reagiert sie, wenn auch sehr spät. Nicht zuletzt aus der berechtigten Furcht, immer mehr Gläubige, wie es der damalige Papst Leo XIII. formuliert hatte, „an den Sozialismus zu verlieren“.  Daher riefen die Bischöfe damals dazu auf, möglichst viele Vereine zu gründen, um das Los der Arbeiterbevölkerung zu verbessern. Und heute? Die KAB sieht die ersten Vorboten des sozialen Raureifs kommen, der sich auf unser Land legt und sie erlebt die sich langsam ausbreitende gesellschaftliche Kälte. Sie sieht die schnell wachsende Zahl der Menschen, die in prekären Verhältnissen arbeiten und leben müssen, sieht beengte Wohnverhältnisse und krankmachende Belastungen. Immer mehr Menschen brauchen mehrere Jobs, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Nach wie vor sehen dies viele politische Verantwortliche, aber es scheint so, dass sie nicht wirklich hinschauen.

Für die KAB aber ist Hinschauen, Urteilen und Handeln Pflicht – ansonsten bräuchte es sie nicht. Eine faszinierende Pflicht, denn „im Entdecken, im ‚Sehen’ von Menschen, die in unserem all­täglichen Gesichtskreis unsichtbar bleiben, beginnt die Sichtbarkeit Gottes unter uns, befinden wir uns auf der Spur Gottes.“ (J. B. Metz, Christliche Spiritualität in unserer Zeit, in: Gesammelte Schriften Band 7, Freiburg 2017, 19).

Stefan-B. Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Jesus, ein schlechter Arbeitgeber
Die KAB muss den Umgang Jesu mit den 72 Arbeitern (und ganz sicher auch Arbeiterinnen), die er zur Ernte schickt, aus mehreren Gründen scharf beanstanden. Das geht gar nicht! Jesus als Arbeitgeber setzt seine Belegschaft im Außendienst ganz bewusst einer Reihe von nicht hinnehmbaren Gefährdungen aus. Er verweigert ihnen die nötige Ausstattung für ihren Arbeitsauftrag, ja er verbietet ihnen sogar, sich selber das Nötigste dafür zu besorgen. Im gleichen Atemzug aber wird er nicht müde, die heiklen Umstände dieses Einsatzes (Wölfe!) zu betonen. Des Weiteren ordnet er als Chef an, dass sich seine Mitarbeiter für ihre eigene Versorgung einschließlich Übernachtung bei der Kundschaft sozusagen schadlos halten sollen. Damit noch nicht genug: von einer ausreichenden Vergütung und einem Mitspracherecht bei der Ausgestaltung der Arbeit ist erst gar nicht die Rede. Immerhin ist der Arbeitsauftrag im wahrsten Sinn des Wortes schriftlich hinterlegt und jederzeit aufrufbar, aber vertragsrechtliche Relevanz besitzt er nach unseren Maßstäben natürlich nicht.

Engagement ohne Vertrag
Vielleicht tröstet dieser zugegebenermaßen schräge Blick auf den Evangeliumstext dieses Sonntags all jene ein wenig, die heute in der Kirche mit der Verpflichtung bis zum 70. Lebensjahr unter Akzeptanz einiger „Besonderheiten im Privatleben“, einer hochgradigen Abhängigkeit von ihrem bischöflichen Arbeitgeber sowie mit einem theoretischen Anspruch auf einen freien Tag pro Woche, dafür aber an fast allen Wochenenden im Jahr für das Evangelium beschäftigt sind – und dies genauso wie die 72 Jünger und Jüngerinnen überwiegend ohne Arbeitsverträge und natürlich gewerkschaftliche Vertretung. Gemeint sind die Priester in der Pfarreipastoral und viele Hauptamtliche, denen mit Abstrichen ähnliches abverlangt wird.

Ob es nun die ersten Frauen und Männer im Kreis um Jesus sind, oder wie heute Priester und Ordensleute, Seelsorgerinnen uns Seelsorger, ja alle Menschen, die sich um des Evangeliums willen politisch, sozialethisch oder caritativ in ihrer Gesellschaft mit Herzblut engagieren: sie alle entdecken, dass es dabei nicht auf zuvor vertraglich Vereinbartes, nicht auf Ausstattung mit Hilfsmitteln und Risikomanagement für alle Eventualitäten ankommt. Die Motive für ihr Wirken sind allein ihr wirkliches Interesse am Menschen, eine entwaffnende Vorbehaltlosigkeit und ein leidenschaftsloser, fast schon selbstironischer Umgang mit den eigenen Bedürfnissen.

KAB, mitten im Leben?
Wie lässt sich das für die KAB übersetzen? Ganz naiv nachgefragt: Welches Interesse hat unser Verband an welchen Menschen? Im Sinne der heutigen Lesung (Jes 66,10-14c): Freuen wir uns mit den Frauen und Männern, den Kindern und Jugendlichen in unseren Städten und Dörfern? Auch wenn viele entsprechende Anlässe mit unserem Glauben und Weltbild herzlich wenig zu tun haben: wo sind wir als KAB erkennbar in unserer Mitfreude? Oder verschanzen wir uns sogar bei freudigen Anlässen in unseren noch vorhandenen Räumlichkeiten? Und umgekehrt: versuchen wir das, was uns als Verband froh stimmt, für unsere Umgebung zu übersetzen und laden wir zur Mitfreude ein? Ja es geht hier um die sehr anstrengende Bereitschaft zu Vorbehaltlosigkeit und kollektiver Empathie. Die zielführende Frage im Hintergrund lautet dabei nicht, „wer passt zu uns?“, sondern, „wer braucht uns und bekommen wir das noch mit?“. Sind wir in diesem Sinn ein Verband mitten im Dorf, im Stadtviertel, mitten Leben – oder im wahrsten Sinn des Wortes eine Randerscheinung? Wenn dem so ist, sollten wir wenigstens noch fragen, ob wir nicht den Menschen zumindest in ihren aktuellen Belastungen und in ihrer Bedrückung und Trauer nahe sind. Ganz schlicht gefragt: Was macht unsere KAB traurig? Sind wir lediglich davon erschüttert, dass wir immer weniger werden? Geht es um das Bedürfnis, dass im Verband irgendwann einmal „alles wieder wie früher“ wird und die KAB zur Speerspitze der in der Pfarrei Engagierten gehört, „Arbeiter für Hochwürden“ sozusagen? Sprechen wir deshalb beim Blick auf abnehmende Mitgliederzahlen im Tonfall der von emotionalen Worthülsen geprägten Betroffenheit, mit der der Vorsitzende der DBK alljährlich einen weiteren Rekord an Kirchenaustritten bekannt gibt? Hoffentlich berührt uns mehr, erheblich mehr als das! Sonst nämlich stimmt etwas nicht mit unserer Trauer. Sollten wir feststellen, dass wir vor allem über den Zerfall des Gewohnten traurig sind, ist es höchste Zeit für Veränderung. Denn Jesus hat die Jüngerinnen und Jünger nicht ausgesandt, um Gewohnheiten zu verkünden, sondern das Evangelium.

Empathie
Deshalb muss nun abschließend von der Schlüsselqualifikation der 72 Jüngerinnen und Jünger die Rede sein: es ist die Berührbarkeit. Für uns übersetzt: Die Fähigkeit zu handlungsbereitem Mitgefühl entscheidet über Sein oder Nichtsein der KAB. Die Menschen um uns herum müssen darauf vertrauen können, dass sie bei uns Empathie und Hilfe finden. Sie müssen sich auf unser Sehen, Urteilen und Handeln verlassen können! Wie viele Menschen fühlen sich in einer Arbeitswelt, die durch Corona, Teuerung und den Krieg in der Ukraine geprägt ist, existenziell unsicher und verlieren ihr Vertrauen in die bislang tragenden Strukturen! Wie viele Menschen werden mutlos und unsicher, weil ihnen das stetig wachsende Arbeitstempo und die Anforderungen des Alltags mehr abverlangen als sie geben können!

Die KAB muss in der Treue zur ihrer Ursprungsidee in diesen Zeiten den Betroffenen das tragende Gefühl geben, nicht allein zu sein: ein Verband wie der unsre kann und muss heute beweisen, was Jesus mit der Aussendung in Zweierteams zeigen wollte: Eine Gemeinschaft aus berührbaren Menschen trägt. Geht deshalb zusammen los! Traut euch selbst etwas zu, weil ihr zusammen seid! Habt Vertrauen! Und wo ihr nichts bewirken könnt, da gebt nicht auf, sondern geht weiter.

Stefan-B. Eirich, Präses der KAB Deutschlands