Diese Website benutzt Cookies. Wenn Sie auf "Akzeptieren" klicken, stimmen Sie dem Einsatz von Cookies gemäß unserer Datenschutzerklärung zu.

Darum geht's
KAB ist Katholisch

Auf der Grundlage der Soziallehre der Kirche, insbesondere dem Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip, setzt sich die KAB für einen Sozialstaat ein, der Ausgrenzung beseitigt und den sozialen Aufbau und Zusammenhalt unsere Gesellschaft sichert und fördert.

WIR SCHAUEN HIN!
Politische Spiritualität

Was geschieht, wenn Menschen mit einem wachen Interesse für die Sorgen und Nöte der Gegenwart in der Heiligen Schrift lesen oder am Sonntag in der Kirche biblische Texte hören? Was passiert, wenn sie es zulassen, dass das Gelesene und Gehörte ihren Blick auf die Welt und ihr Handeln in ihren Lebenswelten beeinflusst? Dann entdecken sie, dass Gott von vornherein jedem Menschen Würde verliehen hat und gutes Leben für alle will. Und sie begreifen, dass sich Leben und Glauben nicht trennen lassen, sondern sich gegenseitig beeinflussen.

Bundespräses Stefan-Bernhard Eirich ist davon überzeugt, dass jede der biblischen Lesungen in der kirchlichen Sonntagsliturgie von gesellschaftlicher und politischer Relevanz ist. Diese Texte müssen im Alltag nachklingen und sich auswirken. In ihrer Auslegung plädiert Eirich mit Leidenschaft für eine Kirche, die mit Rat und vor allem Tat für die Ängste und Probleme, aber auch die Glücksmomente und Hoffnungen der Menschen da ist. Dabei darf sie ruhig anecken.

WORT in Bewegung

Wir haben einander viel zu verzeihen – Nachklang zu 33 Jahren Deutsche Einheit

Im kollektiven Gedächtnis klingt dieser Satz etwas anders und zielte ursprünglich auf eine hoffentlich bald bessere Zukunft ab. „Wir werden einander viel verzeihen müssen“, prophezeite der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mitten in der Corona-Zeit im Herbst 2020. Drei Jahre später, in den ersten Monaten nach der Pandemie ist kaum noch davon die Rede. Lockdown und die Hierarchisierung der Gesellschaft nach Impfgruppen samt den damit einhergehenden Konflikten scheinen dem allgemeinen Vergessen überantwortet zu sein. Andere Großkrisen brauchen jetzt unsere Aufmerksamkeit und unsere Emotionen. Schade! Eine funktionierende Demokratie lebt nun einmal davon, dass Fehler eingestanden, aufgearbeitet und schlussendlich auch verziehen werden.

 

Nicht-Zuhören als Schuld

Wir haben einander viel zu verzeihen. Im Kontext der deutschen Wiedervereinigung fällt dieser Satz leider kaum. Für mich als Zeitzeugen aber ist die gegenseitige Vergebung eine der zentralen Schlussfolgerungen, die sich zwingend aus 33 Jahren deutsch-deutschem Zusammenwachsen ergeben muss. Sprachlos nehme ich die ungezählten im Raum stehenden Anklagen wahr, die Anlass zu einer schier endlosen Verlängerung von Projektionen, Vorwürfen und Gegenanklagen sind. Sie werden nie aufhören, solange der „Westen“ dem „Osten“ nicht genügend Gehör schenkt. Die ARD-Journalistin Jessy Wellmer gibt daher in ihrer Reportage unter dem Titel „Hört uns zu!“ ostdeutschen Stimmen Raum, die in einem zornigen Ton den Westen, seinen Umgang mit dem Osten und eigene Diskriminierungserfahrungen anprangern. Hier kommt vieles zur Sprache, was in der deutsch-deutschen Realität verdrängt, ja teilweise sogar tabuisiert wurde und wird: längere Arbeitszeiten, geringere Gehälter, die westliche Dominanz in Führungsetagen und die ungezählten Traumata in und nach der „Wendezeit“. „Besserwisser“ und „Besserwessi“ klingen nicht nur gleich, sie sind es auch angesichts eines jahrzehntelangen „Nachhilfeunterrichts“ aus dem Westen in allen lebensrelevanten Fragen und weit darüber hinaus.

 

Der „Ost-Stempel“

Mich wundert es daher nicht, dass die geharnischte Streitschrift des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann, „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“ seit Monaten auf der Spiegel-Bestseller-Liste steht. Oschmann wirft dem „Westen“ nichts Geringeres vor, als die Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR seit jeher den abwertenden Stempel „Ost“ verpasst zu haben. Seit der Wiedervereinigung sei es nicht um den „konkreten historischen, geografischen Osten mit den Millionen verschiedenen Menschen und verschiedenen Lebensentwürfen“ gegangen. Stets habe „der Westen den Osten als monolithischen diskursiven Block zugerichtet, … von dem er schon immer meint zu wissen, was da vor sich geht“, resümiert Oschmann.

 

Verzeihen anstatt „Rechthaben“

Schriften wie diese ziehen ihre ungeheure Popularität daraus, dass sie die tiefe Ohnmachtserfahrung vieler Menschen ins Wort bringen und ihnen das Gefühl geben, mit ihrer seit Langem aufgestauten Wut absolut im Recht zu sein. Fehler und Schlimmeres haben sowieso nur die anderen begangen. Eine Geschichte des Verzeihens beginnt erst dort, wo eigenes Versagen in den Blick kommt. Letztendlich stellt Verzeihen das Gegenteil von Rechthaben dar. Wenn ich jemand um Verzeihung bitte, dann darf und muss er bzw. sie wissen, dass meine Entscheidung oder mein Verhalten falsch gewesen ist. Gleiches gilt auch für mein Gegenüber. Schuld ist aber nicht gleich Schuld. In der gegenwärtigen Atmosphäre hochgiftiger Anschuldigungen muss daran erinnert werden, dass die politischen Akteure von 1989/90 nicht in die Zukunft blicken konnten und ihre Entscheidungen auf der Basis von sehr begrenztem Wissen treffen mussten. Im Nachhinein ist man/frau natürlich immer schlauer. Die Erkenntnis besserer Alternativen aus der Retroperspektive gehört daher zum Schuldeingeständnis und zum Verzeihen. Die größere Schuld aber besteht nicht selten darin, überhaupt keine Entscheidung getroffen zu haben.

 

Meine Mitschuld

Wir müssen einander viel verzeihen! Mit meinem Impuls will ich nichts schönreden oder relativieren. Ganz im Gegenteil! Ich möchte dazu beitragen, dass es immer mehr Menschen möglich wird, ihre Fehler, Versäumnisse und Versagen im Kontext der Wiedervereinigungsgeschichte einzuräumen und so endlich den Blick nach vorne freizubekommen. Ein Vorbild ist für mich der Stuttgarter Philosoph und Publizist Matthias Gronemeyer, der kurz nach der „Wende“ versuchte, seinen verrosteten Polo zwei Jugendlichen aus „dem Osten“ für einen Wucherpreis anzudrehen. Heute sieht er dies kritisch: „Nicht eine Minute indes hatte ich darüber nachgedacht, mein Abzockversuch könne irgendwie unrecht, wenigstens aber unanständig sein. Was sollte auch daran falsch sein, schlau, gewieft und gewitzt zu sein?“ Gronemeyer erkennt an, durch sein damaliges Verhalten das Narrativ von der Abzockgeschichte des „Ostens“ mit befeuert zu haben. Daher gilt nicht nur für ihn: „Wir sind Antworten schuldig. [34] Jahre nach dem Mauerfall wird es daher Zeit zu sagen: Auch ich! … Und so sollte sich jeder fragen, ob nicht auch er Anlass hat zu sagen: Auch ich.“

Schon allein deshalb werden wir einander noch sehr viel verzeihen müssen!

 

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlan

HELLWACH FÜR MENSCHENWÜRDE UND GERECHTIGKEIT

Nikolaus-Groß-Gedenken der KAB 2023

Bei jedem Gang zu meinem Arbeitsplatz im Kettelerhaus schaut er mich immer wieder durchdringend an: Nikolaus Groß. Und häufig wird mir dann für einen Augenblick lang bewusst, dass ich jetzt seine Wirkungsstätte betrete – die Verbandszentrale der KAB, wo ich nun mehr als 90 Jahre nach ihm arbeiten darf. Hier mitten im Kölner Agnesviertel zeichnete Groß für die „Westdeutsche Arbeiterzeitung“ verantwortlich. Wie kein zweiter hat er dieses wichtige Printmedium der Weimarer Republik geprägt, das Mitte der 20er Jahre eine Auflage von 170.000 und im Jahr vor Hitlers „Machtergreifung“ immer noch beeindruckende 145.000 Exemplare erreicht hatte. Obwohl er kein gelernter Journalist war, gelang es Groß vortrefflich, den katholischen Arbeitern bzw. Arbeiterinnen und ihren Familien über mehr als ein Jahrzehnt politische und geistliche Orientierung in vielen Fragen der Gesellschaft und der Arbeitswelt zu vermitteln. Für ihn stand dabei außer Frage, dass soziale Aufgaben und eine bodenständige Spiritualität auf das engste zusammenhingen.

Frühe Warnung vor „politischer Unreife“

Groß sieht seine Zeit und Welt mit den Augen eines ebenso tiefgläubigen wie hellwachen Menschen. So verwundert es nicht, dass er sich recht bald ein klares Urteil über den heraufziehenden Nationalsozialismus bildet. Ihm geht es in Anlehnung an sein Vorbild, den „Arbeiterbischof“ von Ketteler um die Bildung und Entwicklung von Gesinnung und Gewissen der Arbeiter und Arbeiterinnen. Nur so kann der Aufbau einer Gesellschaft gelingen, in der die Achtung der Menschenwürde und die Wertschätzung der Arbeit eine zentrale Rolle spielen. Die Realität der späten 1920er Jahre ist davon weit entfernt! Groß zeigt sich betroffen angesichts der ersten großen Kommunalwahlerfolgen der Nationalsozialisten und beklagt die weitverbreitete „politische Unreife“ in der deutschen Gesellschaft. Er ist tief besorgt über den hier zutage tretenden Mangel an Urteilsfähigkeit. Wenig später, im Jahr 1930, kennzeichnet er die Nazis als “Todfeinde des heutigen Staates”. Ausdrücklich hält er fest: “Wir lehnen als katholische Arbeiter den Nationalsozialismus nicht nur aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, sondern entscheidend auch aus unserer religiösen und kulturellen Haltung entschieden und eindeutig ab.”

Populistisch einfache Antworten auf komplexe Gesellschaftsfragen

Wie würde Groß die gegenwärtige politische Lage in Deutschland beurteilen und was würde er uns, sprich seinem Verband heute ins Stammbuch schreiben? Eine Predigt ist sicherlich nicht der geeignete Ort für ausführliche politische Analysen. So wollen wir einfach auf das hören, was Groß uns Heutigen zu sagen hätte. Vielleicht dies:

„Seid in eurer von permanenten Krisen und inflationärer Gewaltanwendung geprägten Gegenwart hellwach für die grassierende Infragestellung der Würde des Menschen und den Wert seiner Arbeit!“ Unsere Rückfrage an ihn: Wofür genau sollen wir denn wie Du aufmerksam sein, wo sollen wir wie Du Alarm schlagen und wem bzw. was sollen wir uns, weil wir ein christlicher Verband sind, entgegenstellen? Möglicherweise würde Groß antworten: „Wenn ihr genau hinschaut, dann seht ihr, wie der Druck auf eure Gesellschaft und das demokratische Zusammenleben in ihr immer mehr wächst. Von außen geschieht das durch Autokraten und totalitäre Regime, die Krieg und Gewalt wie selbstverständlich für die Durchsetzung ihrer Interessen weltweit anwenden. Im Inneren wächst bei euch der Druck durch jene, die ähnlich wie in meiner Zeit auf die schwierigen Fragen eurer unüberschaubar komplizierten Gegenwart verlockend einfache und bequeme Antworten anbieten. Aber diese simplen Antworten haben einen hohen Preis. Sie ziehen ihre Attraktivität aus der Zermürbung des Vertrauens in die Demokratie. Denn in einer Atmosphäre wachsender Gewalt setzen sie unverblümt auf das Recht des Stärkeren und gleichzeitig auf die zersetzende Kraft der Gleichgültigkeit der überforderten Massen.“

Die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren

Und er würde uns zugleich ermutigen und ermahnen: „Eure Demokratie lebt mehr als ‚meine‘ Weimarer Republik davon, dass nach wie vor viele Menschen für die Werte eintreten, die unter anderem in eurem Grundgesetz beschrieben sind. Es geht im Kern immer um die Stärke des Rechts und nicht um das Recht des Stärkeren. So unterscheiden sich grundlegend Zivilisation und Barbarei. Es ist eure Generation und teilweise die eurer Eltern, der die Demokratie und die Chancen einer freien Welt neu geschenkt wurden. Steht für sie ein!“

Kein Wir ohne Ihr

Groß kennt die verführerische Sehnsucht nach den haltgebenden Gewissheiten vergangener Zeiten, die plötzlich nicht mehr gelten. Es scheint auch in einem der Gegenwart verpflichteten Verband der KAB legitim, nach überkommenen Werten Ausschau zu halten. Dies umso mehr, als wir eine nachgerade permanente Infragestellung und Umbewertung fast aller Werte erleben. In der Tat: Aus der Kraft der Erinnerung wächst immer auch eine neue Stärke für die Jetztzeit. Aber unser Verband muss sich dort eindeutig verweigern, wo in der Vergangenheit eine Gemeinschaft und ein „Wir“ ausgegraben werden, das es so nie und nimmer gegeben hat. Ein „Wir“ auf Kosten derer, die nicht zu diesem ‚Wir‘ gehören sollen. Für uns muss gelten: Kein Wir ohne Ihr!

Steht für die Hoffnung und nicht die Angst in eurer Gesellschaft!

Ganz sicher wäre es Groß noch wichtig, uns zwei hilfreiche Mahnungen für unseren heutigen Weg als Verband mitzugeben:

„Erstens. Als KAB steht ihr nicht für die Angst, sondern für die Hoffnung in eurer Gesellschaft. Euer Einsatz für das Zusammenleben der Menschen, ihre Würde und Arbeit gründet schließlich im Vertrauen auf einen Gott, der nicht Angst und Schrecken verbreitet, sondern Zuversicht: die Zuversicht, dass bei der Lösung der Probleme eurer Zeit keine Weltuntergangsstimmung oder die Verbissenheit der Generation kurz vor dem vermeintlichen Weltuntergang um sich greifen muss und darf. Geht in Ruhe und mit ernsthafter Gelassenheit die Probleme eurer Gesellschaft an. Und begegnet allen Menschen mit ihren Nöten und Sorgen, wirklich allen Menschen, mit Respekt.

Gerechtigkeit im Sinn von Solidarität und Mitgefühl

Zweitens. Es genügt nicht, mit Gewerkschaften und anderen passenden Partnern für eine bessere Gesellschaft aufzutreten und zu wirken. Euch muss es um eine größere Gerechtigkeit gehen! Ihr findet sie im heutigen Tagesevangelium, der Geschichte von den Arbeitern im Weinberg, beschrieben. Gottes Gerechtigkeit durchbricht diesen Zusammenhang von Leistung und Lohn durch den Blick der Güte. Die Güte schaut nicht in die Vergangenheit und fragt: ‚Was hast du geleistet?‘ Sie blickt in die Zukunft und erkundigt sich ohne Ansehen der Person danach: „Was brauchst du zum Leben?‘ Stemmt euch daher mit aller Macht gegen die Entsolidarisierung in eurer Gesellschaft! Wehrt euch dagegen, wenn Menschen in ihrer unterschiedlichen Bedürftigkeit gegeneinander ausgespielt. Denn in diesem unwürdigen Spiel hat der verloren, der sich nicht wehren kann.“

Kurzum, wenn man uns als KAB daran erkennt, dass wir für die Gerechtigkeit im Sinn der Solidarität und des Mitgefühls eintreten, dann haben wir alles richtig gemacht. Und ich kann weiterhin dem fragenden Blick von Nikolaus Groß am Haupteingang des Kettelerhauses standhalten.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Lieferkette Glaubensgemeinschaft Nachklang zum 24. Sonntag im Jahreskreis (A)

Wenn es ans Eingemachte und damit um die Zukunftsfähigkeit des christlichen Glaubens geht, ist auch der Völkerapostel Paulus in seinem ansonsten schwer verständlichen Brief an die ersten Christinnen und Christen in Rom klar und eindeutig: Christentum gibt es nur in Gemeinschaft. „Keiner lebt für sich selber und keiner stirbt für sich selber.“ Leben und Sterben geschehen in Christus. Christus aber ist Mitte und Ziel der Gemeinschaft derer, die sich in ihrem Leben an seinem Wort und Beispiel orientieren.

Diese Gemeinschaft lebt nach – rein äußerlich betrachtet – sehr eigenartigen Grundsätzen. Hier geben nicht die den Ton an, die sich gut durchsetzen und präsentieren können, sondern ganz andere: Menschen, die auf unterschiedlichste Hilfe angewiesen sind; Menschen ohne Einfluss und Ansehen; Menschen, die gerne übersehen werden. Von Anfang an ist hier der Rand die Mitte. Paulus wird nicht müde, in seinen Briefen eine besondere Sensibilität für diese Menschen einzufordern und macht konkrete Vorschläge für ein an ihnen orientiertes Zusammenleben. Die Glaubwürdigkeit einer Gemeinschaft entscheidet sich nun einmal am Umgang derselben mit ihren schwächsten Gliedern. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für heutige Formen kirchlichen Zusammenlebens, sondern auch und vor allem für eine christliche Positionierung zu brandaktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Themen.

 

Es ist nicht egal, wenn Menschen in Randlage geraten

„Ich lebe nicht für mich selber“: deshalb ist es mir alles andere als egal, wenn immer mehr Menschen durch die hohe Inflation und steigenden Zinsen zusehends in eine gesellschaftliche Schief- und damit Randlage geraten. Und noch weniger lässt es mich kalt, wenn hierfür in der Manier grober Politikschelte nach immer einfacheren Ursachen und Schuldigen gesucht wird. Es besorgt mich im Innersten, dass sich mittlerweile ein Fünftel der Wahlberechtigten in unserem Land mit rechtspopulistischen Parolen zufriedengibt. „Ich lebe nicht für mich selber“: daher blicke ich nicht nur auf mein Land, sondern sehe mit Ernüchterung, wie langsam nach wie vor bei uns das Bewusstsein für die Lebensbedingungen der Menschen in jenen Ländern unseres Planeten wächst, die für unseren Wohlstand arbeiten.

Als Christ unterstütze ich daher das von vielen kirchlichen Organisationen, Umweltinitiativen und unseren Gewerkschaften mitgetragene Lieferkettengesetz. Denn ich bin ein Teil dieser Kette und ich möchte wenigstens einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass Menschen vor Ausbeutung und unwürdigen Arbeitsbedingungen auf der ganzen Welt geschützt werden. Es reicht eben nicht, wenn Konzerne zwar in meinem Land eine gute Ökobilanz ausweisen, ihre Produkte aber anderswo auf der Welt ohne Rücksicht auf Umwelt und Mensch produzieren lassen. Für mich zählt (siehe Paulus) maßgeblich das schwächste Glied. „Ich lebe nicht für mich selber“: aus diesem Grund gilt mein Dank schließlich all jenen, die bei vergleichsweise geringem Lohn im Sozial- und Pflegebereich Großartiges für das Wohl von Mensch und Gesellschaft leisten. Ich setze mich für im Rahmen der KAB dafür ein, dass diese Menschen, die für das Wohlergehen der anderen schuften, nicht in Altersarmut geraten dürfen.

Kurzum: Christinnen und Christen sollten in jedem Fall zu denen gehören, die in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen denken und leben. Sie sind ein wichtiger Teil der von Jesus gestifteten „Lieferkette“ eines gelingenden, eines Lebens in Fülle.

Stefan Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Das unübersetzbare griechische Wort „psyche“

"Wer sein Leben retten will, wird es verlieren" (Mt 16,26). Mich stört, ja mich ärgert an diesem Schlüsselsatz aus dem aktuellen Sonntagsevangelium, dass es anscheinend nur um das Leben der bzw. des Einzelnen geht. Übersetzt man dann noch das zugrundeliegende griechische Wort „psyche“ mit „Seele“, landet man endgültig in der spirituellen Sackgasse ichbezogener Heilssuche. Gottseidank ist hier dann sofort von der Gefahr des Verlierens die Rede! Ich kann mein Seelenheil also nicht für mich einheimsen und es wie einen Besitz für mich behalten. Der Begriff „psyche“ zeigt sich als sperrig und (fast) unübersetzbar. Klar aber ist: Beim Heil meiner „psyche“ geht es sprichwörtlich um alles. Um mich als ganzen Menschen, um den innersten Kern meiner Person, um meine Werte, um meine Lebendigkeit und die Vielfalt meiner Lebensbezüge. Wenn ich an meiner „psyche“ Schaden nehme, dann hat dies folglich Auswirkungen weit über mich hinaus.

Vertrauen - die „psyche“ der Gesellschaft

Im übertragenen Sinn besitzt auch eine Gesellschaft so etwas wie eine „psyche“, d.h. ein Lebensprinzip, das sie im Innersten zusammenhält. Was geschieht aber, wenn dieser „psyche“ Schaden droht oder sie gar verloren geht? Von mehr oder weniger deutlichen Anzeichen für diese Entwicklung sprechen immer wieder Umfragen, in denen es um Werte, Zukunftsaussichten und Ängste in unserem Land geht. Im Januar veröffentlichte das international renommierte Edelman-Trust-Institute sein „Barometer“ für 2023(1). Hier wird deutlich, dass das Lebensprinzip unserer, aber auch jeder anderen Gesellschaft das gegenseitige Vertrauen ist. Dies aber wird bedroht durch die weitverbreitete Angst um den eigenen Arbeitsplatz (80% der Befragten), vor der Inflation (69%) und vor Nahrungs- und Energieknappheit (61%). Ängste, die den und die einzelne auf sich selbst zurückwerfen. Viele sehen daher den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland gefährdet. Zwei Drittel der Befragten (70%) beklagen, dass der Mangel an gegenseitigem Respekt noch nie so groß war. Kaum geringer ist die Zahl derer, die meinen, dass das soziale Gefüge zu schwach ist, um als Grundlage für Einigkeit und gemeinsame Ziele zu dienen. Somit kommt ein Teufelskreis in Gang. Denn die Folge ist unter anderem, dass viele sich zurückziehen und nicht mehr engagieren wollen. Andere wiederum gelangen zu der Überzeugung, dass es auf sie nicht mehr ankommt.

„Seel“-Sorgerinnen und -Sorger gesucht

Dabei brauchen wir mehr denn je Menschen, die sich um die „psyche“, um die „Seele“ unserer Gesellschaft sorgen und kümmern. Wir brauchen Seelsorgerinnen und Seelsorger im umfassenden Sinn des biblischen Wortes „psyche“. Menschen, die sich um die eigene und die Seele anderer sorgen und Sorgen machen. Menschen, die begreifen, dass sie am besten für ihre „psyche“ Sorgen tragen, wenn sie Aufmerksamkeit und Achtung schenken und (in einem der nach wie reichsten Länder dieser Welt!) für einen realistischen, vielleicht sogar ab und an dankbaren Blick auf unsere Lebensumstände eintreten.

Der portugiesische Schriftsteller José Samarago sucht in seinem 1995 geschriebenen Roman „Die Stadt der Blinden“ Antworten auf die Frage nach der „Seele“. Die Bewohner der Stadt verlieren nach und nach ihr Augenlicht. Die Blindheit steht dabei für die blinde Vernunft, mit der das alltägliche Leben abläuft. Ein junges Mädchen sagt zu einem alten Mann: „Wenn ich eines Tages wieder sehen kann, werde ich in die Augen der Menschen schauen und ihre Seele darin sehen.“ „Seele?“, fragt der Alte zurück.
„Ja – in jedem von uns ist etwas, das keinen Namen trägt und dieses etwas, ist das, was wir sind. Die Seele ist das, was uns zu moralisch handelnden, zu humanen Wesen macht. Wir müssen jeden Tag neu um unsere Seele ringen, das heißt uns fragen, ob wir richtig handeln.“

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) https://www.edelman.de/sites/g/files/aatuss401/files/2023-01/Pressemitteilung_Edelman%20Trust%20Barometer%202023_Report%20Deutschland_k_Website.pdf

„Helden des Rückzugs“ – Ein Nachklang zum 21. Sonntag (A) 2023

„Stein, Holz, Marmor, Kunststoff: Der Am-Stuhl-Klebstoff ist vielfältig einsetzbar und verbindet verschiedene Materialien zuverlässig – ganz gleich, aus welchem Material Ihr Bürgermeisterstuhl ist. Insbesondere starre und halsstarre Materialien lassen sich mit dem Klebstoff verbinden und garantieren auch bei heftigstem und dauerhaftem Gegenwind eine verlässliche Haftung. Handelsübliche Lösungsmittel wie etwa ein Rücktritt funktionieren beim Am-Stuhl-Klebstoff auch bei mehrmaliger Forderung nicht.“(1) Anlässlich der Auseinandersetzungen um den (Nicht-)Rücktritt des Frankfurter Oberbürgermeisters Peter Feldmann hat Stephan Reiche vom Hessischen Rundfunk in einer wunderbaren Glosse beispielhaft das Beharrungsvermögen von Menschen in Führungspositionen aufs Korn genommen und damit eine ganze Riege von im Amt verbrauchter, korrumpierter oder einfach nur überalterter Personen karikiert. Diese werden garantiert nicht als Heldinnen und „Helden des Rückzugs“ (H.M. Enzensberger) in die Geschichte eingehen.

Totalanspruch des Amts

Wer aber ist beispielsweise ein solcher „Held des Rückzugs?“ Es überrascht, wer damit gemeint sein könnte. „Beachten Sie, sämtliche Kontaktoberflächen präzise mit der Klebemasse zu benetzen, damit eine irritierend feste Verbindung entsteht“, spottet Stephan Reiche weiter. Die festeste Verbindung von Person und Amtsstuhl bzw. Thron überhaupt schien bis vor wenigen Jahren beim Papsttum gegeben, dessen Einsetzung durch Jesus mit dem heutigen Evangelium als Schlüsselstelle (im wahrsten Sinn des Wortes!) belegt wurde und wird. Im Laufe der Kirchengeschichte entwickelte sich auf dieser Grundlage ein derart übermächtiges Amtsverständnis, dass die Fragen nach der Qualifikation, der psychischen und gesundheitlichen Eignung des jeweiligen Amtsinhabers zeitweilig kaum noch ins Gewicht fielen. Der Totalidentifikation mit dem Amt musste und müssen Person und Persönlichkeit weichen. Vor diesem Hintergrund war ein Rücktritt so gut wie undenkbar. Die Amtszeit endete mit dem Tod des jeweiligen Papstes. Erst Benedikt XVI hat durch seine Entscheidung für den Amtsverzicht neue Maßstäbe gesetzt. Er ist ein „Held des Rückzugs“ und stellt m.E. ein überragendes Vorbild für all jene dar, die meinen, auf Amt und Würden nicht verzichten zu können, weil sie es scheinbar nicht dürfen.

Stuhlklebementalität

Manche Vorstände an der Spitze von Verbänden und Vereinen sind in diesem Sinn verglichen mit Papst Benedikt „päpstlicher als der Papst“. Denn anders als er lassen sie den richtigen Zeitpunkt für einen Rücktritt ohne Gesichtsverlust verstreichen. In ihrer „Stuhlklebementalität“ ignorieren sie konsequent jedes noch so eindeutige Alarmzeichen: die Überalterung der Vereinsmitglieder, sich häufende Austritte, die unumgängliche Fusion mit anderen Ortsverbänden oder das Siechtum des eigenen Vereins. Immer wieder scheinen Vorsitzende trotz unbestreitbar großer Verdienste für „ihren“ Verein nicht begreifen zu können, dass z.B. mit zunehmendem Alter ihre Leistungsfähigkeit abnimmt und sie fast nur noch in ausgefahrenen Geleisen unterwegs sind. Ihnen fällt kaum noch auf, dass es stets die gleichen Menschen in ihrem Umfeld sind, die ihnen Lob und Anerkennung zollen. Alles ist immer mehr auf die immer gleiche Person an der Spitze ausgerichtet und alles gleicht sich dem vom Vorstand vorgegebenen Trott an. Von außen entsteht der Eindruck, dass dieser einem intellektuell nicht mehr nachvollziehbaren Unentbehrlichkeitskult huldigt. Die Totalidentifikation mit dem einst übernommenen Leitungsamt geht so weit, dass am Ende das Schwinden der eigenen Kräfte auf den gesamten Verein projiziert wird und dieser sich „idealerweise“ zeitgleich mit dem schließlich dann doch erfolgenden Ausscheiden des Vorstands auflöst. - Ein rechtzeitiges Gegensteuern und das Zulassen überlebensnotwendige Kritik wird durch diese Art der Blasenbildung bereits im Keim erstickt. Vor allem jüngere Leute, die die Idee und Zielsetzung eines Vereins an und für sich überzeugend finden und sich gerne in die Verantwortung nehmen ließen, verlieren schnell die Lust oder wenden sich sofort wieder ab. Dann beklagen die Alten, dass sich niemand mehr finden ließe und deshalb müssten sie bis zum "geht-nicht-mehr" weiter machen und sich erst auf der Totenbahre aus dem Amt tragen lassen.

Charakterstärke

Daher habe ich großen Respekt vor all jenen, die die nötige Bescheidenheit und Demut aufbringen, gerade nach erfolgreichen Jahren in der Leitung ihr Amt rechtzeitig zur Verfügung zu stellen. Sie leisten dem Fortbestand „ihres“ Vereins bzw. Verbands einen großen Dienst. Vielleicht haben sie sich gefragt, was passieren wird, wenn ihre Kräfte nachlassen, wenn sich Fehler einschleichen und immer mehr Aufwand für deren Korrektur nötig ist („Zu viel zerbrochenes Porzellan lässt sich auch mit dem Am-Stuhl-Klebestoff nicht mehr kitten“). Vor allem aber wissen sie von Anfang an, dass sie nur auf Zeit gewählt sind, ganz ohne göttliche Einsetzung in ihr Leitungsamt. Nichts schadet dem eigenen Ansehen und dem des Vereins (noch viel) mehr, als der Eindruck, dass es an der Spitze nur noch um Machterhalt und Einfluss um jeden Preis geht. Natürlich ist es schwer, nach vielleicht über 40 Jahren als Vereinsvorsitzender loszulassen. Es ist ein eindeutiges Zeichen persönlicher Charakterstärke und der Lebendigkeit des Vereins, freiwillig zu gehen und einem Neuen, einer Neuen rechtzeitig Platz zu machen. Mit dem offenen und unaufgeregten Eingeständnis, dass die eigene Zeit abgelaufen ist und ehrlichen Segenswünschen für die nachfolgende Generation. Es gibt auch ein Leben nach dem Amt.

Hoffentlich wird die noch recht kleine Schar dieser Heldinnen und „Helden des Rückzugs“ in der Zivilgesellschaft, in der Kirche – und auch in einem Verband wie der KAB immer größer!

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1)https://www.hessenschau.de/politik/war-was-peter-feldmann--gebrauchsanweisung-fuer-am-stuhl-klebstoff,feldmann-klebstoff-100.html

Mauerspechte gesucht! – ein Nachklang zum 20. Sonntag (A) 2023

Erinnern Sie sich noch an die „Mauerspechte“? Unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer hatten sich Hunderte von Menschen darangemacht, das Symbol jahrzehntelanger Trennung und Abschottung zu zerstückeln. Ebenfalls als „Mauerspechte“ wirken im übertragenen Sinn der in den Schriften des Jesaja überlieferte unbekannte Prophet Mitte des 6. Jahrhunderts v.Chr. und ein halbes Jahrtausend später der Evangelist Matthäus, - sprich die Autoren der ersten Lesung und des Evangeliums an diesem Sonntag.

Identität durch gleiche Menschenwürde

Der namenlose Rufer warnt und fordert zugleich in Namen Gottes: „wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit … Mein Haus wird ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden“ (Jes 56,1.7). Der höchstwahrscheinlich am Ende bzw. kurz nach dem sogenannten babylonischen Exil wirkende Prophet wendet sich an ein Volk, das seiner Nationalität beraubt und zerschlagen worden war. Nun stellt sich die dringende Frage, ob neue Mauern, die die überkommenen Ressentiments und Abgrenzungen aus der Zeit vor der Verschleppung in die Verbannung fortgesetzt werden sollen. Denn Identität scheint nur durch neue Grenzziehungen möglich. Doch genau diesem verführerischen Ansatz stellt sich der Prophet dezidiert entgegen: nicht neue-alte Grenzen kennzeichnen die Einmaligkeit des Volkes Gottes, sondern dessen Haltung gegenüber den Fremden. Diese sind eben nicht einfach die „anderen“ oder die Gegner, sondern Menschen mit der gleichen Würde, dem gleichen guten Willen. Und den gleichen Rechten! Wer auch immer diese Zeilen verfasst hat: Er beschreibt hier eine ungeheure religiöse und kulturelle Entwicklung. Der Fremde genießt das gleiche Recht wie ich, er hat z.B. den gleichen Anspruch auf die Ruhepause des Sabbats wie ich. Vor allem aber: Ihm gegenüber habe ich mich zu verhalten wie gegenüber einem mir nahestehenden Menschen. Um es zuzuspitzen: Hier stehen Achtung gegen Missachtung, Vertrauen gegen Misstrauen, Akzeptanz gegen Ablehnung, Teilen gegen Abgrenzung und Gemeinsamkeit gegen Ausgrenzung.

Offenheit als ständiger Lernprozess

Auch der Evangelist Matthäus schreibt inmitten der Nachwirkungen einer Katastrophe: Im Jahr 70 zerstören die Römer den Tempel in Jerusalem und damit den Mittelpunkt bisheriger jüdischer Identität. Abgrenzung und Abschottung kennzeichnen die Suche nach einem neuen Selbstverständnis. Der religiöse und nationale „Mauerbau“ ragt tief in die judenchristlichen Gemeinden hinein, für die der Evangelist wirkt. Gegen ihre Berührungsängste und als Motivation, sich vor dem Fremden nicht zu verschließen, schreibt Matthäus von der Begegnung Jesu mit der Ausländerin. Es befremdet mich stark, wenn der Evangelist schildert, mit welcher Vehemenz Jesus sich in dieser Situation hinter einer nationalen und religiösen Grenzmauer verschanzt. Gleichzeitig lässt mich die Schlagfertigkeit schmunzeln, mit der diese Frau als „Mauerspechtin“ vorgeht. Mit entwaffnender Selbstironie dreht sie das übliche Hunde-Schimpfwort für Heiden ins Positive um. Matthäus schildert damit pointiert den Lernprozess Jesu, den alle, die ihm nachfolgen wollen, immer wieder durchlaufen müssen: Die Botschaft vom befreienden und grenzüberwindenden Gott gilt allen Menschen.

Mauerspechte heute

Natürlich ist dies in einer politisch so aufgeladenen Zeit wie der unseren hochbrisant. Die rechtspopulistische Abgrenzung gegen alles zuvor als „fremd“ Stigmatisierte und Herabwürdigung des „Befremdenden“ stellen das Gegenteil der Frohen Botschaft dieses Sonntags dar. Gleiches ist von der zugrundeliegenden Ideologie zu sagen, die den Eigen- und Gruppennutzen über die personale Würde eines Menschen setzt. Dies gilt auch gerade angesichts der Hilfsbedürftigkeit dieses Menschen und der Bitte, mit der er sich an andere bzw. die Gemeinschaft wendet. Konkret: sogenannte „identitäre“ Leitvorstellungen und Ressentiments haben keinen Platz in einer Situation, in der es um Not und Rettung geht, - und nicht nur da! In diesem Sinn braucht es jetzt dringend neue Mauerspechte, denn Steine und Beton für die Errichtung neuer Barrieren werden seit langem in unserer Gesellschaft angehäuft. Christinnen und Christen müssen von Anfang deren Bau verhindern und sich schon jetzt als Mauerspechte bereithalten.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Leiden neu lernen – ein Nachklang zum 19. Sonntag A

„Ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich wünschte selbst verflucht zu sein, von Christus getrennt, um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind.“ (Röm 9,2-3). Normalerweise erleben wir Paulus als den souveränen Verfasser schwer verständlicher und kaum verdaulicher Überlegungen zum Glauben. Doch an diesem Sonntag erlaubt er uns einen Blick in sein Innerstes. Es trifft ihn bis ins Mark, dass das Volk, aus dem er stammt, sich der Botschaft des Evangeliums verschließt. Ja, es macht ihn fassungslos, dass das Volk, aus dem Jesus selbst stammt, diesem mit großer Mehrheit ablehnend gegenübersteht. Daher würde Paulus alles, sogar sein Seelenheil dafür geben, könnte er dies ändern. Es schmerzt einfach unendlich, wenn die, die einem jahrzehntelang nahestehen, nun auf Distanz gehen und mit teilweise aggressivem Unverständnis auf den eingeschlagenen Weg reagieren.

 

Antrainierte Reaktionsmuster

Permanentes Leiden angesichts der Ablehnung, der mein Glauben ausgesetzt ist? Auf mich trifft dies nur bedingt zu. Angesichts der Betroffenheit des Paulus stehe ich mit meinen im Lauf der Jahrzehnte zum Selbstschutz antrainierten Reaktionsmustern eher beschämt. Oft denke ich mir: sollen doch die Menschen in meinem Bekanntenkreis und meinem beruflichen Umfeld, sollen nahe und entfernte Verwandte bitteschön nach ihrer eigenen Façon glücklich werden. Aber ganz kalt lässt es mich eben doch nicht, wenn sich Menschen, die mir im Laufe meines Lebens ans Herz gewachsen sind, sich nun nicht nur vom Glauben, sondern auch von mir, dem Repräsentanten einer zuhöchst unglaubwürdigen Institution, abwenden. Aber braucht es erst diese drastischen Erlebnisse, um wieder berührbarer für die dramatische Situation des Glaubens weit über den eigenen Erfahrungs- und Wirkungskreis hinaus zu werden?

 

Persönliche Irrelevanz

Alarmierend ist vor allem die Tatsache, dass die Zustände in unserer Kirche als Anlass für die hohen Austrittszahlen nur einen Teil der Wahrheit abbilden. Nicht zuletzt durch persönliche Erfahrungen sehe ich die Ergebnisse einer Studie der Evangelischen Kirche aus dem Jahr 2021 belegt, die den tieferen Gründen nachgeht.[i] Diese lassen sich unter der Überschrift "Persönliche Irrelevanz von Kirche und christlicher Religion" zusammenfassen. Das Christentum hat für das eigene Leben einfach (schon lange) keine Bedeutung. Der Sinn des Lebens? Trost? Ethische Orientierung? Keine Frage der Religion. Die Studie spricht von „Traditionsabbruch“. Aber wie tief berührt dieser Befund unsere Kirche? Alles in allem verdichtet sich bei mir mit Blick auf die fast schon zum Ritual gewordenen Reaktionen im Kontext der alljährlich verkündeten neuen Rekorde der Austrittszahlen der Eindruck, dass sich die Mehrheit der in der Kirche hauptamtlich Tätigen notwendigerweise ein dickes Fell zugelegt hat. Bei Paulus könnten sie (und ich genauso!) wieder Berührbarkeit und leiden lernen.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

[i]www.ekd.de/studie-zu-den-austrittsgruenden-durch-das-si-ekd-71941.htm

Hat sich redlich bemüht – Ein Nachklang zum 15. Sonntag (A) 2023

Ein Arbeitszeugnis mit dem Hinweis „hat sich redlich bemüht“ (vielleicht noch ergänzt um ein „und sich stets bestens mit den Kolleginnen verstanden“) kommt einem Karriereknick gleich. Entschlüsselt steht hier nichts anderes als „hat nichts erreicht (und einen Gutteil seiner Arbeitszeit mit Privatgesprächen verbracht)“. Kurzum: wer sich mit diesem Zeugnis bewirbt, ist eine Looserin, ein Looser. Kein Personalverantwortlicher wird diesem Menschen auch nur einen Funken Aufmerksamkeit schenken.

 

Nachdenken über die Erfolglosen

Ganz anders das Gleichnis vom Sämann. Deutet man/frau die ausgestreuten Samenkörner als Menschen, die versuchen aus ihrem Leben etwas zu machen, dann fällt plötzlich auf, wie viel Aufmerksamkeit, ja Mitgefühl der Text den Erfolglosen schenkt[1].  Detailliert beschreibt er die schlechten Voraussetzungen und die ungeheuren Widerstände, mit denen der Same zu kämpfen hat. Von den 25 Prozent der Saat, die schließlich Frucht brachte, wird hingegen lediglich das gute Resultat vermerkt. Mich treibt dieses Gleichnis dazu an, mehr über die 75 Prozent Erfolglosen nachzudenken. Sehe ich ihre Bemühungen und Anstrengungen? Habe ich im Blick, dass viele kaum die passenden Voraussetzungen fürs Fruchtbringen besitzen? Kenne ich die widrigen Umstände und Gegenkräfte, die schließlich dem zarten Pflänzchen ihrer Motivation und ihres Engagements den Garaus gemacht haben?

 

Kleine Helden

Zu den Letztgenannten zählen viele Frauen und Männer, die sich oft jahrzehntelang im Ehrenamt für die Gesellschaft und das Öffentliche Wohl engagiert haben. Einer davon ist ehemalige Bezirksbürgermeister von Köln-Kalk Marco Pagano, der im Frühjahr eine sehr berührende Bilanz seines Engagements vorgelegt hat. Unter dem Titel „Kleine Helden. Eine Liebeserklärung an Ehrenamt und Kommunalpolitik“[2] schildert er, was ihn in der Kommunalpolitik zermürbt und zu dem bitteren Fazit veranlasst hat, „Am Ende dankt es euch keiner“. Ihm haben die völlig überzogenen Erwartungshalten vieler Wählerinnen und Wähler zu schaffen gemacht. Gleichzeitig zermürbte ihn der schulterzuckende Mangel an Wertschätzung derer, für deren Belange er kämpfte. Sein enormer Aufwand an Kraft und Lebenszeit wurde als Selbstverständlichkeit hingenommen. Das Verrückte an diesem Buch besteht im „Dennoch“, sprich im mit Herzblut geschriebenen Plädoyer für das Ehrenamt.

 

Mit Mut und guten Willen

Ich vertraue fest darauf, dass der göttliche Sämann aus dem Gleichnis barmherziger und wertschätzender mit denen umgeht, die „sich redlich bemüht haben“.  Ja, ich bin mir sicher, dass er all jene mit besonderer Anerkennung bedenkt, die trotz ihrer begrenzten Kräfte und Möglichkeiten den Mut und den guten Willen für ein politischen, sozialethisches oder caritatives Engagement aufgebracht haben. Nicht der Erfolg zählt, sondern der Versuch! Ich hoffe und glaube daran, dass bei und vor Gott nur eines zählt: ob ein Mensch sagen kann, „Ich habe mich redlich bemüht“.

 

[1]www.stefanmai.de/mk/predigten.php

[2] Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2023

Die Kirche ist und bleibt in der Pflicht für die soziale Gerechtigkeit

Der „fromme Glaube genügt aber nicht in dieser Zeit, er muss seine Wahrheit durch Taten beweisen!“ Mit diesem Satz aus seiner ersten Adventspredigt im Jahr 1848 (nebenan im Dom) bringt Bischof Emmanuel von Ketteler die wohl wichtigste Einsicht seines Lebens auf den Punkt. Konsequent hat er bis zu seinem Tod am 13. Juli vor 146 Jahren seine Lehre und Handeln an dieser Maxime ausgerichtet. „Der fromme Glaube (allein) genügt nicht“. Mit dieser Erkenntnis wandte sich Ketteler, der als Pfarrer im Münsterland durch seine Rolle am Rande der ersten deutschen Nationalversammlung Berühmtheit erlangt hatte, an die Adresse der Kirche seiner Zeit. In deren Verkündigung und Liturgie kamen Menschen in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen mit genau 0,0 % vor – und dies obwohl über 90% der Bevölkerung in den Hungerjahren seit 1845 nicht wussten, wovon sie am nächsten Tag leben sollten und ihre Haut buchstäblich auf dem Arbeitsmarkt feilbieten mussten. In der Theologie und unter den Bischöfen ging es damals um anderes, etwa um vermeintliche oder echte Irrlehren, mit denen sich die Beteiligten gegenseitig in Rom anzeigten; genauso standen die Abwehr des übergriffigen preußischen Staates und die wachsende Zentralisierung nach Rom hin auf der Tagesordnung. Fällt Ihnen, fällt euch der Unterschied zu heute auf? Allzu groß ist er nicht, denn auch 175 Jahre nach Kettelers Adventspredigten dreht sich die Kirche wieder um sich selbst. Stark abgewandelt möchte ich sagen: „Große Reformprogramme genügen nicht in dieser Zeit“. Diese müssen ihre Wahrheit durch Taten angesichts der massiven gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart erweisen. Ganz bestimmt würde Ketteler die Bischöfe und das Volk Gottes an die Selbstverpflichtung der beiden großen Kirchen aus dem Jahr 1997 erinnern. Es heißt dort etwas geschraubt: „Konstitutiv und verpflichtend ist es für die Kirche und ihren Auftrag zur Seelsorge, die Verantwortung für eine sozial gerechte Gestaltung des menschlichen Lebensraumes, seiner Strukturen und seiner Systeme wahrzunehmen und daraus Konsequenzen zu ziehen.“ Weniger kompliziert: Für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, ist und bleibt eine der zentralen Aufgaben der Kirche. Ketteler ist in diesem Punkt unerbittlich. Sind wir es auch?

Soziale Gerechtigkeit anstatt Almosen

Zu Beginn seines seelsorgerlichen Wirkens als Pfarrer im münsterländischen Hopsten war Ketteler dank seiner „großen Witterungsfähigkeit für soziale Not“ (Karl Lehmann) ganz auf die Praxis der Nächstenliebe konzentriert. Eine radikal und konsequent aufsuchenden Caritas würde, so seine Überzeugung, den Umbruch zum Besseren in der Gesellschaft bringen und die Herzen der Deklassierten der Kirche wieder zuwenden: "Die Armen müssen erst wieder fühlen, dass es eine Liebe gibt, die ihrer gedenkt, ehe sie der Lehre der Liebe Glauben schenken. Dazu müssen wir die Armen und die Armut aufsuchen, bis in ihre verborgensten Schlupfwinkel ihre Verhältnisse, die Quellen ihrer Armut erforschen, ihre Leiden, ihre Tränen mit ihnen teilen." Heute würde Ketteler eine hochauflösende Sensibilität für die vielen Gesichter der Armut in unseren Tagen propagieren, denn viele ihrer Erscheinungsformen sind nicht selten verschämt, verborgen und unsichtbar, besonders wenn es um tiefe Verletzungen und um Isolierung von Menschen geht. Aber genügt das?

Als sehr aufmerksamer Beobachter der Gesellschaft seiner Zeit hat Ketteler dann schnell gelernt, dass mit der bloßen Übung der Nächstenliebe für die Lösung der sozialen Frage kaum etwas getan werden konnte. Es ist faszinierend zu sehen, wie er immer mehr die Arbeiterfrage als Kern der immensen sozialen Verwerfungen von der caritativen auf die gesellschaftspolitische Ebene bringt. Leider folgen heute immer wieder Verantwortliche in Politik und Kirche diesem von Bischof Ketteler vorgelebten Lernweg nicht. Sie betonen nach wie vor vermeintlich zentrale Bedeutung des Charity-Gedankens: wer wirtschaftlich gut situiert ist, soll freiwillig und umfänglich Almosen „nach unten“ verteilen: wohltätige Stiftungen, caritativ tätige Großvereine und edle Spenderinnen und Spender mildern so die zum Teil katastrophale Situation am unteren Ende der Gesellschaft. In diesem Ansatz nimmt auch die vollständige Privatisierung der Carearbeit, insbesondere die dann häusliche Pflege von alten Menschen und Sterbenden, einen prominenten Platz ein: freiwilliger Dienst um Gottes Lohn. Die gesellschaftliche Verantwortung des Staates wird auf ein Minimum reduziert. Es ist klar, dass diese Überlegungen nicht nur zu einer weiteren Benachteiligung von Frauen führen würden. Vielmehr liegt es auf der Hand, dass sich ähnlich wie in den Vereinigten Staaten unsere Gesellschaft endgültig spalten würde. Ketteler hat glasklar erkannt, dass nur konsequent angewandte soziale Gerechtigkeit, nicht aber lediglich noch so engagierte Nächstenliebe die Gesellschaft zusammenhalten und für alle Menschen voranbringen kann. Sozialer Gerechtigkeit geht es im Kern immer um die Grundfragen der Würde, der Ehre, des eigenen Werts, des fairen Miteinander, des Nachteilsausgleichs und einer angemessenen Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und Interessen. Soziale Gerechtigkeit also anstatt Charity!

Es geht zentral um die Menschenwürde

Als Hauptfeind der arbeitenden und darbenden Menschen seiner Zeit hat Ketteler den ungezügelten Liberalismus erkannt und bekämpft. Lohnempfängerinnen und -empfänger waren ohne jeden Schutz den Mechanismen der uneingeschränkten Gewerbefreiheit ausgesetzt, was die totale Abhängigkeit und soziale Isolierung der Arbeiter zur Folge hatte. Unter der Faszination der industriellen Massenproduktion zu immer billigeren Preisen ging der Blick für den Menschen, seine Würde und den Wert der Arbeit gänzlich verloren. Ketteler kämpfte deshalb im Namen dieser Würde und dieses Wertes, also im Namen der Menschenwürde und der sozialen Menschenrechte gegen die Menschenverachtung des Extremkapitalismus an. Hierbei hatte er unterschiedslos alle Betroffenen im Blick. Es ging ihm um Menschen. Einheimische und Zugewanderte, Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene hatten in seinen Augen die gleichen Rechte, die gleiche Würde als Menschen. Sie sind jedem Menschen als Geschöpf Gottes verliehen. Es wäre für Ketteler undenkbar gewesen, dass sich bald ein Fünftel aller Wahlberechtigten einer Partei zuwenden, die diese gemeinsame Würde aller tagtäglich in Frage stellt. Sie tut dies in ihrer sogenannten Sozialpolitik, die die Bevorzugungen und Benachteiligungen zwischen „Deutschen“ und Migrantinnen bzw. Migranten zum Grundprinzip erklärt. Etwa, indem sie die Stärkung der staatlichen Rente exklusiv für Staatsbürger ab 35 Beitragsjahren fordert und Menschen mit Migrationshintergrund gelinde gesagt nachrangig behandeln will. Ganz sicher würde Ketteler sich mit lautem Protest gegen die polarisierend eingebrachte Gegenüberstellung zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“ auf dem Arbeitsmarkt wenden und Begriffe wie „unkontrollierte Migration“ und „Sozialschmarotzern“ als das brandmarken, was sie sind: menschenverachtende Polemik, die Wählerstimmen bringen soll. Ket­te­ler ging und geht es um die Wie­der­her­stel­lung und Ach­tung der Men­schen­wür­de und Menschenrechte, die wir in der Polemik und Orientierungslosigkeit unserer aufgehetzten Gegenwart erneut verspielen könnten.

Klare Kante tut not

Es muss uns klar sein: zumindest die Mitglieder KAB dürfen sich nicht mit dem selbstbeschaulichen Disput innerkirchlicher Reformfragen zufriedengeben. Ganz im Gegenteil! In einer Zeit neuer Gefahren durch den Rechtspopulismus müssen wir mit der Frohe Botschaft, müssen wir mit unserer Überzeugung von der gleichen Würde aller Menschen und ihrer sozialen Rechte auf die Plätze unserer Gesellschaft gehen. Dazu gehört eben auch der Mut der Männer von 1934 (die KAB war damals ein reiner Männerverband). Sie bekannten sich in Mainz am Todestag des Arbeiterbischofs zu Christentum und Kirche, auch wenn sie durch eine alles übertönende Hitlerrede gestört wurden. Unter ihnen waren Bernhard Letterhaus und Nikolaus Groß.

Der „fromme Glaube genügt aber nicht in dieser Zeit, er muss seine Wahrheit durch Taten beweisen!“ Zeigen wir, dass wir begriffen haben, worin diese Taten heute bestehen: indem wir 1) uns als der Teil der Kirche profilieren, die sich sozialpolitisch und ethisch für eine gerechtere Gesellschaft in die Pflicht nehmen lässt. 2) Indem wir für soziale Gerechtigkeit kämpfen anstatt einer neuen Unkultur von freiwilligen Almosen das Wort zu reden und 3) – das ist das Wichtigste – der neuen Bedrohung der Menschenwürde und sozialen Menschenrechte in unserem Land rechtzeitig die Stirn zeigen. Wie gesagt, frommer Glaube allein reicht schon lange nicht mehr aus.

„Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid“ (Mt 11,28).  Passend zu dieser Einladung Jesu veröffentlichen die „Tafeln“ in Deutschland zu Beginn dieses Monats einen weiteren Hilferuf: Sie „beklagen angesichts stark gestiegener Lebensmittelpreise einen ‚Ausnahmezustand‘ bei der Verteilung von Lebensmitteln für Bedürftige. Die Anzahl der Kunden hat sich an manchen Standorten fast verdoppelt.“ [1] Nach Angaben des gleichnamigen Dachverbands engagieren sich weit über 50.000 Helferinnen und Helfer im Ehrenamt gegen Armut und Lebensmittelverschwendung[2]. Diejenigen, die besonders Belastete in unserer Gesellschaft entlasten wollen, arbeiten längst am Limit ihrer psychischen und physischen Kräfte: das Entlasten wird zur Last.

 

Zeit für ihre Herzensanliegen

„Mühselig und beladen“. Kaum jemand denkt bei dieser Zustandsbeschreibung spontan ans Ehrenamt im sozialen Bereich. Ganz im Gegenteil: Beispielsweise stellt das Engagement im Sinne der gesellschaftspolitischen und sozialethischen Ziele der Katholischen Arbeitnehmerbewegung für viele Frauen und Männer im Verband eine regelrechte Kraftquelle dar. Sie bringen Zeit und Begabung für ihre Herzensanliegen ein und können sich sicher sein, etwas Gutes zu tun. Nur zögerlich spricht die eine oder der andere auch über die Belastungen, die mit einem zum Teil Jahrzehnte währenden Dauereinsatz einhergehen. Es schimmert dabei die Angst durch, ohne die ehrenamtliche Tätigkeit regelrecht im Nichts zu versinken. Daher nehmen die Betroffenen lieber die wachsende Überforderung in Kauf als rechtzeitig ans Aufhören zu denken. Es geht ja schließlich um die „gute Sache“ und natürlich auch um das eigene Ansehen.

 

Jede(r) darf NEIN sagen

Bin ich denn selber „mühselig und beladen“? Für meine eigene Person muss ich zugeben, dass ich die meiste Zeit meines Lebens in Beruf und Ehrenamt stets aus dem Vollen geschöpft habe. Für die Frage, “wie geht es mir gerade wirklich?“, fehlte schlichtweg die Zeit. Nur zögerlich lerne ich gegenwärtig, psychische und körperliche Signale wirklich wahr- und ernst zu nehmen. Anders gesagt, meiner Seele zuzuhören. Das Angebot Jesu verstehe ich als Ermutigung dazu, rechtzeitig meine Grenzen zu respektieren und im Sinne des eigenen Wohlergehens das „Nein-Sagen“ einzuüben. Jeder Mensch darf „Nein“ sagen und einen Punkt setzen. Eine Rechtfertigung sollte nicht notwendig sein.

Jesus will den Überlasteten „Erquickung“ verschaffen. Das schließt nicht aus, dass diese selbst etwas dafür tun können. Ganz sicher würde er der dem Rat der Psychotherapeutin Elena Hitzel zustimmen: „Kenne deine Grenze und halte dich daran.“[3]

 

[1]www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/tafel-spenden-ruecklaeufig-100.html

[2]www.tafel.de/themen/ehrenamt

[3]www.youtube.com/watch

Als Pfarrer war ich einige Jahre lang für eine Gemeinde zuständig, in der zuvor ein Ordensmann als Seelsorger gewirkt hatte. Dieser ist bis heute dadurch unvergessen, dass er sich zu jedem Taufkaffee, zu jedem Leichenschmaus und zu jeder Hochzeitsfeier selber eingeladen hat. Auch wenn er nicht zuvor die Liturgie gestaltet hatte, saß er garantiert als erster am gedeckten Festtagstisch. Selbst im Dorfgasthaus ließ er sich aushalten und zeigte bei der Rechnung auf sein Ordensgewand. Stets lautete seine Begründung: „Ich bin’s doch, euer Pater“. Sein vermeintliches Recht als der Dorfpfarrer „durchgefüttert“ zu werden, praktizierte er derart hartnäckig, dass die entsprechenden Termine nur noch hinter vorgehaltener Hand kommuniziert wurden. Nichts war schlimmer, als ihn unter den Gästen zu haben.

Privilegierte Kirchenmänner

Ein Einzelfall? In meiner Kindheit und Jugend war es durchaus üblich, „Gottesmännern“ („Gottesfrauen“ gab es höchstens in Form von Klosterschwestern) Sonderrechte einzuräumen und sie besonders zu behandeln. Viele Pfarrer und Kapläne lebten und handelten aus dem Bewusstsein eines privilegierten Standes heraus. Eine Versuchung, der auch ich zu Beginn meines Berufslebens zeitweilig erlegen bin. Gottseidank sind diese Zeiten längst vorbei! Nicht selten hat der Aufmerksamkeit heischende Kirchenmann im wahrsten Sinn des Wortes die wirklichen Gottesfrauen und -männer verdeckt. Zu diesen können heute durchaus die vielen Frauen und Männer gehören, die sich in der Seelsorge abarbeiten. Sie sind aber nur Teil einer viel größeren Gruppe: es sind jene, von denen Jesus am Ende des heutigen Evangeliums spricht, jene die einen Becher Wasser brauchen. Und natürlich finden sich hier auch jene, die hungrig sind nach Brot, die nach Gerechtigkeit dürsten, die auf Menschlichkeit hoffen - kurzum all jene, in denen Jesus uns begegnet und gegenübersteht.

Bedürftigen Raum schenken

Die Erzählung von der gastlichen Aufnahme des Propheten Elischa durch die vornehme Frau aus Schunen und ihren Mann verstehe ich vor diesem Hintergrund als Aufforderung dazu, diesen Menschen, die auf der Türschwelle meines Lebens stehen, immer wieder Platz einzuräumen. Dies kann schon durch ebenso selbstverständliche wie schnelle Hilfe geschehen. Zuweilen wirkt sogar ein unerwartetes freundliches Wort kleine Wunder. Vielleicht kann ich dort unterstützend tätig sein, wo einem Menschen in meinem Umfeld das Leben aus den Fugen zu geraten droht. Auch einfaches Zuhören wirkt wie ein Becher Wasser. Möglicherweise geht es um mehr, beipsielsweise um Gastfreundschaft zur rechten Zeit.

Christliche Wirksamkeitserfahrungen

Diese Überlegungen werden durch die neuesten Zahlen den Kirchenaustritten im Jahr 2022 überschattet. Mehr als eine halbe Million Menschen haben in einem einzigen Jahr ihr Verhältnis zur katholischen Kirche als Institution beendet. Einer der Gründe hierfür liegt meines Dafürhaltens in der bitteren Erfahrung, im kirchlichen Rahmen nichts bewirken zu können. Aller Einsatz für eine Gleichstellung von Frauen, eine angemessene Verteilung von Macht und eine gründliche Aufarbeitung des Missbrauchsskandals scheint vergeblich. Und selbst dort, wo Frauen und Männer sich für das Gemeindeleben vor Ort engagieren, geschieht dies nach wie vor unter dem Vorbehalt, dass Pfarrer und Ordinariate von jetzt auf gleich Erreichtes in Frage stellen können. Das heutige Evangelium bietet im Kontrast hierzu eine reale Wirksamkeitsperspektive an: den Lohn selbst für die kleinste Geste der Mitmenschlichkeit.

Es klingelt an der Haustür. Diesmal ist es nicht der „Pater“. Draußen steht eine reale Gottesfrau, steht ein wirklicher Gottesmann. Ihr und ihm glaube ich das!

Grassierender Fachkräftemangel

Kennen Sie Achmed oder Dimitry? Beide wohnen irgendwo bei Bonn und arbeiten als Busfahrer für den Verkehrsverbund Rhein-Sieg. Wer dort Bus fährt, sieht ihre Gesichter täglich auf Plakaten und weiß, dass sie Kolleginnen und Kollegen suchen. Patente junge Männer, die sich eine Lupe vors linke Auge halten und mich groß anschauen. Meine Phantasie geht mit mir durch: auf einem anderen Plakat sucht der Prophet Jeremia mit forschendem und durchdringendem Blick auch nach Kolleginnen und Kollegen. Die werden in Kirche und Gesellschaft noch dringender gebraucht als Neuzugänge im Öffentlichen Nahverkehr. Was eine Busfahrerin zu tun hat, ist halbwegs klar, - aber was macht ein Prophet? Da muss zwingend eine kurzer Ausschreibungstext unter das Foto: „Wir suchen Menschen, die eine Vision haben, einen Traum, ein Bild von der Zukunft, wie sie sein sollte. Menschen, die den Mut haben, auszusprechen, was schief läuft in dieser Welt - und die Ideen entwickeln, wie es besser gehen könnte. Belastbarkeit unbedingt vorausgesetzt.“

Ein Stressjob

Es ist zu befürchten, dass sich kaum jemand melden wird. Üblicherweise informieren sich Interessenten ausführlich über Arbeitsbedingungen, Stellenumfang und absehbare Belastungen. Ein Gespräch mit bisherigen Stelleninhabern könnte sich zudem äußerst negativ auf die Anfangsmotivation auswirken. Der heutige Lesungstext stammt von Jeremia, also einem der ganz Großen seines Fachs. Wir erleben ihn an einem der Tiefpunkte seiner an Glanzlichtern sowieso nicht reichen „Karriere“. Seine Aussagen sind Teil einer verzweifelten Beschwerde (Jer 20,7-18): Gott als „Arbeitgeber“ hat ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in diese Tätigkeit gelockt und verweigert ihm gefühlt fast jegliche Unterstützung; er wird allenthalben gemobbt und belauert, insbesondere die staatlich bzw. kirchlich bezahlte Kollegenschaft verfolgt ihn regelrecht. Gleichzeitig unterliegt er einem inneren Zwang zur prophetischen Arbeit, in seiner Klage klingt stark Burnout mit. Seine Hauptaufgabe besteht darin, sich durch die stets ungelegene Benennung der Wahrheit Tag und Nacht unbeliebt zu machen. Von diesem Job würde ich jedenfalls die Finger die lassen.

Prophetentum heute

Und trotzdem gibt es Prophetinnen und Propheten auch heute, - ganz ohne Stellenausschreibungen. Sie treten auf, weil sie an den Zuständen in unserer Welt und Gesellschaft leiden und sich nicht mit deren fortschreitender Zerstörung abfinden wollen. Dafür nehmen sie wie Jeremia Unannehmlichkeiten, Anfeindungen und Entbehrungen in Kauf. Sie leiden nicht an den gleichen Ursachen oder Umständen wie Jeremia, sind aber mindestens so aufsässig und widerspenstig wie er. Sie sehen, urteilen und engagieren sich für Veränderungen statt nur zu debattieren. Ihre Kernaufgabe besteht darin, zu sagen, was Sache ist und sich gegen die Verdrängung und Schönrednerei z.B. gesellschaftlicher Fehlentwicklungen zu stellen. Ganz aktuell: Hinter bloßen Zahlen erkennen sie die Einzelschicksale, etwa die der mittlerweile über 70.000 sogenannten Gäste der Tafeln in Rheinlandpfalz[i]. Streitbar benennen sie den Missstand, der sich mit der schleichenden Integration der „Tafeln“ in die soziale Grundsicherung unseres Staates Monat für Monat verschlimmert. Längst ist von einer „Vertafelung“ der Gesellschaft die Rede[ii]. Prophetinnen und Propheten von heute benennen den Skandal: eines der reichsten Länder der Welt greift immer mehr auf ein Almosensystem zurück, um flächendeckend die Daseinsfürsorge zu stabilisieren. Prophetischer Prostest gegen die zunehmende „Systemrelevanz“ ehrenamtlicher Lebensmittelweitergabe richtet sich gegen einen Staat, der immer mehr seine Fürsorgepflicht für Menschen in prekären Verhältnissen aus dem Blick verliert. Es geht schlichtweg um das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und damit um ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Die Folgen für die Entwicklung unserer Gesellschaft sind ansonsten denkbar düster, denn Menschen, die auf Spenden angewiesen sind, erleben sich als fremdbestimmt. Demokratie und die Erfahrung von persönlicher Selbstwirksamkeit gehören aber auf das engste zusammen. Almosen ersetzen keine soziale Gerechtigkeit[iii].

„Jeremia sucht Kollegen und Kolleginnen“. Sie Sie jemand, der hinschaut und unter der grassierenden Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft leidet? Ist Ihnen der Einsatz für die Menschenwürde etwas wert? Als Christin oder Christ müssen Sie sich nicht lange bewerben, denn durch die Taufe gehören Sie bereits zur Firma. Es liegt an Ihnen, loszulegen.

 

[i]https://www.rheinpfalz.de/lokal/pfalz-ticker_artikel,-mehr-familien-mit-kindern-gehen-zu-den-tafeln-_arid,5519398.html?utm_source=email&utm_medium=sharing

[ii] Z.B. in der taz: taz.de/Kritik-an-Niedersachsens-Sozialpolitik/!5873671/

[iii] Das Evangelische Sonntagsblatt bietet in seiner Ausgabe vom 21.3.23 eine knappe Zusammenfassung der laufenden Debatte: www.sonntagsblatt.de/artikel/gesellschaft/forscher-tafeln-kritik-soziale-gerechtigkeit

„Wir suchen zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen Kassier (m/w/d) zur Verwaltung unseres Mitgliederbestands und zum Einzug der Mitgliedsbeiträge. Er/Sie nimmt an allen Vorstandssitzungen teil, engagiert sich vollumfänglich für unserem Verein …“ So oder so ähnlich suchen nicht nur Unternehmen nach neuen Beschäftigten, sondern auch ungezählte Vereine nach Ehrenamtlichen, die bereit sind, einen Gutteil ihrer Freizeit selbstlos für den Sport, das Brauchtum, die Mitarbeit in Pfarreigremien oder Verbänden einzubringen.

Das Personalkonzept Jesu

Auch Jesus braucht Mitarbeitende, Menschen, die sich ohne Wenn und Aber einbringen. Und er findet sie: „An erster Stelle Simon, genannt Petrus, und sein Bruder Andreas, dann Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und sein Bruder Johannes …“ (Mt 10,2). Mit aller Akribie präsentiert Matthäus wie bei einem betrieblichen Personalverzeichnis die Namen der einzelnen Apostel und fügt teilweise präzisierende Erläuterungen hinzu. Ihm ist wichtig, dass Verwechslungen ausgeschlossen werden können und der jeweils Genannte tatsächlich existiert. Ersatz gibt es nicht.

Bei den vom Evangelisten angeführten Namen klingen zuhöchst individuelle Vorgeschichten an, Biographien, die nicht zum üblichen Klischee auserwählter frommer Männer oder zukünftiger Würdenträger passen wollen. In der ausgesprochen, ja schmerzhaft bunten Gruppe finden sich Schriftgelehrte ebenso wie Kleinunternehmer aus dem Fischereisektor und Zöllner, will heißen Kollaborateure mit der römischen Besatzungsmacht. Selbst der Namen eines Sympathisanten der Terrorszene taucht auf: Simon Kananäus, bekannt geworden als Simon, der Zelot (Lk 6,15), sprich er gehört zur Speerspitze des gewaltbereiten Widerstands gegen die Römer.

Hat Jesus die Wahl? Er nimmt diese Männer, weil sie so sind, wie sie sind. Menschen wie sie dürfen und werden die Verkündigung vom Reich Gottes prägen. Sie werden gebraucht, weil sie da sind: mit allem, was sie können und mit allem, was schiefgelaufen ist in ihrem Leben und Narben hinterlassen hat. Offensichtlich gehört es zu den wesentlichen Merkmalen dieses Reiches, dass dort unterschiedlichste Temperamente und Charaktere Platz haben; das Ringen um ein gedeihliches Miteinander ist Teil des Reiches Gottes im Werden. Jesus geht es nicht darum, nach harten Auswahlgesprächen klar beschriebene Posten zu besetzen. Die Namen der Zwölf stehen schlichtweg für die wachsende Anzahl an Menschen, die sich angesprochen fühlt von der Aufgabe zu trösten, zu heilen, zu versöhnen, Dämonen auszutreiben und am Boden Liegende aufzurichten. Das sich so andeutende Kommen des Reiches Gottes ist also von den Menschen geprägt, die sich von ihm begeistern und vereinnahmen lassen. Sie geben ihm ihr Gesicht, ihre Hände, ihre unverwechselbaren Begabungen. So wie jede, wie jeder ist, wird er gebraucht. Niemand ist ungeeignet, weil er einem Stellen- bzw. Aufgabenprofil nicht entspricht.

Kirchliche Suchmuster

Die von kirchlichen Gremien und Verbänden formulierten Erwartungen an das Ehrenamt unterscheiden sich nach wie vor stark von diesem Konzept. Ortsverbände der KAB jammern darüber, dass sich niemand mehr für die Aufgaben des Kassiers, des Vorstands oder der Schriftführerin findet. Gleichzeitig gibt es nach wie vor ungezählte Frauen und Männer, denen das sozialpolitische Engagement in unserer Gesellschaft ein Herzensanliegen ist und die viele Stunden im Einsatz für Menschen am Rande der Gesellschaft verbringen. Gebraucht werden und dazugehören. Um diese wunderbare Erfahrung geht es heute und um diese Erfahrung ging es auch den von Matthäus genannten Jüngern. Gottlob gibt es Pfarreien und Verbände, die das begriffen haben und deshalb „andersherum“ denken: von den Gaben zu den Aufgaben. Gemeinden und Vereine, die ihre ganze Arbeit an den Gaben, den Charismen orientieren! Es geht nicht zuerst um Aufgaben und Zuständigkeiten, für die dann die passenden Menschen gefunden werden müssen. Wer sich für andere einsetzt, will spüren: Ich bin wirksam. Mein Engagement ist richtig und wichtig, und ich sehe meinen Beitrag.

Ja richtig: der Titel scheint falsch zitiert. Er müsste korrekt „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ lauten. Im gleichnamigen Roman von Jan Weiler aus dem Jahr 2003 spielt der Geschmack am gemeinsamen (!) Essen, aber auch die damit verbundenen Fremdheitserfahrungen und Vorurteile eine zentrale Rolle. Der zentrale Moment für den „Culture-Clash“ zwischen süditalienischer Lebensfreude und reservierter deutscher „Befindlichkeitspflege“ ist natürlich das Essen und das Ausdrucksmittel für das deutsch-italienische Anderssein. In der filmischen Umsetzung durch die Regisseurin Neele Leana Vollmar sitzt der Hauptdarsteller Jan mit den vielen nervigen Verwandten seiner italienischen Verlobten, die ständig laut und quirlig durcheinander quasseln, stundenlang beim Mittagessen und muss sich ständig gegen die ihm aufgedrängten Meeresfrüchte wehren. Sie schmecken ihm nicht, weil er auf Muscheln & Co allergisch reagiert. Aber das interessiert keinen am Tisch, denn viel wichtiger ist das Essen in Gemeinschaft und die gemeinsame Freude an heimischen Köstlichkeiten. Und so versuchen ihn die teilweise schrullig überzeichneten älteren Damen in der italienischen Sippschaft regelrecht zu mästen.

 

Geschmack an Gott finden

Auch an Fronleichnam ist viel vom Geschmack die Rede wie – ungewollt – von einem nicht weniger heftigen Zusammenstoß der Kulturen. Selbst in katholisch geprägten Dörfern löst die Prozession mit der Monstranz in der Mitte „unterm Himmel“ zunehmend Befremden aus. Dieses steigert sich, wenn dann (wie recht oft in den entsprechenden Festtagspredigten) dringend empfohlen wird, sich neu auf die Eucharistie einzulassen und so wieder Geschmack an Gott zu finden. Nach wie vor gilt es im Kontext dieser Art von Ansprachen als unhinterfragt, dass die Kirche ein besonderer Ort für jene Menschen sei, die unter der Oberfläche der Konsumgesellschaft im Sinne von Lebenstiefe nach dem besonderen Geschmack suchen und sich nicht abspeisen lassen wollen mit den „Fertiggerichten dieser Welt“. Genau hier liegt das Problem. Köstliche Speisen kann nur der Koch, nur die Köchin auf den Tisch bringen, der selber eine Freude an schmackhaftem Essen hat. In diesem Sinn muss vor allem die Kirche (gemeint ist hier zuerst ihre sichtbar in der Öffentlichkeit auftretende Repräsentanz) glaubhaft zeigen, dass sie immer noch bzw. wieder Geschmack an der Welt hat. Seit längerem erweckt sie jedoch einen gegenteiligen Eindruck. Sie sitzt eher unbeteiligt am Tisch der Gesellschaft. Wenn aus dieser heraus überhaupt noch Kommentare kommen, dann lassen sich diese mit „ihr schmeckt’s nicht!“ zusammenfassen.

So nehmen es zumindest die meisten Menschen in unserem Land wahr. Abgesehen von sehr gelegentlichen Wortmeldungen zur Spaltung der Gesellschaft, Inflation und der weiteren Eskalation des russischen Kriegs gegen die Ukraine, scheint die kirchliche Repräsentanten und Repräsentantinnen überwiegend mit der Sorge um sich selbst bzw. ihren Allergien beschäftigt zu sein. Der eigene Bedeutungsverlust und der sich abzeichnende Einbruch bei den Kirchensteuereinnahmen sind offensichtlich die eigentlich wichtigen Themen, vom Streit über die Finanzierung der Fortsetzung des Synodalen Wegs ganz zu schweigen. Für ihr Überleben aber ist die Kirche darauf angewiesen, dass sie den Geschmack an der Welt wiederfindet. Nichts anderes mein das Zweite Vatikanische Konzil, wenn von der „Freude und Hoffnung“ wie der „Trauer und Angst der Menschen von heute“ spricht.

 

Keine Speise, die mir schmeckt

Fronleichnam 2023: anders als in Weilers erfolgreichem Romanerstling zeichnet sich für eine Kirche, der die Welt nicht schmeckt, kein Happy end ab. Es droht eher eine Entwicklung, die an das Ende in Franz Kafkas Kurzgeschichte bzw. Parabel „Ein Hungerkünstler“ erinnert. Dieser erklärt mit letztem Atem den Grund für seine von den Menschen längst nicht mehr beachtete Kunst weitgehenden Nahrungsverzichts wie folgt: „ich kann nicht anders …, weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.“[i] Ganz anders Gott! Er findet so viel Geschmack an und in dieser Welt, dass er für seine Gegenwart in ihr das Brot zum Zeichen erwählt und damit sagt: ich finde Geschmack an euch und will mit euch die durch dieses Brot bezeichnete Gemeinschaft leben. Ihm schmeckt’s!

 

[i] Zit. nach: www.projekt-gutenberg.org/kafka/erzaehlg/chap020.html

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands


 

„‚Der Babelfisch‘, ließ der Reiseführer ‚Per Anhalter durch die Galaxis‘ mit ruhiger Stimme vernehmen, ‚ist klein, gelb und blutegelartig und wahrscheinlich das Eigentümlichste, was es im ganzen Universum gibt. Er lebt von Gehirnströmen, die er nicht seinem jeweiligen Wirt, sondern seiner Umgebung entzieht… Der praktische Nutzeffekt der Sache ist, dass man mit einem Babelfisch im Ohr augenblicklich alles versteht, was einem in irgendeiner Sprache gesagt wird. Damit hat der Babelfisch … mehr Unheil und Kriege verursacht, als man sich denken kann (1).

Von der Pfanne in den Ofen

Mit bitterer Ironie stellt Douglas Adams in seinem gleichnamigen Kultroman klar, dass die bloße Übersetzung von der einen in die andere Sprache noch kein gegenseitiges Verständnis zur Folge hat. Ganz im Gegenteil: Die Sprache bleibt die Quelle aller Missverständnisse. Auch der „Babelfisch“ bewirkt nicht das Sprachenwunder, von dem an Pfingsten die Rede ist. Als Teilnehmer eines internationalen Kongresses der Christlichen Arbeiterbewegungen Ende März dieses Jahres konnte ich erneut erleben, dass es beim Dolmetschen um weit mehr geht, als nur Worte von einer Sprache in die andere zu übertragen. Die überragende Arbeit der Dolmetscherinnen und Dolmetscher trug entscheidend zur guten Atmosphäre der fünfsprachigen Konferenz bei. Bei einer reinen Google-Übersetzung wäre vieles an Inhalt und Zwischentönen auf der Strecke geblieben. Denn man und frau kann schon mal von der Pfanne in den Ofen kommen, wie es im Englischen heißt. Auf Deutsch kommen wir aber vom Regen in die Traufe. Kurzum: Sprache umfasst weit mehr als einfach nur Worte. Sprache transportiert immer ein bestimmtes Verständnis von Welt. Zur Sprache gehören die Kultur und die Unverwechselbarkeit eines jeden Menschen.

Meine Meinung zählt allein

Ob nun „Babelfisch“, Übersetzungsapps wie DeepL & Co oder das Erlernen von Fremdsprachen, - aller diesbezügliche Aufwand ist sinnlos, wo Menschen reden, aber nicht miteinander kommunizieren wollen. Und selbst die genialsten Dolmetscherinnen und Dolmetscher sind überfordert, wenn Sprache nur dazu zu dient, um die Alleingültigkeit der eigenen Position zu markieren. Die politischen Debatten der vergangenen Wochen sei es wegen des Heizungsgesetzes, rund um die Aktionen der „Letzten Generation“ oder den russischen Krieg gegen die Ukraine, können einem nachgerade das Fürchten lehren. Die persönliche Einzelmeinung scheint über alles zu gehen: über die Gedankenfreiheit der anderen und häufig sogar über deren bloße Existenzberechtigung. Längst hat sich die Kritik von den Inhalten losgelöst. Wichtig ist, dass kritisiert wird, nicht aber, was kritisiert wird. Es deprimiert mich, immer häufiger erleben zu müssen, wie Wahrheiten behauptet werden, aber zunehmend weniger um die Wahrheit gerungen wird. Am Ende würgen mir Menschen im Extremfall einfach nur noch ihren Frust als Meinung regelrecht hinein und sind empört, sollte ich auch nur für einen Moment etwas erwidern wollen.

Die Sprache der Sprachlosigkeit verstehen lernen

Daher bete ich mit Blick auf das diesjährige Pfingstfest um nichts Geringeres als um ein weiteres Sprachenwunder. Ich bitte um ein neues Wunder des Verstehens. Auf das spektakuläre Szenarium von Sturm und Feuer kann ich dabei gut verzichten. Mir genügt es, wenn ich zumindest ahnen kann, wo und wie heute Gottes Geist Kommunikation heilt und so neues Verstehen und eine neue Verständigung bewirkt. Ich vermute sein Wirken gerade dort, wo unter dem harten Panzer der Abgrenzung bei meinem Gegenüber eine tiefe Sehnsucht nach Verstanden werden und nach dem Respekt für die eigene Geschichte und Selbsteinschätzung durchschimmert. Weil ich fest davon überzeugt bin, dass man und frau „nicht nicht kommunizieren können“ (Paul Watzlawick), möchte ich eine Sprache verstehen lernen, für die es weder einen Kurs noch ein Übersetzungsprogramm gibt: die Sprache der Kommunikationsverweigrung. Ich will die Bandbreite dessen verstehen können, was sie oder er mir dennoch unbewusst mitteilt.

Sprachlehrerin Geist

Vor die Wahl „Babelfisch“ oder „Heiliger Geist“ gestellt, entscheide ich mich für letzteren. Doch nicht als Dolmetscher möchte ich ihn bei mir haben, sondern als geduldigen Sprachlehrer (gerne auch als einfühlsame Sprachlehrerin). Denn nur er bzw. sie kann mir die einzige Universalsprache beibringen, die der wertschätzenden Wahrnehmung und Empathie. Nur diese Lehrerin bzw. dieser Lehrer hilft mir, wahrzunehmen anstatt zu bewerten. Und sie, er lehrt mich, dass das eigentliche Wunder an Pfingsten in der Überwindung der Sprachlosigkeit besteht.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Adams, Douglas: Per Anhalter durch die Galaxis. Zürich, Berlin (Kein und Aber Pocket) 2017, S. 71/72.

Auch zu hören als Podcast - bitte clicken Sie
hier

 

Als Kind habe ich sogenannte Wimmelbilder über alles geliebt. Stets ging es darum unter den schier unzähligen Figuren, die typische Alltagsszenen wie ein Freischwimmbad oder eine Einkaufsstraße bevölkerten, eine ganz bestimmte herauszufinden. In der Regel lautete die Frage: „Wo ist Klaus?“ Und dann begab ich mich auf eine zuweilen ebenso lange wie genussvolle Suche. Das für diesen „Nachklang“ ausgewählte Bild bietet zwar lediglich eine gut überschaubare Gruppendarstellung, stellt aber fast die gleiche Frage: Wo ist Jesus?“ Der gewählte Fotoausschnitt zeigt viel, insbesondere viel Gold im Hintergrund, nur nicht den in den Himmel emporgehobenen Christus.

Die von Adolf Trawöger, Rektor des Bildungshauses Schloss Puchberg und Freund aus meinen römischen Studientagen, „geschriebene“ Ikone versammelt die Jünger mit Maria im Zentrum. Bis auf die offensichtlich stets gut informierte Gottesmutter reagieren die Dargestellten auf die erklärenden Gesten zweier Engel mit eher fragenden, ja sogar leicht irritierten Blicken. Wo ist Jesus? Die Antwort auf seinen Verbleib ist offensichtlich uneindeutig: einer der Engel deutet nach oben zum Himmel, der andere hin zur Erde. Die suchenden Augen der Jünger gehen daher in unterschiedliche Richtungen: einige folgen dem Fingerzeig, andere schauen geradeaus und wiederum dritte wirken irgendwie teilnahmslos. Insgesamt gleichen die Jünger den Teilnehmern an einer Kunstführung, die mit unterschiedlichem Vorwissen und angestrengter Aufmerksamkeit den dargebotenen Ausführungen zu folgen versuchen.

Der verstellte Blick

Wo ist Jesus? Ihn findet, wer mit den Augen der Ostkirche und ihrer „himmlischen Liturgie“ auf diese Ikone schaut. Es gibt in der Ostkirche keine Ikone, die nicht auf goldenem Hintergrund gemalt wäre. Gold ist in der Ostkirche die Farbe des Himmels. Und sie ist überzeugt: von diesen Bildern her leuchtet ein Stück Himmel in das Leben der Menschen hinein. Je intensiver ich vor den Ikonen bete und mich mit ihnen beschäftige, desto deutlicher leuchtet mir das wahre Bild von Gott und Jesus auf. Durch die Ikone wird die himmlische Welt jetzt schon präsent und wirksam. Das heißt, je mehr meine Suche zum Gebet wird, desto mehr erkennt sie Jesus im tragenden Goldhintergrund. Das klingt einfacher als es ist. Ich suche nach Jesus, weil ich ihn nicht sehen, wahrnehmen oder begreifen kann.

Häufig ist, ja wird mir der Blick auf ihn regelrecht verstellt. Die von vielen als solche wahrgenommene Unglaubwürdigkeit kirchlicher Verkündigung leistet hierbei genauso „ganze Arbeit“ wie die „Gott-mit-uns-Kriegspredigten“ des russischen Patriarchen und seiner geistig-geistlichen Ahnen in allen christlichen Konfessionen. Es fällt mir nicht selten schwer, bei all dem, was mich in meinem Erleben als Zeitgenosse ohnmächtig und wütend zurücklässt, noch bis auf den goldenen Hintergrund im wahrsten Sinn des Wortes durchzublicken.

Durchschimmern

Verrückterweise gibt es aber eine zweite, nämlich die umgekehrte Blickrichtung. Von Ikonen heißt es, dass sie Fenster zum Himmel sind. So wie ich zum Fenster hinaussehe und den Himmel erblicke, so schaut durch das gleiche Fenster der Himmel auch herein. In diesem Sinn schimmert der Goldhintergrund einer Ikone gewissermaßen aktiv durch. Es ist ein Geschenk, dieses „Durchschimmern“ wenigstens erahnen zu können. Manchmal sehe ich es, wenn sogenannte Kirchendistanzierte und in zunehmender Zahl auch Ungetaufte mit großer Überzeugung und Selbstverständlichkeit – so wie ich es wahrnehme – ethische Werte des Evangeliums für ihr Leben als Maßstab benennen und danach handeln. Ähnlich wie viele, die aus der Kirche austreten und sich doch weiterhin in einem christlichen Geist z.B. caritativ engagieren. Genauso scheint für mich Gott im Auf und Ab einer ganzen Reihe von Lebensgeschichten mir vertrauter Menschen durch. Und Gott schimmert in diese Welt hinein, „wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen … wo Menschen sich verschenken, die Liebe bedenken … wo Menschen sich verbinden, den Hass überwinden und neu beginnen, ganz neu“ (Christoph Lehmann).

Wo ist Jesus? Christi Himmelfahrt ist für mich die bleibende Aufforderung, hinter den so oft verstörenden und beängstigenden Wimmelbildern meines Lebens und Erlebens zumindest ein Schimmern des goldenen Hintergrundes zu erahnen. Hier und deshalb immer wieder woanders wird Jesus zu finden sein.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Nach der Geburt ihres dritten Kindes ließ meine jüngere Schwester ein neues Türschild anfertigen. Auf ihm war zu lesen: „Hier leben, lieben und streiten“, gefolgt von den Namen der Eltern und Kinder. Meine Mutter empfand diesen Hinweis an der Wohnungstür lange Zeit als deplatziert. Schließlich gehe es niemanden etwas an, was in den eigenen vier Wänden vor sich ginge. Aber auch ohne das neue Türschild bekamen die Gäste dieser Familie relativ schnell mit, dass zu deren Zusammenleben unbedingt die Bereitschaft gehörte, Konflikte rechtzeitig anzusprechen und Lösungen zu suchen, mit denen alle Beteiligten nicht nur leben, sondern sich auch weiterentwickeln konnten.

„Hier leben, lieben und streiten“. Dieses Türschild kennzeichnet auch die rasant wachsende Gemeinschaft der ersten Christinnen und Christen in Jerusalem. Im zweiten Teil seines Doppelwerks beschreibt der Evangelist Lukas zunächst das Liebesideal, das diese Frauen und Männer versuchen zu leben: sie verschenken ihr Hab und Gut und lassen den anderen so viel zukommen, wie diese benötigen. Sie praktizieren damit anfangshaft die Idee einer am Ende alle Menschen umfassenden Gemeinschaft, in der es keine Trennung mehr gibt zwischen Mitgliedern und Fremden, Drinnen und Draußen, Haben und Nichthaben.

„Seht, wie sie einander lieben“ – so fasst knapp 170 Jahre später der antike Kirchenschriftsteller Tertullian dieses Ideal zusammen. Er vergisst dabei, dass sich in der ersten Christengemeinde auch eine vorbildliche Konfliktkultur entwickelt hat. Lukas kann und will nicht kaschieren, dass es von Anfang an reichlich Anlass zum Streiten gab. In der Hauptsache hat sich diese frühe Gemeinschaft aus zwei Gruppierungen zusammengesetzt, die sprachlich und kulturell denkbar weit voneinander entfernt waren. Einheimische „Hebräer“ auf der einen Seite, „Griechen“ aus den Weiten des Römischen Reiches auf der anderen. Gemeinsam war ihnen der jüdische Glauben. Aber auch hier gab es tiefgreifende Differenzen in der Auslegung der Thora, des jüdischen Gesetzes.

Sehr schnell bekamen die Schwächsten, die Witwen unter den „Zugereisten“ den wachsenden Zwist zu spüren. Als ihr „Murren“ nicht mehr zu überhören ist und den Konflikt zusätzlich verschärft, nehmen die Apostel das Problem endlich in den Blick, klären dessen Ursachen und Umfang und entwickeln eine Lösung. Sehen, Urteilen, Handeln im besten Sinn des Wortes! In den weiteren von Lukas geschilderten Auseinandersetzungen wird sich zeigen, dass dieser Dreischritt gewissermaßen die DNA des Urchristentums bildet. Sie ist der Kern einer Konfliktkultur, in der sich die streitenden Parteien auf Augenhöhe begegnen, die Differenzen ernst nehmen und zu Lösungen finden, die ebenso pragmatisch wie weitreichend sind. Im Fall der vernachlässigten Witwen besteht der Ausweg darin, dass den „Griechen“ eine weitreichende Autonomie innerhalb der frühchristlichen Gemeinschaft ermöglicht wird. Die Apostel veranlassen hierzu die Wahl von sieben Männern in leitender Verantwortung und stoßen so die Entwicklung einer eigenständigen, Griechisch sprechenden Gemeinschaft an.

„Seht, wie sie miteinander streiten“. An der Frage einer bewusst praktizierten Konfliktkultur entscheidet sich für kleine und große Gemeinschaften, Gemeinden und Verbände Sein oder Nicht-Sein. Ein wichtiger Lebensvollzug dieser Kultur besteht darin, das „Murren“ inner- und außerhalb der eigenen Reihen ernst zu nehmen und als Entwicklungsimpuls zu begreifen. Wo dies gelingt, dort darf auch ein Türschild wie an der Wohnung meiner Schwester hängen.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Mehr als ein Fünftel der Deutschen fühlt sich häufig einsam. Dies hat eine von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2021 ergeben. Die ihr zugrundeliegende Umfrage fand 2018 und damit unmittelbar vor Corona statt. Die Pandemie selbst hat diesen Befund lediglich bestätigt und die schlimmen Folgen von Vereinsamung in ein krasses Licht gerückt. Jetzt, da wieder alles „normal“ läuft und massive wirtschaftliche Probleme auf vielen Menschen lasten, scheint das Thema „Einsamkeit“ ebenso wie der Virus verschwunden zu sein. Doch der Schein trügt! Denn die Auswirkungen von Einsamkeit und sozialer Isolationen betreffen abgesehen von einem hohen Prozentsatz an Seniorinnen und Senioren sowie nicht wenigen Kindern immer mehr Frauen und Männer in der Lebensmitte. Nicht zuletzt die wachsende Individualisierung von Arbeitszeiten und die starke Zunahme an flexiblen Arbeitszeitmodellen tragen hierzu bei. Die meisten Menschen verbringen nun einmal einen Gutteil ihres Lebens am Arbeitsplatz. Eine Vierzig- oder gar Fünfundvierzigstundenwoche sind nichts Ungewöhnliches.

Wer überwiegend im Homeoffice arbeitet und/oder ohne Bindung an ein Team, der droht über kurz oder lang in der sozialen Isolation zu landen. Wöchentlich wechselnde Arbeitszeiten mindern zudem stark die Möglichkeit, sich mit anderen in der Freizeit zu verabreden oder am Leben von Vereinen, Interessengruppen oder anderen regelmäßig sich treffenden Gemeinschaften teilzunehmen. Die Vereinsamung reicht mancherorts auch tief in einzelne Kirchgemeinden hinein. Besonders Hirtinnen und Hirten sind davon betroffen. Diese führen nicht selten eine von Überarbeitung geprägte Existenz, die für bewusste Gemeinschaftserfahrungen im nichtberuflichen Kontext kaum noch Freiräume bietet. Ich schreibe dies als ein über mehr als drei Jahrzehnte hiervon Mitbetroffener. Gleiches gilt für Menschen in Pflegeberufen oder in Schichtarbeit.

Das am vierten Sonntag in der Osterzeit vorgelesene Evangelium bietet alljährlich mit dem Bild vom „Guten Hirten“ und den Schafen den Gläubigen ein zwar immer diskutiertes, insgesamt aber auch zu Herzen gehendes Bild für Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit an. Gleichzeitig sichert es die Einmaligkeit und Entscheidungsfreiheit der einzelnen und des einzelnen: Jesus kennt jede und jeden beim Namen. Er bringt damit zusammen, was bei mir oft auseinanderklafft: als Individuum frei zu sein und doch zu einer Gemeinschaft gehören zu wollen. Es sollte in einem Verband oder einer Gemeinde zur gelebten Praxis gehören, diesen Widerspruch im Sinne Jesu zu lösen und damit der Vereinsamung in den eigenen Reihen und darüber hinaus die Stirn zu bieten. Dies beginnt damit, Einsamkeit als Phänomen zu entstigmatisieren und ihre schlimmen Folgen ernst zu nehmen: Menschen dürfen darauf hinweisen, einsam zu sein und dürfen mit offenen Armen, einer ihnen dargebotenen Hand und einem niederschwelligen Willkommen rechnen. Das Evangelium vom Guten Hirten und seiner Herde weist eindringlich darauf hin, dass jede und jeder von uns Beachtung, Respekt und Fürsorge braucht. Jede und Jeder von uns ist auf Vertrautheit und Beziehung existenziell angewiesen. Es wird höchste Zeit, dass Kirchgemeinden, Verbände und viele andere kirchliche Vergemeinschaftungsformen sich endlich darauf besinnen, im Sinne Jesu Menschen ohne Ansehen der Person Beziehung und immer die wieder die heilsame Erfahrung von Freiheit und Geborgenheit anzubieten. Gemeinsam statt einsam!

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

„Lass sie doch reden!“ Wer sich so äußert, ist an der Meinung anderer nicht interessiert. Im Gegenteil: sie oder er geht den eigenen Weg und folgt ohne Rücksicht auf Einwände, Anmerkungen oder Kommentare von dritten persönlichen Zielen. Drei österliche Zuhörgeschichten drehen die Redewendung nun in eine völlig andere Richtung.

Erste Zuhörgeschichte. Wenn der Auferstandene die Menschen „reden lässt“, dann verkehrt sich der landläufige Sprachgebrauch dieser Formulierung ins glatte Gegenteil. Jesus erkundigt sich danach, was den Jünger und die Jüngerin(1)bedrückt, die im Schatten des Karfreitags tief verstrickt in ihre persönliche Enttäuschung nur noch fort wollen vom Ort des absoluten Unglücks. Ihn interessiert wirklich, was sie bewegt und er lässt sie reden. So können sie endlich von ihrer tonnenschweren Herzenslast sprechen und sie dürfen im wahrsten Sinn des Wortes ausreden. Natürlich weiß er über das, was zwischen dem sogenannten letzten Abendmahl und der Kreuzigung passiert ist, bestens Bescheid. Seine Frage zielt psychologisch klug auf die persönliche Sicht seiner Gesprächspartner: wie fühlt sich der Absturz in die dunkelste Hoffnungslosigkeit für die beiden an? Indem sie es ihm erzählen, werden sie sich ihrer wahren Gefühle und Abgründe erst in vollem Umfang bewusst. Sie reden ganz auf sich konzentriert und bringen die persönlichen Konsequenzen der Tragödie des Karfreitags endlich ins Wort. Ihr Lebensentwurf ist schlichtweg zerbrochen und sie selbst scheinen im wahrsten Sinn des Wortes heimatlos geworden. Da hilft auch nicht die offensichtlich absurde Mitteilung vom leeren Grab. Dem Augenschein nach gibt es gerade für die beiden keine härtere Tatsache als den Tod selbst und ein Verstorbener ist die Ursache für ihre lähmende Enttäuschung. Lukas beschreibt am Ende der Geschichte, welcher Wandel in der Jüngerin und Jünger sich durch das endlich Reden-können und das wirkliche Zuhören Jesu Bahn gebrochen hat. Angesichts des heraufziehenden Abends denken beide auf einmal nicht mehr nur an sich, sondern an den Fremden. Sie wissen, wo sie über Nacht bleiben, aber der Fremde?

Zweite Zuhörgeschichte. Ein Leben lang war die als Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2020 spät berühmt gewordene Schriftstellerin Helga Schubert mit ihrer Mutter im Clinch. Sie tat sich schwer mit dem vierten Gebot, ihre Mutter zu lieben. So fuhr sie in den Norden Deutschlands, suchte eine Kurseelsorgerin auf und vertraute dieser ihr Unglück an: sie könne ihre Mutter nicht lieben. Die Seelsorgerin führte sie zu einem neuen Verständnis des Gebots: sie brauche die Mutter nicht lieben, sondern lediglich zu ehren. Und das tue sie ja, indem sie sich um sie kümmere. Ein Zentnergewicht fiel ihr vom Herzen(2). Eine Ostererfahrung, weil erneut ein bedrückter Mensch reden konnte und befreiendes Zuhören erlebt hat.

Dritte Zuhörgeschichte. 65 LKW-Fahrer aus Usbekistan und Georgien haben seit Wochen keine Zahlungen von dem Unternehmen erhalten, für das sie arbeiten. Daher sind sie in Streik getreten und haben ihre Lastwägen an der Autobahnraststätte Gräfenhausen nahe Darmstadt (A5) abgestellt. Von dort aus wollen sie mit ihrem Arbeitgeber verhandeln. Der Konflikt zieht sich seit einigen Wochen hin und drohte am Karfreitag wegen eines vom Unternehmen eigens entsandter Schlägertrupps zu eskalieren. Von Anfang an hat sich die Betriebsseelsorge verschiedener süd- und westdeutscher Diözesen dieser bis aufs Blut ausgebeuteten Arbeitnehmer angenommen. Neben den vielen Menschen, die den Fahrern ihre Solidarität bekunden und Lebensmittel und weitere überlebenswichtige Artikel bringen, gibt es Frauen und Männer, die teilweise eigens Georgisch und Usbekisch gelernt haben und so durch ihr gutes Zuhören den Streikenden die vielleicht größte Unterstützung bieten. Wie diese Geschichte ausgeht bleibt trotz erster Lohnnachzahlungen wohl noch länger offen. Aber Ostern hat sich auch am Rande der Autobahn zumindest erahnen lassen.

Ja, lassen wir die Leute wirklich reden und hören wir ihnen so gut wie nur möglich mit aller Empathie zu. Schreiben wir endlich unsere eigenen österlichen Zuhörgeschichten!

(1) Vom griechischen Bibeltext her ist die Lesart von Lk 24,13 mit „Jünger und Jüngerin“ möglich. Inhaltlich begründet sie sich mit der außerordentlichen Wertschätzung, die der Evangelist Lukas den Frauen in seiner Jesus-Geschichte entgegenbringt, und der hohen Bedeutung, die er ihnen als Zeuginnen der Frohen Botschaft beimisst.

(2) Helga Schubert, Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten, München 2020.

Stellen Sie sich vor, sie müssten bei einem Quiz pantomimisch Ostern darstellen. Vermutlich würden Sie je nach Brauchtum vor Ort das Suchen und Finden von Osternestern in Szene setzen, Ostereier „trudeln“ lassen oder als Osterhase herumhoppeln. Mir persönlich fallen zu Ostern aber ganz andere Gesten ein: ich würde entsetzt dreinblicken, dann auf die Knie sinken, die Hände vors Gesicht schlagen und schließlich ziellos davonlaufen. Sicher, niemand würde erraten, dass es sich hierbei um Ostern handelt. Aber mit meiner Darstellung bin ich nahe bei den Hauptfiguren der Osterevangelien und ihren Reaktionen auf das Unfassbare und den im wahrsten Sinn des Wortes Unbegreiflichen.

Die Frauen am Grab, die Jüngerinnen und Jünger – das sind in erster Linie Menschen, die Ostern zunächst einmal ratlos, frustriert und zweifelnd, ja sogar zum Teil in Panik zurücklässt. Manche laufen wie die beiden sogenannten „Emmausjünger“ in ihrer Enttäuschung einfach davon, andere verkriechen sich mit ihren unbeantworteten Fragen, dritte kommen fast um vor Angst. Sie alle sind für mich nahe dran an der Gefühlswelt, die ich rund um das diesjährige Osterfest erlebt habe: Menschen, die durch die Schreckensbilder und -nachrichten aus der Ukraine beständig aufgewühlt werden (Stichwort „Enthauptungsvideo“); Menschen, denen das persönliche Erleben von Gewalt die Sprache raubt; Menschen, denen angesichts der lebensbedrohlichen Erkrankung nächster Angehöriger die eigene Lebensenergie versagt. Und dann immer wieder Frauen und Männer, denen es mit unserer Kirche einfach „zu viel wird“ und die „das alles“ einfach nicht mehr glauben können. Weder die Frohe Botschaft noch das unerträgliche Verhalten von Verantwortungsträgern.

Eine zweite stumme Ostergeste fällt mir ein: die des geduldigen Nachgehens, ja des beharrlichen Hinterherlaufens. Denn nichts anderes macht der Auferstandene. Er ist der Wanderer, der an den Enttäuschten dranbleibt und das Gespräch mit ihnen sucht. Er bleibt unaufdringlich in ihrer Nähe und nimmt es nicht persönlich, wenn er abblitzt. Gründe für eine Ablehnung gibt es viele. Nicht wenige Gespräche enden nach wenigen Augenblicken im Sinne des knallharten Statements des Apostels Thomas: „Wenn ich nicht sehe, glaube ich nicht, glaube ich überhaupt nichts!“ Wie er sprechen viele, deren Liebe, Begeisterung oder Engagement nicht nur durch die Kirche brutal ausgenutzt worden ist. Frauen und Männer, die einmal alles auf eine Karte gesetzt haben und danach aus allen Wolken gefallen sind, lassen sich nicht mit noch so gut gemeinten Hinweisen oder gar dem „Tröstungs-Buisiness-as-usual“ besänftigen. Menschen wie sie, die nachhaken und den Finger in die offenen Wunden legen, sind ein Geschenk für die Glaubensgemeinschaft. Genauso tun sie auch unserer Gesellschaft gut. Wir brauchen sie!

Nachlaufen, Dranbleiben, Hinhören, Zweifel ertragen und einfach dasein. Für mich sind dies die zentralen Bestandteile einer Gebrauchsanleitung für österliches Leben. Sind wir in diesem Sinne wachsam für das, was um uns herum, aber auch in uns selber geschieht! Machen wir die Ohren auf! Seien wir mutig im Zuhören! Widerstehen wir der Versuchung gut geölter Durchhalteparolen! Werden wir in Haltung und Handeln österliche Menschen.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

 

Hand aufs Herz: haben Sie Angst vor bestimmten Fragen? Die Frage, die ich persönlich am meisten fürchte, lautet: Glaubst du, dass es ein Leben nach dem Tod gibt? Diese Frage wird regelrecht bohrend, wenn sie mir ein Mensch stellt, der wie mein gestern noch so rüstiger Vermieter seit heute weiß, dass er bald an Krebs sterben kann. Er, ein Mensch, der erklärtermaßen ein Leben lang eine gut gepflegte Skepsis gegenüber Glaubensdingen entwickelt hat und mich nun fragt: Du mit Deiner Expertise als Theologe und Seelsorger, glaubst Du, dass ich nach dem Tod leben werde? Womöglich hat sich die eine oder der andere von Ihnen auch schon mit genau dieser Frage konfrontiert gesehen. Sie schnürt einem in dieser Härte förmlich die Luft ab. Mir jedenfalls geht es so. Klar: In den jungen Jahren meines Berufs hatte ich einige gut geölte und beim ersten Hören vielleicht sogar griffige Sätze parat wie z.B. „der Tod ist eine Beleidigung für das Leben, das Leben aber hat das letzte Wort, das Leben in Christus“. Aber nach mehr als drei Jahrzehnten Berufserfahrung an Sterbebetten und trostlosen Angehörigen stockt mir die Sprache.

Osterzeugen mit Biographiebrüchen

Das was ich über meinen persönlichen Glauben an ein Leben nach dem Tod sagen kann, habe ich einer Handvoll Osterzeuginnen und Osterzeugen in meinem bisherigen Leben zu verdanken. Ja, Sie haben richtig gehört, Osterzeuginnen und Osterzeugen gibt es auch heute, genauso wie die Frauen am leeren Grab und wenig später auch die anderen Jünger Jesu. Meine Osterzeuginnen und Osterzeugen haben eines gemeinsam: mindestens eine Macke, einen Knick, häufig sogar einen oder mehrere Brüche in ihrer Biographie. Zwei davon waren Priester aus meinem Würzburger Jahrgang, die nach ihrer Heirat lange um ihren Glauben und ein versöhntes Verhältnis zu ihrer Kirche haben kämpfen müssen. Heute tun beide in therapeutischen Berufen viel dafür, dass andere Menschen persönliche und fremde Verwundungen annehmen können: österliches Wirken im besten Sinn des Wortes. - Eine römische Mitstudentin hat sich nach einer jahrzehntelangen Suchtkarriere in ein stabiles und für sie gutes Leben zurückgekämpft: eine Osterzeugin. - Ich denke aber auch an einen Schulkollegen, der sich nach einer fast tödlichen Krankheit beruflich neu orientiert hat. Er hängte seinen Managerjob bei einem großen Sportartikelhersteller zugunsten der sportlichen Betreuung benachteiligter Jugendlicher an den Nagel. Und schließlich der gemobbte Abteilungsleiter bei einem großen Automobilzulieferer in Aschaffenburg, den ich nach seinem Suizidversuch als hochengagierten Initiator einer Selbsthilfegruppe für andere kaputtgemachte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kennengelernt habe. Die Glaubwürdigkeit dieser Menschen besteht darin, dass sie gegen alle Wahrscheinlichkeit in ihrem beschädigten Leben zu Werten und Überzeugungen gefunden haben, die ihnen Halt in aller Bedrohung, ja sogar angesichts des Todes geben. Alle diese Menschen scheinen ganz persönlich von etwas berührt und angesprochen zu sein, das größer ist alles Zerstörerische. Für mich als Christ ist es mehr als ein „Etwas“, es ist ein ansprechender „Jemand“: der Gekreuzigte und Auferstandene. Er spricht mich an, selbst wenn alle anderen von mir nur noch als von „dem da“ oder unter Benutzung einer herabsetzenden Bezeichnung reden.

Beim Namen genannt

Genau deshalb ist auch Maria von Magdala für mich die wichtigste Osterzeugin überhaupt. Weil sie öfters als die sogenannten „normalen“ Menschen das Zerbrechen ihrer Wünsche, die Zerstörung ihrer Lebenspläne erlebt hat, weil sie die Erfahrung der Erniedrigung erlebte, weil es ihr im Leben dreckig ergangen ist – wie den ausgegrenzten verheirateten Priestern, wie der suchtkranken Mitstudentin, wie dem totkranken Manager und dem gemobbten Abteilungsleiter –, weil ihr also der Boden unter den Füßen öfters entzogen wurde, hat sie die Nennung ihres Namens in der Tiefe ihres Herzens berührt: „Maria“ – denn so heißt es in der Fortsetzung des Osterevangeliums nach Johannes, in der sie Jesus begegnet. Sie erlebt das ehrliche Angesprochenwerden beim Namen als jenen Wert, der sogar die Grenze des Todes überschreitet. Sie, die sozial schon tot war, findet durch die Begegnung mit Jesus zum Leben. Deswegen ist sie die Erste, die den Auferweckten wiedererkennt und überzeugend sagen kann: Gott hat ihn auferweckt. Und sie bezeugt dies den „Großkopferten“, den von ihrem Stand überzeugten Aposteln und heute den Studierten mit ihren geölten Antworten.

Winzig sind die Argumente des Lebens, aber …

Ja, ich habe Angst vor der Frage nach meinem persönlichen Glauben an ein Leben nach dem Tod. Denn ich erlebte und erlebe mich mitunter auch noch heute als jemand, dem es als Teil einer religiösen Institution mehr darum geht, Religion zu organisieren als um den persönlichen Einsatz für die Hoffnung, die den Tod überlebt. „Glaubst du, dass Er auferstanden ist?“ „Glaubst du, dass du selber auferweckt werden wirst?“ Diese Fragen stellen nicht nur Menschen, die mit ihrem bisherigen Lebenskonzept auf einmal in der Luft hängen.

Ja! Ich glaube und ich glaube dies auch deswegen, weil Menschen mit Brüchen und Narben in ihren Lebensgeschichten manchmal sehr glaubwürdige Zeuginnen und Zeugen für die Auferstehung sein können. Weil sie, die sie schon so oft tot waren, tot für ihre Mitmenschen und auch tot für sich selber, diese alles umkrempelnde Erfahrung des Neubeginns gemacht haben. Und ich glaube auch, weil jene, die um den letzten Atemzug ringen, sehr oft daran glauben und deswegen auch versöhnt und in Frieden sterben können. Ja, das ist fast nichts, was ich der gefürchteten Frage entgegenhalten kann. Aber für dieses armselige Etwas an Antwort gilt:

winzig sind stets die Argumente
des Lebens
gegen den Tod
- aber sie stechen.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Auch zu hören als Podcast - bitte clicken Sie
hier

 

Er ist so etwas wie die Anziehpuppe in der katholischen Heiligenschar. Weil ihn die Heilige Schrift nur am Rande erwähnt, bietet der Ehemann Marias und der Ziehvater Jesu die bestmögliche Projektionsfläche für zeitgenössische Idealisierungen und Zuschreibungen. Er schweigt dazu. Manche seiner Kleider sind exklusiv wie z.B. die des Nährvaters Jesu und des Bräutigams seiner Mutter. Andere hingegen spiegeln den Wandel der ihm zugedachten Rollen im Lauf der Jahrhunderte wider: zunächst erscheint er in Aufmachung eines meistmüden älteren Mannes, der dann im Mittelalter zum braven Arbeitsmann mutiert. Zu Beginn der Neuzeit sehen die Gläubigen in ihm zunehmend mehr den Typus eines väterlichen Menschen, der für Recht und Ordnung eintritt. Gleichzeitig wird er in den Darstellungen immer jünger. Wenig später beginnt er als Handwerker und Wahrer der entsprechenden Tradition Karriere zu machen. Im 19. Jahrhundert trägt er dann die Kleider des Antirevolutionärs. Als Kirchenpatron schützt er die Kirche im 20. Jahrhundert gegen den Weltkommunismus und wird zum wichtigen Helfer im Kalten Krieg. Für die KAB und das Gesamt der christlichen Arbeiterbewegung steht Josef, der Arbeiter, im Vordergrund.

Mir ist eine Beschreibung des Heiligen Josef aus einer „Werkvolkpredigt“ der späten 1940er Jahre besonders sympathisch: hier wird er als Vorbild jener Menschen charakterisiert, die nicht durch „das leere Wort, hinter dem nichts steht und auf das kein Handeln folgt“, sondern die durch „eine Summe kleiner, kleinster alltäglicher Taten … allmählich eine ganze Welt in Bewegung“ setzen. Statt „vieler Worte eine ganz kleine, stille, schlichte Tat jeden Tag – die Welt wird gewandelt.“(1) Eine der wesentlichen Aufgaben der KAB war und ist es, auf die vermeintlich „kleinen Leute“ im Wirtschafts- und Produktionsalltag in unserem Land und weltweit hinzuweisen. Es gehört zu ihrem Wesenskern, für die Rechte und den Schutz insbesondere von Arbeitenden in den unteren Tarifgruppen, aber auch in atypischen Beschäftigungsverhältnissen umfassend einzustehen. Für die KAB ist der Heilige der Schutzpatron der Frauen und Männer in der zweiten und dritten Reihe.

Mit dem Heiligen Josef bitten die KABlerinnen und KABler darum, dass Vorgesetzten endlich die Augen für die Leistungen aus den „unteren Etagen“ geöffnet werden. Nicht selten werden in den Führungsetagen Entscheidungen nicht aufgrund der guten Ergebnisse ungezählter Mitarbeitender, sondern mit Blick auf die brillante Selbstdarstellung einzelner Kolleginnen und Kollegen getroffen, die den Erfolg für sich alleine beanspruchen. Bitten wir den Heiligen Josef darum, dass die vielen kleinen und oft mühevollen Arbeitsschritte und die als unscheinbare Glieder der Wertschöpfungskette Tätigen besser gesehen und gewürdigt werden. Es sind vor allem ihr Fleiß und ihre Loyalität, die einem Unternehmen zu einer guten Performance verhelfen, nicht aber jene, die die Leistungen anderer für ihr eigenes Fortkommen absahnen oder im Sinne knallharter Gewinnmaximierung regelrecht auspressen. In Extremform wird in diesen Tagen die betriebserhaltende Arbeit jener, die über Jahre durch ein Übermaß an Engagement und harten Verzicht für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze gekämpft haben, von den Investoren der Galeria-Kaufhäuser als bedeutungslos und aus der Zeit gefallen diffamiert.

Hier hilft nur noch die Vergegenwärtigung der Revolution, die die Frau des Heiligen Josef besungen hat: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Es ist gefährlich, den Heiligen Josef zu unterschätzen. Als Teil der alle Verhältnisse umstürzenden Geschichte des Gottessohns trägt er von Anfang auch die Kleider des Aufstands gegen Anmaßung und Unmenschlichkeit.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Dietmar Grypa, Die Katholische Arbeiterbewegung in Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1963, Paderborn 2000, 203

 

Schnellwaschmittel und Schmutzfaktor in einem

Gesprächsbereitschaft ist ein Schnellwaschmittel. Wer sie rechtzeitig signalisiert oder im Nachhinein für sich behauptet, hat gute Chancen, in der Öffentlichkeit mit sauberer Weste dazustehen. „Wir wollten ja reden, aber die anderen …“ Wir, das sind die Tarifparteien zu Beginn der Verhandlungen, Prozessgegnerinnen, Parteimitglieder, Verbandsmenschen usw. Freilich: Wer gesprächsbereit ist, muss deshalb noch lange nicht an Lösungen, geschweige denn an einem neuen Miteinander interessiert sein. – Denn auch das ist eine Tatsache: Ernsthafte Gesprächsbereitschaft macht schmutzig. Wer sie konsequent praktiziert, setzt die eigene „reine Lehre“ aufs Spiel oder die Beschädigung seiner bislang „alleinseligmachenden“ Sicht der Dinge. Deshalb verlassen immer wieder vermeintlich gesprächsbereite Frauen und Männer selbst nach Jahren die von ihnen mitgeprägten Dialogprozesse, sobald es um die Formulierung ebenso verbindlicher wie für beide Seiten schmerzhafter Kompromisse geht. Wer diese mitträgt, gilt bei seinesgleichen schnell als angeschlagen, gerne auch als abtrünnig und damit für „höhere Weihen“ in jeglicher Hinsicht untauglich.

Bloßer Austausch von Worten

Leider ist die irrtümliche Annahme weitverbreitet, Gesprächsbereitschaft sei in der Hauptsache der Austausch von Worten. Im kirchlichen Kontext gilt es für manche schon als „Gespräch“, wenn sich die Beteiligten im selben Raum befinden und einer gemeinsamen Tagesordnung folgen. Zum Beispiel steht der von den Bischöfen und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken von 2011 bis 2016 angeleierte „Dialogprozess“ in diesem Sinn für virtuos inszenierte Harmlosigkeit. Gleichzeitig stellt er ein kommunikationspsychologisches Meisterstück des Monologisierens vor großem Publikum dar. Wird bei der unter dem Label „Synodaler Weg“ Ende 2019 ins Leben gerufenen Nachfolgeveranstaltung mehr herauskommen? Wie viele der sich vom 9. bis 11. März in Frankfurt zu dessen Abschluss versammelnden Mitglieder haben sich in den vergangenen Jahren durch die Begegnungen und Gespräche mit der Gegenseite auf dem gemeinsamen Weg verändern lassen? Bei wem haben die erlebten Irritationen zu einem Sinneswandel und nicht nur zu einer Bekräftigung der eigenen Position geführt? Nach den mehr oder weniger spektakulären Mandatsaufgaben einiger Beteiligter in den letzten Wochen und angesichts des sich mit Rom zuspitzenden Konflikts über die Rechtmäßigkeit einer selbstverpflichtenden Verstetigung namens „Synodaler Rat“ stellt sich zudem die Frage, in welchem Maße die finalen Beschlüsse der Versammlung auf Dauer zu einer Befriedung in der Kirche beitragen und ihre Position in der Öffentlichkeit stärken können.

Eine andere Welt ist möglich

In der vom heutigen Sonntagsevangelium skizzierten Ausgangssituation konnten die ersten Hörerinnen und Hörer getrost davon ausgehen, dass sich die Protagonisten, Jesus und die namenlose samaritanische Frau einfach anschweigen würden. Alles andere hätte wenigstens zu starker Verwunderung Anlass gegeben (vgl. Joh 4,27): den Jüngern raubt daher das abnorme Verhalten Jesu schlichtweg die Sprache. Es gab grundsätzlich nichts zu besprechen zwischen Juden und Samaritanern. „Juden hatten keinen Umgang mit Samaritanern“, wörtlich übersetzt, „sie benutzten nichts gemeinsam“ (Joh 4,9). Ja häufig gingen Juden auf der Reise zwischen Judäa und Galiläa selbst der bloßen Begegnung mit den „Ketzern“ im wahrsten Sinn des Wortes aus dem Weg und wählten dafür lange Ausweichrouten. Aber auch zwischen einer Frau und einem Mann gab es nicht nur in der Mittagshitze vor dem Stadttor nichts zu besprechen. Beide sind sich des doppelten Tabubruchs bewusst, als sie gegen alle Wahrscheinlichkeit und Konvention ins Plaudern kommen. Sie reden einfach miteinander. Durst ist das Thema, Durst in jeder Beziehung. Und so erlebt die Frau in Jesus den Mann, der endlich mit ihr (und nicht moralisierend über sie oder an ihr vorbei) spricht. Sie kann sich endlich zu ihrem Durst nach Annahme und Zuwendung und damit nach einem gelingenden Leben bekennen. Ich stimme der Berliner Theologin Eva-Maria Bohle zu, wenn sie anmerkt, wie kunstvoll die beiden aneinander vorbeireden und sich dabei in einem Flirt über Wasser und Gebet eine hinreißende Vision vom Reich Gottes entwickelt. Der Messias wird den Durst nach Leben stillen und dies geschieht: Jetzt. Dieses „Jetzt“ kommt ohne das ermüdende Spiel von Gesprächsbereitschaft und -verweigerung, ohne langwierige Verhandlungen und Schluss-Kommuniqués aus. Mögen Laien und Bischöfen dieses „Jetzt“ genauso geschenkt werden, wie es Eva-Maria Bohle schildert: „Hier an diesem Brunnen tut sich der Himmel auf: Nicht morgen. Jetzt. Denn es gibt kein Morgen. Es gibt immer nur den Augenblick, und in dem kann sich der Himmel auftun. Himmel bedeutet in diesem Fall: Kein Durst, kein Hunger, Mann und Frau begegnen sich auf Augenhöhe, moralische Vorbehalte sind obsolet, fremde Kulturen trennen nicht, religiöse Traditionen verlieren an Bedeutung. Wer betet, soll das im Geist und in der Wahrheit tun, Gemeinschaft entsteht. … Wichtig ist, dem Fremden den Durst zu stillen und zu glauben: Eine andere Welt ist möglich.“(1)

Nicht „Gesprächsbereitschaft“, sondern die Art des miteinander Sprechens und das Brennen für den Geist des Evangeliums macht diese andere Welt möglich. Alles andere ist nur heiße Luft.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Evamaria Bohle, „Durst löschen“, Morgenandacht im DLF am 25.3.2017: https://rundfunk.evangelisch.de/kirche-im-radio/morgenandacht/durst-loeschen-8730

 

„Endlich Freitag im Ersten“. Mit diesem Label eröffnet die ARD ihr Wochenendprogramm am Freitagabend. Eine Frau liegt nach einer vermutlich anstrengenden Arbeitswoche entspannt auf dem Teppich vor ihrer Couch und signalisiert den Betrachtenden, dass jetzt das Wochenende beginnt und damit die Zeitphase, in der keine Vorschriften, Pflichten und Konventionen gelten. Freiheit und Entspannung pur eben. Ein wichtiger Slogan für den Schutz des Sonntags klingt ähnlich: „Endlich Sonntag“. Ob das mit dem Freitagabend beginnende Wochenende oder speziell der Sonntag: immer geht es um Selbstbestimmung, Freiheit und Kräfteerneuerung. Wichtig ist, dass es ein unhinterfragbares Recht auf diese Zeit für mich selbst gibt.

Einige Hunderttausend Frauen und Männer in unserem Land haben aber nichts von diesem Recht. Weil sie finanziell (und auch ihre Familien) nicht über die Runden kommen, arbeiten sie häufig auch am Wochenende und nicht selten sogar an mehreren Sonntagen hintereinander. Für sie gibt es fast nur Werktage. Gleichzeitig sorgen aber ihre Dienstleistungen häufig dafür, dass wir von Freitag- bis Sonntagabend immer wieder einmal so richtig abschalten können. Gemeint sind in diesem Zusammenhang nicht all jene, die im Gesundheitsbereich, bei Feuerwehr und Polizei, in der Seelsorge oder anderen für das Funktionieren unserer Gesellschaft relevanten Aufgaben regelmäßig an Samstagen und Sonntagen arbeiten müssen. Im Focus dieses „Nachklangs“ stehen vielmehr Frauen und Männer, die in der Gastronomie, im Tankstellenservice, als Personal bei großen Kulturveranstaltungen oder als Hintergrundteams von automatisierten Läden, Hotlines und vielen anderen nicht überlebensnotwendigen Sektoren arbeiten. Der größte Teil von ihnen geht seinem Job im Rahmen einer sogenannten atypischen Beschäftigung nach. Das heißt, wie bald jede und jeder Fünfte in Deutschland verdienen auch sie ihr Geld entweder in Leiharbeit, Teilzeit, befristet oder in mindestens einem Minijob. All diese Tätigkeiten werden als „atypisch“ bezeichnet, da sie von dem „Normalarbeitsverhältnis“, einem unbefristeten Vollzeitjob mit Sozialversicherungspflicht, abweichen. Generell liegt in diesen Beschäftigungsverhältnissen der Lohn niedriger als in regulären Arbeitsverhältnissen. Ein völlig unterschätztes Problem und ein gerne übersehener Missstand stellt die Verteilung der Wochenarbeitszeit dar. Hier nun kommen endgültig all jene in den Blick, die in einem Zweitjob am Wochenende arbeiten müssen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Sie gehören zu den insgesamt mehr als 3,4 Millionen sogenannten Mehrfachbeschäftigten in unserem Land, die einen Zweit-, ja manchmal sogar einen Drittjob haben. Nicht wenige von ihnen verdienen in ihrem Hauptberuf gerade genug, um Miete und Ernährung finanzieren zu können. Erst durch die Zusatzeinnahmen aus ihren Zuverdiensten können sie sich das ein oder andere leisten, um gesellschaftlich halbwegs anschlussfähig zu bleiben. Doch ausreichend Zeit für Ruhe und Erholung oder gar, um sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, haben sie nicht. Immer wieder ist von Menschen zu hören, die am Wochenende bis zu zwölf Stunden, oft verteilt auf Samstag und Sonntag, z.B. in der Gastronomie, an der Tankstelle oder bei Eventanbietern arbeiten und am Montag mit ihrem Hauptjob einfach weitermachen: die Kanzleigehilfin mit zwei Kindern im Grundschulalter, die Samstag- und Sonntagabend als Garderobiere bei großen Events arbeitet; die  Postausträgerin, die am Wochenende an der Tankstellenkasse steht; der Hausmeister, der jeden Samstag bis in die Nacht Pakete ausliefert.

Es muss hier nicht eigens erläutert werden, dass regelmäßige Wochenendarbeit sowohl die eigene Gesundheit und Psyche als auch das Leben in privaten und gesellschaftlichen Beziehungen auf Dauer zerstört. Der ein wenig in die Jahre gekommene Begriff „Sonntagsschutz“ erhält mit Blick auf diese Menschen eine neue, sehr aktuelle zweite Bedeutung. „Sonntagsschutz“ kann auch meinen, dass wir am Sonntag jene Menschen schützen, ja schützen müssen, die für unsere Bequemlichkeit ihr eigenes Wochenende knicken. Menschen, denen genauso wie uns ein Leben zusteht, das nicht nur aus Arbeit besteht. Diese Frauen und Männer müssen sich im wahrsten Sinn des Wortes genauso wie wir das freie Wochenende samt Sonntag endlich leisten können. Dazu braucht es eine faire Bezahlung gerade in minderqualifizierten Jobs und gezielte Hilfen wie z.B. die bedingungslose Kindergrundsicherung. Zu hinterfragen sind aber auch einige unserer Konsumgewohnheiten. Dann können wirklich alle Menschen in unserem Land sagen, „Endlich Sonntag!“

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Diesen Nachklang gibt es auch als Podcast zu hören

Die Bibel, kein Buch für Ökonomen?

Richtig, Zara Leander fragt in ihrem vielleicht berühmtesten Liedtitel nicht nach Konsum, sondern nach Liebe und die bietet nach kirchlicher Auffassung bekanntermaßen eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Sünde. Anders der Konsum. Von sündigenden Konsumenten ist im Katechismus nur spärlich die Rede. Daher bieten gerade die ersten Seiten der Bibel eine unerschöpfliche Lektüre für Moraltheologinnen und Moraltheologen, nicht aber für Ökonomen. Was soll denn schon dabei herauskommen, wenn diese die Heilige Schrift von vorne zu lesen beginnen? Nicht viel, möchte man vermuten. Schließlich bietet die sich dort entfaltende Erzählung von der Schöpfung der Welt, der Erschaffung des Menschen, vom Paradies und dem Einzug des Bösen in unser Leben genau das Gegenteil von den präzisen Zahlen, die für Wirtschaftswissenschaftlerinnen und ihre Kollegen so essenziell wichtig sind. Ganz anders verhält es sich beim Chefvolkswirt der tschechischen Handelsbank Tomás Sedlácek. Seine 2009 erstmals erschienene „Ökonomie von Gut und Böse“(1)beschäftigt sich auch unter Berufung auf das Buch Genesis (und weitere religiöse sowie kulturgeschichtliche Quellen vom Gilgamesch-Epos bis zur modernen Pop-Kultur) ausführlich mit wirtschaftsethisch hochrelevanten Fragen: Zahlt es sich aus, Gutes zu tun? Ist Eigennützigkeit angeboren? Ist Eigennützigkeit von Bedeutung für das Gemeinwohl? Bis hin zu einem Nachdenken darüber, ob der Mensch im Kern gut oder böse ist.

Was ist Sünde?

Natürlich scheint der Hinweis auf diesen internationalen Bestseller deplatziert, schaut man auf die an diesem ersten Fastensonntag mit den Lesungen klar vermittelte Botschaft. Insbesondere die Erzählung vom „Sündenfall“ und das Evangelium von den Versuchungen Jesu nach seinem vierzigtägigen Fasten in der Wüste rücken die Verführbarkeit des Menschen zur Sünde in den Fokus der Aufmerksamkeit. Aber: Mit dem Begriff der „Sünde“ ist der Fehlinterpretation des vorgetragenen Abschnittes aus dem zweiten und dritten Kapitel des Buches Genesis in einer mehr als zweitausendjährigen Wirkungsgeschichte Tor und Tür geöffnet. Von „Sünde“ ist nämlich erst im Zusammenhang mit dem Brudermord im nächsten Kapitel die Rede: Zwischenmenschliche Gewalt ist die eigentliche, die „Wurzelsünde“. Erzählt wird an diesem Sonntag hingegen von der ersten Konsequenz, die sich für den Menschen aus der Erkenntnis von Gut und Böse ergibt, der Erkenntnis der eigenen Nacktheit. Sie gehört sozusagen zum Preis, den er für die nun gewonnene Möglichkeit, ethisch zu handeln, zu bezahlen hat(2). Mich regt die „Ökonomie von Gut und Böse“ bei meiner Auseinandersetzung mit den ersten Seiten der Bibel dazu an, über die Ethik meines Handelns als Konsument nachzudenken. Aufgrund der Erkenntnis von Gut und Böse sollte ich bedenken, dass jede meiner Kaufentscheidungen immer eine moralische Relevanz hat. Sedlacek stellt in diesem Zusammenhang z.B. die Frage nach dem klar gewollten Überkonsum: Es „wird mehrfach erwähnt, dass Adam und Eva 'die Frucht konsumierten'. Wir Ökonomen nennen das 'Überkonsum': Sie haben die Frucht nicht konsumiert, weil sie hungrig waren, sondern Lust darauf hatten. Und dasselbe gilt für den ersten materiellen Besitz in der Menschheitsgeschichte: Das ist das Tuch, mit dem Adam und Eva dann ihre Nacktheit verbargen. Sie taten dies wieder nicht aus Notwendigkeit, weil sie froren, sondern aus Scham. Der äußere Besitz ist ein Zeichen für ein inneres Ungleichgewicht."

Konsumieren und produzieren müssen?

Ein zweiter Aspekt. Unsere Konsumgesellschaft, so der Autor, könne man als den Versuch deuten, sich als Ersatz für die verlorene Harmonie des Paradieses einen säkularen "Himmel auf Erden" zu erschaffen. Als Beleg zitiert Sedlacek eine Stimme aus dem Psychothriller „Fight Club“ (USA 1999, Regie David Fincher) und interpretiert diese anschließend in Verbindung mit den Konsequenzen des „Sündenfalls“: "Wir gehen zur Arbeit, die wir hassen, um uns Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen. Ich füge noch hinzu: mit Geld, das wir nicht haben.“ Der Autor hält dies für die gelungenste Umschreibung des Fluches, mit dem Adam und Eva von Gott bestraft wurden:„Ihr müsst produzieren, um zu konsumieren - und konsumieren, um zu produzieren. Da euch das, was ich euch im Garten Eden gegeben habe, nicht genug war, soll euch nichts mehr genug sein. Der Fluch auf Eva ist - wieder in der Sprache der Ökonomie - der Fluch der Nachfrage: Sei niemals zufrieden mit dem, was du hast. Und der Fluch Adams ist der des Angebots: 'Arbeitet im Schweiß eures Angesichts, aber ihr werdet die immer neuen Wünsche nie stillen."

Konsum ohne Folgen?

Die Fastenzeit soll uns unter anderem helfen, unsere Verstrickungen in schuldhafte Kontexte und unseren Anteil an deren Zustandekommen bzw. deren Fortbestand einzusehen und uns aus ihnen nach Möglichkeit zu lösen. Der biblische Begriff für Umkehr lässt sich am besten mit „neu hinschauen“ übersetzen. In diesem Sinn muss ich erkennen, dass mein Konsum immer in einem Beziehungsgeflecht steht. Viele meiner wirtschaftlichen Entscheidungen wirken sich ausnahmslos in einem Netzwerk aus Kriegen um Rohstoffe und Absatzmärkte, Ausbeutung um des Maximalprofits willen und einer dauerhaften Schädigung der Umwelt aus. Sedlacek bietet einige frische Anregungen, um den eigenen Blick im Sinne konsumethischer Verantwortung zu schärfen und die schädlichen Konsequenzen des persönlichen Handelns zu reduzieren bzw. zu mildern. Neu erkennen eben.  Denn eines ist das persönliche Konsumverhalten mit Sicherheit nicht: jenseits von Gut und Böse. Und, ja: Konsum kann Sünde sein.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Die grundlegende Anregung verdankt dieser „Nachklang“ dem Beitrag von Rebecca Hillauer, Der Gott der Produktivität, am 13.2.2012 im DLF (https://www.deutschlandfunk.de/der-gott-der-produktivitaet-100.html)

(1) Tomás Sedlácek, Die Ökonomie von Gut und Böse (aus dem Englischen von Ingrid Proß-Gill), München 2012.

(2) Vgl. Ilse Müllner, Jenseits von Adam und Eva. Geschlechterdifferenz und Sündenfall in Genesis 1-3, in: Thomas Hieke/Konrad Huber (Hrsg.), Bibel falsch verstanden. Hartnäckige Fehldeutungen biblischer Texte erklärt, Stuttgart ²2020, 36ff.

Alles legal und trotzdem nicht ok? Dominik Enste, Leiter des Kompetenzfelds „Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik“ am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln erkennt einen deutlichen Wettbewerbsvorteil für Unternehmen, die nicht nur im Rahmen der bestehenden Gesetze Gewinne erwirtschaften, sondern auch durch moralisches Handeln punkten können (1). Immer mehr Kundinnen und Mitarbeiter legen als Maßstab für ihre Entscheidungen ethisch korrektes Verhalten an und suchen sich ihren Dienstleister oder Arbeitgeber unter diesem Gesichtspunkt aus. Gleiches gilt für ethisch orientierte Geldanlagen, für die zur absolut besten Sendezeit geworben wird. Für mich ist das neu. Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, in denen ein „kreativer Umgang“ mit rechtlichen Vorgaben als legaler Bestandteil einer Geschäftsstrategie galt, die nur Gewinn und Expansion kannte.

„Rein rechtlich ist alles in Ordnung, aber …“ Konzerne können sich dennoch weiterhin extrem unethisch verhalten. Auf die Gesinnung kommt es an! Am Ende ist es egal, ob ein Konzern mit der sprichwörtlichen weißen Weste dasteht oder nicht, wenn seine Handlungsmaxime einem Extremegoismus huldigt, der versucht, möglichst viel für sich herauszuholen. „Rein rechtlich“ kann alles in Ordnung sein, wenn Unternehmen weiterhin versuchen, Gewinne zu machen ohne Rücksicht auf den Schaden und das Leid, das andere dadurch erfahren. Große Firmen können Rekordgewinne erzielen und gleichzeitig Massenentlassungen ankündigen, die Belegschaften ihrer Standorte gegeneinander aufhetzen und durch knallharte Kontrollsysteme am Arbeitsplatz Furcht und Schrecken verbreiten. Alles legal!

„Nur legal“ im Sinne einer bloßen Beachtung von Gesetzen reicht auch Jesus nicht: ihm geht es in der Bergpredigt um die größere Gerechtigkeit. Seiner Forderung wir mehr oder weniger bewusst Folge geleistet, wenn Unternehmen selbstbewusst in aller Öffentlichkeit gut nachvollziehbar darstellen, wie sie ihre Gewinne erzielen. Denn selbst bei einem rechtskonformen Verhalten gibt es nach wie vor genügend Grauzonen und Spielräume, die nicht geregelt sind. Der hier stattfindende Prinzipienwandel beeindruckt mich. Genauso wie im unmittelbaren Zusammenleben dürfte auch im wirtschaftlichen Wettbewerb die bittere Erkenntnis vorherrschen, dass derjenige der Dumme ist, der sich an die Regeln hält. Es stimmt mich zuversichtlich, dass Unternehmen mit moralischem Verhalten punkten können, wenn sie ihre Gewinne nicht nur zur Befriedigung ihrer Anteileigner nutzen, sondern z.B. für soziale Anliegen und Innovationen reinvestieren. Gemeint sind damit Projekte, die das Leben von Menschen einfacher, sinnvoller und reicher machen. Sie sind für die Unternehmen selbst lohnend allein schon durch den positiven Geist, der dadurch entsteht (2).

„Nur legal“ ist hoffentlich bald passé!

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschland

(1) Dominik Enste am 31.5.2022 im Interview mit der Deutschen Handwerkszeitung: www.deutsche-handwerks-zeitung.de/wenn-unternehmen-legal-aber-unmoralisch-handeln-241319/

(2) Mehr dazu in: Friedrich Assländer/Anselm Grün, Spirituell arbeiten (Münsterschwarzach 2010), 93ff.

 

Die Überschrift für diesen „Nachklang“ klingt nicht gerade wie ein Satz aus den Lesungen zu diesem fünften Sonntag im Jahreskreis, sondern nach Lyrik um der Lyrik willen. Dem Sinn nach stammt der erste Teil des Titels aber nicht aus einem Gedichtband, sondern aus der Feder des litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas (1906-1995). Levinas spricht in vielen seiner Werke vom „Ich“ nur als „Mich“. Er begründet dies damit, dass Andere sich ohne Unterlass an mein „Ich“, also an mich wenden. Sie beziehen sich auf mich, rufen mich an, brauchen mich. Zugespitzt verstehe ich diesen Gedanken so, dass es den Menschen zuerst und in Vollendung nur als angesprochenes „Ich“ also als „Mich“ geben kann. Anders gesagt: von wirklichem Menschsein kann erst dann die Rede sein, wenn es sich den Belangen der Menschen, die uns begegnen, möglichst ohne Vorbehalt öffnet.

In den Worten eines unter dem Namen seines großen Vorgängers Jesaja überlieferten anonymen Propheten hört sich das im 5. Jahrhundert vor Christus so an: „Brich den Hungrigen dein Brot, nimm obdachlose Arme ins Haus auf, wenn du einen Nackten siehst, bekleide ihn und entziehe dich nicht deiner Verwandtschaft“ (Jes 58,7). Verwandtschaft meint hier mehr als familiäre Verbundenheit. Es geht im weitesten Sinn des Wortes um den Mitmenschen, der mich jetzt braucht. Es geht um soziale Verantwortung, insbesondere dem abgeschlagenen, und scheinbar ungehörten Anderen gegenüber. Es geht somit um Gott, denn Gott geht es immer um Beziehung. Deshalb hat er uns als „Wir“ erschaffen.

Die Zeit, in die der Prophet seine Mahnung hineinruft, sind die Jahrzehnte nach der noch nicht überwundenen Katastrophe des babylonischen Exils. Wahrscheinlich steht er auf den Trümmern des halbzerstört daliegenden Jerusalem. Es finden sich bei ihm viele Hinweise darauf, dass es damals ein paar Superreiche, ansonsten aber fast nur Bettelarme gibt. Allenthalben herrscht die Angst ums wirtschaftliche, ja vielfach ums nackte Überleben. Der Prophet prangert an, dass das Leben der Begüterten auf dem Rücken der unter dem Existenzminimum dahinsiechenden Masse stattfindet. Sie, die wirtschaftlich Erfolgreichen, sind aber felsenfest davon überzeugt, gerecht zu handeln, weil sie sich an die religiösen Vorschriften halten und regelmäßig den Tempel aufsuchen (vgl. Jes 58,3). Es handelt sich um scheinheilige Sprüche, denn selbst an Feier- und Fasttagen kümmert sich jeder und jede von ihnen vorrangig um sein Business ganz nach dem Motto: „Gerecht ist, was mir zugutekommt“. Nach dem Verständnis des Propheten (und der ganzen Heiligen Schrift) gibt es aber Gerechtigkeit nur in der „Wir“-Form.

Gerechtigkeit in der „Wir-Form“: auch heute würde der Prophet eindringlich darauf hinweisen, dass wir als Mitmenschen miteinander verwandt und untereinander unauflöslich vernetzt sind. Gerade in einer globalisierten Welt besteht eine starke Verantwortung gegenüber jenen unserer „Verwandten“, auf deren Kosten wir leben. Das sogenannte Lieferkettengesetz führt uns endlich vor Augen, dass diese Verantwortung bis in die Hinterhöfe und „Textilfabriken“ von Bangladesch, Indien oder Myanmar reicht. Wir sind mit den dort für unseren Wohlstand arbeitenden und leidenden Menschen auf unterschiedlichste Art miteinander verbunden, ja auf kompliziertesten Wegen mit ihnen und vielen anderen regelrecht verschlungen: mit der Baumwollpflückerin in Indien, dem Arbeiter in der vietnamesischen Baumwollkämmerei, mit der türkischen Textilfärberin, den Billiglohnkräften in der polnischen Weberei und mit der bulgarischen Näherin; nicht zu vergessen der litauische Fernfahrer.

Wir sind wie die Glieder der Lieferkette untereinander als Verwandte und mit Gott verbunden. Seine Gerechtigkeit bekommt dann Hand und Fuß, wenn wir endlich begreifen: „Das Ich gibt’s nur als Mich“.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Hören Sie auch den Podcast dazu

 

Wer behauptet denn so etwas? Würde eine Partei oder ein Verband mit diesem Slogan werben, läge der Verdacht auf systematische Unmenschlichkeit oder zumindest schlechten politischen Klamauk nahe. Auch die Richtigstellung, dass es hierbei um den „Hunger nach Gerechtigkeit“ geht, macht die Sache kaum besser. Denn wer bewusst und programmatisch den Hunger nach Gerechtigkeit nährt, der setzt offensichtlich auf soziale Unzufriedenheit und Besitzneid. Auch in unserem Land mit funktionierender Grundversorgung und sozialen Standards ändert dies aber nichts daran, dass es diesen Hunger braucht, um die wirklich Hungernden in den Blick zu bekommen und sie ernst zu nehmen.

Jesus preist jene selig, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten (vgl. Mt 5,6). Über den politischen Gehalt dieser Seligpreisung wurde und wird leidenschaftlich gestritten. Natürlich ist hier von der Gerechtigkeit Gottes die Rede, die größer ist als alle irdischen Gerechtigkeitsvorstellungen. Dennoch kann in einer Gesellschaft nur dort im vollen und biblischen Sinn des Wortes von Gerechtigkeit die Rede sein, wo sie die Armen, Schutzbedürftigen und Schwächeren in den Mittelpunkt ihrer Sorge stellt. Wo sie sich um gutes Leben für alle bemüht. Daher sind auch jene „selig“, die selber bewusst für die von Jesus Angesprochenen nach Gerechtigkeit hungern. Dazu gehört auch, aktiv dafür Sorge zu tragen tragen, dass es diesen Hunger in einer satten Wohlstandsgesellschaft überhaupt gibt.

Hunger nach Gerechtigkeit beginnt mit der realistischen Einschätzung menschlichen Strebens nach Macht und Reichtum. Alljährlich belegt z.B. der sogenannte Oxfam-Bericht zur sozialen Ungerechtigkeit in welchem Ausmaß mittlerweile auch in unserem Land eine Handvoll größtenteils anonym bleibender Superreicher gigantische Vermögenszuwächse einstreicht, während Millionen von Menschen nicht wissen, wie sie Lebensmittel und Energie bezahlen solle. Die katholische Sozialethik formuliert den Hunger nach Gerechtigkeit so: Privatbesitz und Vermögen sind solange gerechtfertigt, als sie der Allgemeinheit dienen und auch für andere „Gutes tun“. Über den Hunger nach Gerechtigkeit sprechen und für diesen Hunger sorgen heißt deshalb auch, über die regelmäßige Wiederherstellung der Chancengleichheit für alle laut nachzudenken.

Konkret bedeutet das, dass Christinnen und Christen (vor allem aber ein Sozialverband wie die Katholische Arbeitnehmerbewegung) sich immer wieder neu für den Hunger nach einer humanen Gesellschaft einsetzen, die jedem ihrer Glieder bedingungslos das Nötige für ein freies, selbstbestimmtes und sozial zugewandtes Leben zur Verfügung stellt. Christinnen und Christen lassen sich daher in Zeiten immenser Erbschaften sowie unglaublicher Finanz- und Spekulationsgewinne in ihrem Hunger nach Gerechtigkeit nicht mit Sätzen abspeisen wie „Harte Arbeit generiert wachsenden Wohlstand“. Und wer für den Hunger nach Gerechtigkeit sorgt, rückt zudem die in den Blick, die durch Care- und Erziehungsarbeit Unschätzbares für unsere Gesellschaft leisten, aber in jeglicher Hinsicht leerausgehen.

Auch Christinnen und Christen ist klar, dass die Vorstellung von einer einzigen und objektiv feststellbaren Gerechtigkeit gefährlich naiv ist. Es ist letztlich Gott, der gerecht macht. Das ändert nichts am Hunger nach einer Gerechtigkeit, die immer wieder hergestellt, ausbalanciert und vorangebracht werden muss: durch eine gesunde Unerbittlichkeit in der Benennung sozialer Ungerechtigkeiten, durch harte Verhandlungen, durch den Kampf für bessere Lohn- und Sozialsysteme, im Ringen um gutes Leben und wertvolle Arbeit für alle.

„Wir sorgen für Hunger und hungern selbst nach Gerechtigkeit“. Dieser Grund-Satz gilt für alle, die in Bergpredigt mehr sehen als einen „erbaulichen“ Text.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

„Weil das Menschsein sich zu leicht vergisst“(1). Mit diesem Fazit schließt das 1961 von Günter Kunert verfasste Lehrgedicht „Wie ich ein Fisch wurde“(2). Kunert wusste wovon er sprach und schrieb. 1929 in Berlin geboren, hatte er als Kind einer jüdischen Mutter unter den Rassengesetzen des Dritten Reiches zu leiden. Bereits 1949 wurde er Mitglied der SED und gehörte schnell zu den bekanntesten und produktivsten Autoren der Nachkriegszeit. Seit den frühen 1960er Jahren eckte Kunert wegen lauter werdender staatskritischer Töne in seinen Texten politisch immer häufiger an. Seine kurze Mitgliedschaft in der Akademie der Künste endet mit dem Hinauswurf. Nach seinem Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann erfolgte 1977 der Ausschluss aus der Partei. 1979 übersiedelte Kunert in den Westen und war bis zu seinem Tod 2019 als freier Schriftsteller tätig. Stets ging es ihm in seiner lakonisch pessimistischen Grundhaltung darum, Facetten der ihn fordernden Wirklichkeit sehr genau zu erfassen und weiterzudenken. Sein Credo lautete: „Ein Hellseher, der nicht schwarzsieht, verdient seine Berufsbezeichnung nicht“.(3)

Anpassung an die Katastrophe

Ich möchte anlässlich des diesjährigen Gedenktags für den seligen Nikolaus Groß und der neunzigsten Wiederkehr der sogenannten „Machtergreifung“ durch Hitler an einen der prägnantesten Texte Kunerts erinnern. Dieser scheint mir einen poetischen Verständniszugang zum Leben und Wirken des KAB-Märtyrers und seiner Frau Elisabeth anzubieten. Der Dichter schildert hier die Katastrophe einer alles Leben an Land vernichtenden Flut. Dieses Szenarium steht als Bild für eine übermächtige, von allen und allem besitzergreifende politische Umwälzung. An diese muss sich der Ich-Erzähler bzw. die Ich-Erzählerin um des eigenen Überlebens willen anpassen: Menschen werden zu Fischen.

Meine Arme dehnten sich zu breiten Flossen,
Grüne Schuppen wuchsen auf mir ohne Hast;
Als das Wasser mir auch noch den Mund verschlossen,
War dem neuen Element ich angepasst.

Bei näherem Hinhören aber erweist sich der offenbar unabdingbare Anpassungsvorgang als dauerhafter Verlust des Menschseins. Konsequente opportunistische Anverwandlung an die Übermacht allgegenwärtiger und von allen Seiten andrängender Gewalten führt letztlich zum unumkehrbaren Wegfall der Menschlichkeit. Die Fähigkeit zur Veränderung, die zunächst positiv erscheint und Rettung verspricht, erweist sich in der Konsequenz als Selbstaufgabe durch Entmenschlichung. Den Veränderungen in Aussehen und Bewegung folgt die Vollendung der Anpassung durch das dauerhafte Verstummen. Immerhin kann er/sie sich nun als Fisch träge gleiten lassen und wird eins mit der Flut, gegen die man/frau sich als Mensch zuvor chancenlos gestemmt hat. Es bleibt jedoch die quälende Frage offen, ob nicht der Preis für das bloße Über- und Weiterleben zu hoch ist.

Die „braune Flut“

Oft wird die NS-Ideologie mit einer braunen Flut verglichen, die die Massen mitgerissen hat und bis in die feinsten Verästelungen des Privatlebens vorgedrungen ist. Eine überwiegende Mehrheit begrüßte diese Flut als vermeintlich rettendes Nass nach jahrelanger politischer und wirtschaftlicher Dürre.(4) Für Nikolaus Groß (und für seine von der entsprechenden Antwort betroffene Familie) wurde angesichts des sofort einsetzenden nationalsozialistischen Terrors die soeben genannte Gewissenfrage zur Entscheidung über Sein oder Nichtsein: War er bereit, den Preis weitestgehender Anpassung für ein bloßes Überleben zu zahlen? Groß antwortet mit einem klaren Nein und mutet diese finale Stellungnahme seiner Familie zu. Er konnte und wollte Menschsein und Menschlichkeit nicht aufgeben. Leben bedeutete für ihn menschenwürdiges Leben. Für ihn ging es zu jedem Zeitpunkt darum, seine Würde gegen die braunen Mächte der Unmenschlichkeit zu bewahren, und so zum Zeugen menschlicher Würde und Freiheit überhaupt zu werden. Wie kaum ein zweiter katholischer Gewerkschafter und Journalist seiner Zeit prangert er bereits in jungen Jahren die Zerstörung der Würde und Freiheit der Arbeiter und Arbeiterinnen samt ihren Familien an. Millionen von Menschen verwehrte das kapitalistische System der frühen Weimarer Republik einen adäquaten Zugang zu einer menschenwürdigen Grundversorgung. Von gleichen Chancen in der Bildung und Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft ganz zu schweigen. Groß ging es darum, Menschen in diesen bildungsfernen Schichten seiner Zeit in ihrer Humanität und Mündigkeit für den Kampf gegen die frühen Vorboten totalitärer Menschenverachtung und Gewaltverherrlichung auf Dauer zu stärken. Bildung war für ihn in diesem Sinne Herzensbildung der Masse der als Underdogs Abgestempelten. Nur so konnten diese Menschen gegen rassistische auf der einen und klassenkämpferische Einflüsterungen auf der anderen Seite immunisiert werden. Für seine eigene Person erkannte Groß jedoch in letzter Konsequenz, dass bloße Resistenz, ja nicht einmal mutiger Protest im Dunkel der sich zuspitzenden Katastrophe ausreichend sein konnten. Folgerichtig schloss er sich daher dem aktiven Widerstand an und bezahlte dafür mit seinem Leben.

Vom Fisch zurück zum Menschen

Auch heute haben wir es mit den Vorboten von pandemisch sich ausbreitender Inhumanität und Menschenverachtung zu tun. Längst ist der sprichwörtliche „Gang über Leichen“ ein wesentlicher Bestandteil von privaten Lebensentwürfen, nationalen und internationalen Politikkonzepten sowie eines auf Ertragsmaximierung getrimmten Wirtschaftssystems. Es wäre aber zu klischeehaft, lediglich auf das persönliche Zeugnis und die mutige Positionierung der einzelnen und des einzelnen abzuheben. Die erste und vielleicht schon entscheidende Frage lautet vielmehr, in welchem Maß ich persönlich bereits in der medialen Dauerüberflutung mit ihrer permanenten Inszenierung von realen und gefakten Katastrophen abgestumpft und in diesem Sinn entmenschlicht bin. Wie sieht meine Anpassung im dahinrauschenden Strom der Mitteilungen aus? Bilden sich bei mir langsam im Sinne des zitierten Lehrgedichts erste „grüne Schuppen“? Erreichen mich noch die Botschaften, die den sozialen und ökologischen Preis meines Lebensstils beziffern? Oder die Warnungen vor mehr und mehr akzeptierten regelmäßigen Einsatz von Gewalt als legitimes Alltagsmittel zur Durchsetzung vermeintlich „hehrer“ Ziele? Oder die Alarmsignale einer durch schamlose Bereicherung zerreißenden Gesellschaft? Nikolaus Groß hat mit feinem Gespür die in seiner Zeit um sich greifende Entmenschlichung erkannt. Sein Lebenszeugnis ist für mich der entscheidende Beleg dafür, dass der Weg zurück in humane Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt zu weit und zu schwer ist. Auch wenn der erste Schritt für die „Fische“ fast nicht mehr möglich scheint.

Denn aufs Neue wieder Mensch zu werden,
Wenn man’s lange Zeit nicht mehr gewesen ist,
Das ist schwer für unsereins auf Erden,
Weil das Menschsein sich zu leicht vergisst.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Textzitate nach Güner Kunert, So und nicht anders. Ausgewählte neue Gedichte, Carl Hanser Verlag 2002, 21f.

(2) Die nachfolgenden Überlegungen greifen vom Ausgangspunkt her eine Idee des Essener Weihbischofs Wilhelm Zimmermann aus dem Jahr 2018 auf: www.bistum-essen.de/fileadmin/relaunch/Bilder/Bistum/Bischof/Zimmermann/Sel.Nikolaus_Gross__Dom_-_23.01.2018.pdf

(3) Vom Zwang, genau hinzusehen. Zum Tod von Günter Kunert: SZ vom 23.9.2019 - https://www.sueddeutsche.de/kultur/nachruf-guenter-kunert-schriftsteller-ddr-1.4612497

(4) Kunert hat sich meines Wissens nicht zur politischen Interpretation seines Lehrgedichts geäußert. Zu möglichen Deutungen vgl. Jutta Southwell, Günter Kunert, The artistic development of a writer of the German Democratic Republic (1978): https://core.ac.uk/download/pdf/37777142.pdf

Dieser Nachklang ist auch als Podcast erschienen

 Ein Nachklang zum 2. Sonntag

Zugegeben, das Wort „Komplexitätsverweigerung“ klingt ein wenig wie die modischen Plastikwörter in Politik und Wirtschaft, die die Konkretisierung scheuen wie der Vampir das Tageslicht. Das mit diesem Wortungetüm Gemeinte nimmt im Bild des ausgestreckten Zeigefingers schärfere Konturen an: auf dessen Fingernagel passen nämlich die dürftigen Argumente der Komplexitätsverweigernden.

Beispiel gefällig? Diese Zeilen entstehen am 12. Januar 2023 und damit an Tag 12 der Debatte um die Silvesterkrawalle 2022/2023. Noch immer deuten ungezählte Zeigefinger irrlichternd auf „die Schuldigen“.  Allein für die letzten 24 Stunden listet die Suchmaschine zehn weitere Stellungnahmen auf. Kommentiert werden Kommentare, die wiederum Kommentare zu Kommentaren sind. Rassismusvorwürfe, populistische Ansagen (Stichwort „Kleine Paschas“) und eine pausenlos befeuerte Empörungsmaschinerie halten den gut eingeübten Sündenbock-Mechanismus in Schwung. Es geht um die Zuschreibung von Schuld und Gesamtverantwortung sowie die kollektive Selbstvergewisserung der eigenen „Unschuld“. Beim alttestamentlichen Sündenbockritual war dem Volk und Hohepriester wenigstens jederzeit klar, dass es um ihre aller Verfehlungen und moralischen Fehlleistungen ging. Ein öffentliches Kollektivbekenntnis. Bei uns aber liegt der Focus wieder einmal auf einer gut definierbaren Gruppe und dem in dickem Farbauftrag skizzierten Vielfachversagen von Eltern, Familien und Milieus der gewalttätigen Jugendlichen. Gemeint sind natürlich auch immer jene, die sozusagen schuld an der Schuld sind: Politikerinnen, Pädagogen, linke Ideologen, Stadtplanerinnen usw. Dumm nur, dass damit kein einziges Problem gelöst ist, zumal es soziale Brennpunkte, vernachlässigte Bevölkerungsschichten, kaputt gesparte Schulen und Underdogs schon lange vor der Neujahrsnacht gegeben hat. Sozialer Abstieg, ungerecht verteilter Wohlstand, gesellschaftliche Ohnmachtserfahrung und Kriminalität sind unabhängig von Hautfarbe und Herkunft ein Dauerthema. Und bei genauerem Hinschauen erweisen sich Sündenböcke als Menschen.

„Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29). Auch im Sonntagsevangelium geht es um einen ausgestreckten Zeigefinger und einen ganz besonderen Sündenbock: die Deutegeste Johannes des Täufers und seinen Verweis auf Jesus. Hier drohte und droht zumindest die sehr spezielle Komplexitätsreduktion einer einseitig auf den Gedanken des Sühneopfers fixierten Kreuzestheologie: Jesus nimmt als Lamm den Zorn Gottes über die Sünden der Menschen auf sich und „alles ist gut“. Alles gut? Überhaupt nicht! Denn gemeint ist mit dem „Lamm Gottes“ eben nicht nur das kultische Opfertier schlechthin (sacrificium, sacrifice), sondern auch der exemplarisch zum Gewaltopfer (victima, victim) gewordene Gottessohn. Damit aber steht er auch für die Sündenböcke unserer Zeit, für Menschen, die geopfert werden, weil es im Sinne gesellschaftlicher und politischer Komplexitätsverweigerung „Schuldige“ geben muss. Hinter dem „Lamm Gottes“ versammeln sich somit jene, die auf der Schattensete von individueller Selbstbestimmung, Liberalismus und Fortschritt die Rechnung für vertagte Entscheidungen, verschobene Verantwortung und nicht gemachte Hausgaben in den wachsenden Krisenszenarien unserer Gegenwart bezahlen.

Johannes zeigt auf den großen Sündenbock und indirekt die vielen kleinen Sündenböcke in seinem Gefolge. Er fordert uns auf, die auf ihn und alle anderen projizierten heillosen Zustände, Elend und Menschenverachtung sowie alle anderen frech ausgeblendeten Seiten der dunklen Wirklichkeit unserer Welt zu erkennen und dann der Sündenbockstrategie ein Ende zu setzen: „Seht das Lamm Gottes und anerkennt eure Verantwortung füreinander und eurer permanentes Schuldigwerden aneinander! Bekennt endlich, dass eure Kapital-Religion (Walter Benjamin), euer notorisch unterfinanziertes Bildungssystem und euer vernachlässigter Sozial- und Pflegebereich nur auf Kosten von Opfern und Geopferten funktioniert!“

Es ist mühsam und sehr schnell überkomplex, der individuellen Verstrickung in die großen Schuldstrukturen unserer Gegenwart nachzuspüren und in den eigenen Netzwerken und darüber hinaus für einen ebenso ehrlichen wie korrekturbereiten Umgang mit den Ursachen und Wirkungen zu werben. Aber der hoffentlich bald eintretenden Ausrottung der Tierart „Sündenbock“ dient es in jedem Fall.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

 

Vorsicht mit einem Zuviel an Empathie und Mitgefühl! Zumindest scheint dies für das Arbeitsklima zu gelten. Vor einigen Jahren erläuterte die „WirtschaftsWoche“ die zehn Nachteile des Mitgefühls und führte u.a. aus: Empathie laugt aus, weil es kräftezehrend ist, sich permanent in die Gefühlszustände anderer Menschen hineinzuversetzen. Sie führe des Weiteren zu Einsamkeit, da für das Privatleben am Abend keine Gefühle mehr übrigblieben. Ein Zuviel an Empathie bei Führungskräften erzeuge aber auch das Gefühl von Ungleichbehandlung ihrer Untergebenen. Außerdem: Wenn Frauen in der Chefetage zu viel Verständnis für die Probleme anderer hätten, würde das ihren Aufstiegschancen schaden (zumal, so der Artikel, Frauen von vornherein als besonders empathisch gelten). Richtig schwierig wird es, wenn Empathie für irrationale Entscheidungen verantwortlich gemacht und als eine der Hauptfaktoren von Diskriminierung und Korruption benannt wird. Sicherlich, der genannte Artikel argumentiert differenzierter und lässt sich zudem als eine Reaktion auf einen bereits seit mehr als ein Jahrzehnt beobachtbaren Hype interpretieren, der Empathie zum Softskill schlechthin für Führungskräfte erhebt.

Der Evangelist Matthäus lässt in der Szene der Taufe Jesu am Jordan die grundmenschliche Sehnsucht nach Verständnis und Liebe anklingen: „das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17): Dieses „Verstanden- und Geliebt-Sein“ muss ich als Mensch immer wieder hören und immer wieder von neuem erfahren. Deshalb verstärkt und bestätigt das Fest der Taufe des Herrn noch einmal die faszinierende Botschaft von Weihnachten: Gottes grenzenlose Empathie für jeden einzelnen Menschen. Ein Zuviel davon ist bei Gott unmöglich!

Für uns Menschen ist leider ein fein justierbares Zuwenig jederzeit machbar. Schwierig wird es, wenn (siehe oben) Empathie lediglich als strategisch einsetzbare Qualifikation zur Beeinflussung anderer Menschen oder als wesentlicher Faktor etwa von wirtschaftlichem Erfolg betrachtet wird. Noch schwieriger, weil letztlich krank und unmenschlich, ist es, wenn im betriebswirtschaftlichen Kontext bewusst, ja böswillig jegliche Form von Mitgefühl ausgeschaltet wird. Hierzu schreibt der vor allem durch seine Forschungsergebnisse zum Narzissmus bekannt gewordene Psychiater und Psychotherapeut Pablo Hagemeyer: Der Empathiemangel als Form der Macht „formt aus Menschen Zahlen. Sie nimmt den Menschen ihre Namen und damit ihre Menschlichkeit. Zahlen lassen sich leicht hin und her schieben. Nicht die Person zählt, sondern die Zahl, die diese Person produziert.“ Als Illustration schildert er eine besonders krasse Form der in manchen Chefetagen praktizierten Empathielosigkeit: „Junge engagierte Mitarbeiter werden gezielt ‚sauer gefahren‘ und nach ein paar Jahren wieder entlassen. Zusätzliche, aufwendige Arbeit wird als „Bonus-Option“ angeboten. Das Unternehmen plant lange vor Beginn des Beschäftigungsverhältnisses, die Person für nur fünf Jahre zu beschäftigen, wissend, dass danach die Person ‚verbraucht‘ ist. Die Leistung des Arbeitnehmers wird also bewusst ausgereizt. Jede Kommunikation mit Vorstand oder Führungskraft wird unterbunden, um keine persönlichen Beziehungen aufkommen zu lassen." (1)

Jesus stellt sich mit den Belasteten und Beladenen seiner Zeit buchstäblich in eine Reihe; er steht mit ihnen Schlange, um sich taufen zu lassen. Heute stünde er bei den Getäuschten, Ausgepressten und Weggeworfenen. Denn er steht bei denen, über denen kein offener Himmel zu sehen ist: er die menschgewordene Empathie Gottes.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Pablo Hagemeyer, Gestatten, ich bin ein Arschloch, Eden-Books, 83.
 

Hat sich redlich bemüht – Ein Nachklang zum 15. Sonntag (A) 2023

Ein Arbeitszeugnis mit dem Hinweis „hat sich redlich bemüht“ (vielleicht noch ergänzt um ein „und sich stets bestens mit den Kolleginnen verstanden“) kommt einem Karriereknick gleich. Entschlüsselt steht hier nichts anderes als „hat nichts erreicht (und einen Gutteil seiner Arbeitszeit mit Privatgesprächen verbracht)“. Kurzum: wer sich mit diesem Zeugnis bewirbt, ist eine Looserin, ein Looser. Kein Personalverantwortlicher wird diesem Menschen auch nur einen Funken Aufmerksamkeit schenken.

 

Nachdenken über die Erfolglosen

Ganz anders das Gleichnis vom Sämann. Deutet man/frau die ausgestreuten Samenkörner als Menschen, die versuchen aus ihrem Leben etwas zu machen, dann fällt plötzlich auf, wie viel Aufmerksamkeit, ja Mitgefühl der Text den Erfolglosen schenkt[1].  Detailliert beschreibt er die schlechten Voraussetzungen und die ungeheuren Widerstände, mit denen der Same zu kämpfen hat. Von den 25 Prozent der Saat, die schließlich Frucht brachte, wird hingegen lediglich das gute Resultat vermerkt. Mich treibt dieses Gleichnis dazu an, mehr über die 75 Prozent Erfolglosen nachzudenken. Sehe ich ihre Bemühungen und Anstrengungen? Habe ich im Blick, dass viele kaum die passenden Voraussetzungen fürs Fruchtbringen besitzen? Kenne ich die widrigen Umstände und Gegenkräfte, die schließlich dem zarten Pflänzchen ihrer Motivation und ihres Engagements den Garaus gemacht haben?

 

Kleine Helden

Zu den Letztgenannten zählen viele Frauen und Männer, die sich oft jahrzehntelang im Ehrenamt für die Gesellschaft und das Öffentliche Wohl engagiert haben. Einer davon ist ehemalige Bezirksbürgermeister von Köln-Kalk Marco Pagano, der im Frühjahr eine sehr berührende Bilanz seines Engagements vorgelegt hat. Unter dem Titel „Kleine Helden. Eine Liebeserklärung an Ehrenamt und Kommunalpolitik“[2] schildert er, was ihn in der Kommunalpolitik zermürbt und zu dem bitteren Fazit veranlasst hat, „Am Ende dankt es euch keiner“. Ihm haben die völlig überzogenen Erwartungshalten vieler Wählerinnen und Wähler zu schaffen gemacht. Gleichzeitig zermürbte ihn der schulterzuckende Mangel an Wertschätzung derer, für deren Belange er kämpfte. Sein enormer Aufwand an Kraft und Lebenszeit wurde als Selbstverständlichkeit hingenommen. Das Verrückte an diesem Buch besteht im „Dennoch“, sprich im mit Herzblut geschriebenen Plädoyer für das Ehrenamt.

 

Mit Mut und guten Willen

Ich vertraue fest darauf, dass der göttliche Sämann aus dem Gleichnis barmherziger und wertschätzender mit denen umgeht, die „sich redlich bemüht haben“.  Ja, ich bin mir sicher, dass er all jene mit besonderer Anerkennung bedenkt, die trotz ihrer begrenzten Kräfte und Möglichkeiten den Mut und den guten Willen für ein politischen, sozialethisches oder caritatives Engagement aufgebracht haben. Nicht der Erfolg zählt, sondern der Versuch! Ich hoffe und glaube daran, dass bei und vor Gott nur eines zählt: ob ein Mensch sagen kann, „Ich habe mich redlich bemüht“.

 

[1]www.stefanmai.de/mk/predigten.php

[2] Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2023

Die Kirche ist und bleibt in der Pflicht für die soziale Gerechtigkeit

Der „fromme Glaube genügt aber nicht in dieser Zeit, er muss seine Wahrheit durch Taten beweisen!“ Mit diesem Satz aus seiner ersten Adventspredigt im Jahr 1848 (nebenan im Dom) bringt Bischof Emmanuel von Ketteler die wohl wichtigste Einsicht seines Lebens auf den Punkt. Konsequent hat er bis zu seinem Tod am 13. Juli vor 146 Jahren seine Lehre und Handeln an dieser Maxime ausgerichtet. „Der fromme Glaube (allein) genügt nicht“. Mit dieser Erkenntnis wandte sich Ketteler, der als Pfarrer im Münsterland durch seine Rolle am Rande der ersten deutschen Nationalversammlung Berühmtheit erlangt hatte, an die Adresse der Kirche seiner Zeit. In deren Verkündigung und Liturgie kamen Menschen in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen mit genau 0,0 % vor – und dies obwohl über 90% der Bevölkerung in den Hungerjahren seit 1845 nicht wussten, wovon sie am nächsten Tag leben sollten und ihre Haut buchstäblich auf dem Arbeitsmarkt feilbieten mussten. In der Theologie und unter den Bischöfen ging es damals um anderes, etwa um vermeintliche oder echte Irrlehren, mit denen sich die Beteiligten gegenseitig in Rom anzeigten; genauso standen die Abwehr des übergriffigen preußischen Staates und die wachsende Zentralisierung nach Rom hin auf der Tagesordnung. Fällt Ihnen, fällt euch der Unterschied zu heute auf? Allzu groß ist er nicht, denn auch 175 Jahre nach Kettelers Adventspredigten dreht sich die Kirche wieder um sich selbst. Stark abgewandelt möchte ich sagen: „Große Reformprogramme genügen nicht in dieser Zeit“. Diese müssen ihre Wahrheit durch Taten angesichts der massiven gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart erweisen. Ganz bestimmt würde Ketteler die Bischöfe und das Volk Gottes an die Selbstverpflichtung der beiden großen Kirchen aus dem Jahr 1997 erinnern. Es heißt dort etwas geschraubt: „Konstitutiv und verpflichtend ist es für die Kirche und ihren Auftrag zur Seelsorge, die Verantwortung für eine sozial gerechte Gestaltung des menschlichen Lebensraumes, seiner Strukturen und seiner Systeme wahrzunehmen und daraus Konsequenzen zu ziehen.“ Weniger kompliziert: Für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, ist und bleibt eine der zentralen Aufgaben der Kirche. Ketteler ist in diesem Punkt unerbittlich. Sind wir es auch?

Soziale Gerechtigkeit anstatt Almosen

Zu Beginn seines seelsorgerlichen Wirkens als Pfarrer im münsterländischen Hopsten war Ketteler dank seiner „großen Witterungsfähigkeit für soziale Not“ (Karl Lehmann) ganz auf die Praxis der Nächstenliebe konzentriert. Eine radikal und konsequent aufsuchenden Caritas würde, so seine Überzeugung, den Umbruch zum Besseren in der Gesellschaft bringen und die Herzen der Deklassierten der Kirche wieder zuwenden: "Die Armen müssen erst wieder fühlen, dass es eine Liebe gibt, die ihrer gedenkt, ehe sie der Lehre der Liebe Glauben schenken. Dazu müssen wir die Armen und die Armut aufsuchen, bis in ihre verborgensten Schlupfwinkel ihre Verhältnisse, die Quellen ihrer Armut erforschen, ihre Leiden, ihre Tränen mit ihnen teilen." Heute würde Ketteler eine hochauflösende Sensibilität für die vielen Gesichter der Armut in unseren Tagen propagieren, denn viele ihrer Erscheinungsformen sind nicht selten verschämt, verborgen und unsichtbar, besonders wenn es um tiefe Verletzungen und um Isolierung von Menschen geht. Aber genügt das?

Als sehr aufmerksamer Beobachter der Gesellschaft seiner Zeit hat Ketteler dann schnell gelernt, dass mit der bloßen Übung der Nächstenliebe für die Lösung der sozialen Frage kaum etwas getan werden konnte. Es ist faszinierend zu sehen, wie er immer mehr die Arbeiterfrage als Kern der immensen sozialen Verwerfungen von der caritativen auf die gesellschaftspolitische Ebene bringt. Leider folgen heute immer wieder Verantwortliche in Politik und Kirche diesem von Bischof Ketteler vorgelebten Lernweg nicht. Sie betonen nach wie vor vermeintlich zentrale Bedeutung des Charity-Gedankens: wer wirtschaftlich gut situiert ist, soll freiwillig und umfänglich Almosen „nach unten“ verteilen: wohltätige Stiftungen, caritativ tätige Großvereine und edle Spenderinnen und Spender mildern so die zum Teil katastrophale Situation am unteren Ende der Gesellschaft. In diesem Ansatz nimmt auch die vollständige Privatisierung der Carearbeit, insbesondere die dann häusliche Pflege von alten Menschen und Sterbenden, einen prominenten Platz ein: freiwilliger Dienst um Gottes Lohn. Die gesellschaftliche Verantwortung des Staates wird auf ein Minimum reduziert. Es ist klar, dass diese Überlegungen nicht nur zu einer weiteren Benachteiligung von Frauen führen würden. Vielmehr liegt es auf der Hand, dass sich ähnlich wie in den Vereinigten Staaten unsere Gesellschaft endgültig spalten würde. Ketteler hat glasklar erkannt, dass nur konsequent angewandte soziale Gerechtigkeit, nicht aber lediglich noch so engagierte Nächstenliebe die Gesellschaft zusammenhalten und für alle Menschen voranbringen kann. Sozialer Gerechtigkeit geht es im Kern immer um die Grundfragen der Würde, der Ehre, des eigenen Werts, des fairen Miteinander, des Nachteilsausgleichs und einer angemessenen Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und Interessen. Soziale Gerechtigkeit also anstatt Charity!

Es geht zentral um die Menschenwürde

Als Hauptfeind der arbeitenden und darbenden Menschen seiner Zeit hat Ketteler den ungezügelten Liberalismus erkannt und bekämpft. Lohnempfängerinnen und -empfänger waren ohne jeden Schutz den Mechanismen der uneingeschränkten Gewerbefreiheit ausgesetzt, was die totale Abhängigkeit und soziale Isolierung der Arbeiter zur Folge hatte. Unter der Faszination der industriellen Massenproduktion zu immer billigeren Preisen ging der Blick für den Menschen, seine Würde und den Wert der Arbeit gänzlich verloren. Ketteler kämpfte deshalb im Namen dieser Würde und dieses Wertes, also im Namen der Menschenwürde und der sozialen Menschenrechte gegen die Menschenverachtung des Extremkapitalismus an. Hierbei hatte er unterschiedslos alle Betroffenen im Blick. Es ging ihm um Menschen. Einheimische und Zugewanderte, Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene hatten in seinen Augen die gleichen Rechte, die gleiche Würde als Menschen. Sie sind jedem Menschen als Geschöpf Gottes verliehen. Es wäre für Ketteler undenkbar gewesen, dass sich bald ein Fünftel aller Wahlberechtigten einer Partei zuwenden, die diese gemeinsame Würde aller tagtäglich in Frage stellt. Sie tut dies in ihrer sogenannten Sozialpolitik, die die Bevorzugungen und Benachteiligungen zwischen „Deutschen“ und Migrantinnen bzw. Migranten zum Grundprinzip erklärt. Etwa, indem sie die Stärkung der staatlichen Rente exklusiv für Staatsbürger ab 35 Beitragsjahren fordert und Menschen mit Migrationshintergrund gelinde gesagt nachrangig behandeln will. Ganz sicher würde Ketteler sich mit lautem Protest gegen die polarisierend eingebrachte Gegenüberstellung zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“ auf dem Arbeitsmarkt wenden und Begriffe wie „unkontrollierte Migration“ und „Sozialschmarotzern“ als das brandmarken, was sie sind: menschenverachtende Polemik, die Wählerstimmen bringen soll. Ket­te­ler ging und geht es um die Wie­der­her­stel­lung und Ach­tung der Men­schen­wür­de und Menschenrechte, die wir in der Polemik und Orientierungslosigkeit unserer aufgehetzten Gegenwart erneut verspielen könnten.

Klare Kante tut not

Es muss uns klar sein: zumindest die Mitglieder KAB dürfen sich nicht mit dem selbstbeschaulichen Disput innerkirchlicher Reformfragen zufriedengeben. Ganz im Gegenteil! In einer Zeit neuer Gefahren durch den Rechtspopulismus müssen wir mit der Frohe Botschaft, müssen wir mit unserer Überzeugung von der gleichen Würde aller Menschen und ihrer sozialen Rechte auf die Plätze unserer Gesellschaft gehen. Dazu gehört eben auch der Mut der Männer von 1934 (die KAB war damals ein reiner Männerverband). Sie bekannten sich in Mainz am Todestag des Arbeiterbischofs zu Christentum und Kirche, auch wenn sie durch eine alles übertönende Hitlerrede gestört wurden. Unter ihnen waren Bernhard Letterhaus und Nikolaus Groß.

Der „fromme Glaube genügt aber nicht in dieser Zeit, er muss seine Wahrheit durch Taten beweisen!“ Zeigen wir, dass wir begriffen haben, worin diese Taten heute bestehen: indem wir 1) uns als der Teil der Kirche profilieren, die sich sozialpolitisch und ethisch für eine gerechtere Gesellschaft in die Pflicht nehmen lässt. 2) Indem wir für soziale Gerechtigkeit kämpfen anstatt einer neuen Unkultur von freiwilligen Almosen das Wort zu reden und 3) – das ist das Wichtigste – der neuen Bedrohung der Menschenwürde und sozialen Menschenrechte in unserem Land rechtzeitig die Stirn zeigen. Wie gesagt, frommer Glaube allein reicht schon lange nicht mehr aus.

„Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid“ (Mt 11,28).  Passend zu dieser Einladung Jesu veröffentlichen die „Tafeln“ in Deutschland zu Beginn dieses Monats einen weiteren Hilferuf: Sie „beklagen angesichts stark gestiegener Lebensmittelpreise einen ‚Ausnahmezustand‘ bei der Verteilung von Lebensmitteln für Bedürftige. Die Anzahl der Kunden hat sich an manchen Standorten fast verdoppelt.“ [1] Nach Angaben des gleichnamigen Dachverbands engagieren sich weit über 50.000 Helferinnen und Helfer im Ehrenamt gegen Armut und Lebensmittelverschwendung[2]. Diejenigen, die besonders Belastete in unserer Gesellschaft entlasten wollen, arbeiten längst am Limit ihrer psychischen und physischen Kräfte: das Entlasten wird zur Last.

 

Zeit für ihre Herzensanliegen

„Mühselig und beladen“. Kaum jemand denkt bei dieser Zustandsbeschreibung spontan ans Ehrenamt im sozialen Bereich. Ganz im Gegenteil: Beispielsweise stellt das Engagement im Sinne der gesellschaftspolitischen und sozialethischen Ziele der Katholischen Arbeitnehmerbewegung für viele Frauen und Männer im Verband eine regelrechte Kraftquelle dar. Sie bringen Zeit und Begabung für ihre Herzensanliegen ein und können sich sicher sein, etwas Gutes zu tun. Nur zögerlich spricht die eine oder der andere auch über die Belastungen, die mit einem zum Teil Jahrzehnte währenden Dauereinsatz einhergehen. Es schimmert dabei die Angst durch, ohne die ehrenamtliche Tätigkeit regelrecht im Nichts zu versinken. Daher nehmen die Betroffenen lieber die wachsende Überforderung in Kauf als rechtzeitig ans Aufhören zu denken. Es geht ja schließlich um die „gute Sache“ und natürlich auch um das eigene Ansehen.

 

Jede(r) darf NEIN sagen

Bin ich denn selber „mühselig und beladen“? Für meine eigene Person muss ich zugeben, dass ich die meiste Zeit meines Lebens in Beruf und Ehrenamt stets aus dem Vollen geschöpft habe. Für die Frage, “wie geht es mir gerade wirklich?“, fehlte schlichtweg die Zeit. Nur zögerlich lerne ich gegenwärtig, psychische und körperliche Signale wirklich wahr- und ernst zu nehmen. Anders gesagt, meiner Seele zuzuhören. Das Angebot Jesu verstehe ich als Ermutigung dazu, rechtzeitig meine Grenzen zu respektieren und im Sinne des eigenen Wohlergehens das „Nein-Sagen“ einzuüben. Jeder Mensch darf „Nein“ sagen und einen Punkt setzen. Eine Rechtfertigung sollte nicht notwendig sein.

Jesus will den Überlasteten „Erquickung“ verschaffen. Das schließt nicht aus, dass diese selbst etwas dafür tun können. Ganz sicher würde er der dem Rat der Psychotherapeutin Elena Hitzel zustimmen: „Kenne deine Grenze und halte dich daran.“[3]

 

[1]www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/tafel-spenden-ruecklaeufig-100.html

[2]www.tafel.de/themen/ehrenamt

[3]www.youtube.com/watch

Grassierender Fachkräftemangel

Kennen Sie Achmed oder Dimitry? Beide wohnen irgendwo bei Bonn und arbeiten als Busfahrer für den Verkehrsverbund Rhein-Sieg. Wer dort Bus fährt, sieht ihre Gesichter täglich auf Plakaten und weiß, dass sie Kolleginnen und Kollegen suchen. Patente junge Männer, die sich eine Lupe vors linke Auge halten und mich groß anschauen. Meine Phantasie geht mit mir durch: auf einem anderen Plakat sucht der Prophet Jeremia mit forschendem und durchdringendem Blick auch nach Kolleginnen und Kollegen. Die werden in Kirche und Gesellschaft noch dringender gebraucht als Neuzugänge im Öffentlichen Nahverkehr. Was eine Busfahrerin zu tun hat, ist halbwegs klar, - aber was macht ein Prophet? Da muss zwingend eine kurzer Ausschreibungstext unter das Foto: „Wir suchen Menschen, die eine Vision haben, einen Traum, ein Bild von der Zukunft, wie sie sein sollte. Menschen, die den Mut haben, auszusprechen, was schief läuft in dieser Welt - und die Ideen entwickeln, wie es besser gehen könnte. Belastbarkeit unbedingt vorausgesetzt.“

Ein Stressjob

Es ist zu befürchten, dass sich kaum jemand melden wird. Üblicherweise informieren sich Interessenten ausführlich über Arbeitsbedingungen, Stellenumfang und absehbare Belastungen. Ein Gespräch mit bisherigen Stelleninhabern könnte sich zudem äußerst negativ auf die Anfangsmotivation auswirken. Der heutige Lesungstext stammt von Jeremia, also einem der ganz Großen seines Fachs. Wir erleben ihn an einem der Tiefpunkte seiner an Glanzlichtern sowieso nicht reichen „Karriere“. Seine Aussagen sind Teil einer verzweifelten Beschwerde (Jer 20,7-18): Gott als „Arbeitgeber“ hat ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in diese Tätigkeit gelockt und verweigert ihm gefühlt fast jegliche Unterstützung; er wird allenthalben gemobbt und belauert, insbesondere die staatlich bzw. kirchlich bezahlte Kollegenschaft verfolgt ihn regelrecht. Gleichzeitig unterliegt er einem inneren Zwang zur prophetischen Arbeit, in seiner Klage klingt stark Burnout mit. Seine Hauptaufgabe besteht darin, sich durch die stets ungelegene Benennung der Wahrheit Tag und Nacht unbeliebt zu machen. Von diesem Job würde ich jedenfalls die Finger die lassen.

Prophetentum heute

Und trotzdem gibt es Prophetinnen und Propheten auch heute, - ganz ohne Stellenausschreibungen. Sie treten auf, weil sie an den Zuständen in unserer Welt und Gesellschaft leiden und sich nicht mit deren fortschreitender Zerstörung abfinden wollen. Dafür nehmen sie wie Jeremia Unannehmlichkeiten, Anfeindungen und Entbehrungen in Kauf. Sie leiden nicht an den gleichen Ursachen oder Umständen wie Jeremia, sind aber mindestens so aufsässig und widerspenstig wie er. Sie sehen, urteilen und engagieren sich für Veränderungen statt nur zu debattieren. Ihre Kernaufgabe besteht darin, zu sagen, was Sache ist und sich gegen die Verdrängung und Schönrednerei z.B. gesellschaftlicher Fehlentwicklungen zu stellen. Ganz aktuell: Hinter bloßen Zahlen erkennen sie die Einzelschicksale, etwa die der mittlerweile über 70.000 sogenannten Gäste der Tafeln in Rheinlandpfalz[i]. Streitbar benennen sie den Missstand, der sich mit der schleichenden Integration der „Tafeln“ in die soziale Grundsicherung unseres Staates Monat für Monat verschlimmert. Längst ist von einer „Vertafelung“ der Gesellschaft die Rede[ii]. Prophetinnen und Propheten von heute benennen den Skandal: eines der reichsten Länder der Welt greift immer mehr auf ein Almosensystem zurück, um flächendeckend die Daseinsfürsorge zu stabilisieren. Prophetischer Prostest gegen die zunehmende „Systemrelevanz“ ehrenamtlicher Lebensmittelweitergabe richtet sich gegen einen Staat, der immer mehr seine Fürsorgepflicht für Menschen in prekären Verhältnissen aus dem Blick verliert. Es geht schlichtweg um das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und damit um ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Die Folgen für die Entwicklung unserer Gesellschaft sind ansonsten denkbar düster, denn Menschen, die auf Spenden angewiesen sind, erleben sich als fremdbestimmt. Demokratie und die Erfahrung von persönlicher Selbstwirksamkeit gehören aber auf das engste zusammen. Almosen ersetzen keine soziale Gerechtigkeit[iii].

„Jeremia sucht Kollegen und Kolleginnen“. Sie Sie jemand, der hinschaut und unter der grassierenden Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft leidet? Ist Ihnen der Einsatz für die Menschenwürde etwas wert? Als Christin oder Christ müssen Sie sich nicht lange bewerben, denn durch die Taufe gehören Sie bereits zur Firma. Es liegt an Ihnen, loszulegen.

 

[i]https://www.rheinpfalz.de/lokal/pfalz-ticker_artikel,-mehr-familien-mit-kindern-gehen-zu-den-tafeln-_arid,5519398.html?utm_source=email&utm_medium=sharing

[ii] Z.B. in der taz: taz.de/Kritik-an-Niedersachsens-Sozialpolitik/!5873671/

[iii] Das Evangelische Sonntagsblatt bietet in seiner Ausgabe vom 21.3.23 eine knappe Zusammenfassung der laufenden Debatte: www.sonntagsblatt.de/artikel/gesellschaft/forscher-tafeln-kritik-soziale-gerechtigkeit

„Wir suchen zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen Kassier (m/w/d) zur Verwaltung unseres Mitgliederbestands und zum Einzug der Mitgliedsbeiträge. Er/Sie nimmt an allen Vorstandssitzungen teil, engagiert sich vollumfänglich für unserem Verein …“ So oder so ähnlich suchen nicht nur Unternehmen nach neuen Beschäftigten, sondern auch ungezählte Vereine nach Ehrenamtlichen, die bereit sind, einen Gutteil ihrer Freizeit selbstlos für den Sport, das Brauchtum, die Mitarbeit in Pfarreigremien oder Verbänden einzubringen.

Das Personalkonzept Jesu

Auch Jesus braucht Mitarbeitende, Menschen, die sich ohne Wenn und Aber einbringen. Und er findet sie: „An erster Stelle Simon, genannt Petrus, und sein Bruder Andreas, dann Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und sein Bruder Johannes …“ (Mt 10,2). Mit aller Akribie präsentiert Matthäus wie bei einem betrieblichen Personalverzeichnis die Namen der einzelnen Apostel und fügt teilweise präzisierende Erläuterungen hinzu. Ihm ist wichtig, dass Verwechslungen ausgeschlossen werden können und der jeweils Genannte tatsächlich existiert. Ersatz gibt es nicht.

Bei den vom Evangelisten angeführten Namen klingen zuhöchst individuelle Vorgeschichten an, Biographien, die nicht zum üblichen Klischee auserwählter frommer Männer oder zukünftiger Würdenträger passen wollen. In der ausgesprochen, ja schmerzhaft bunten Gruppe finden sich Schriftgelehrte ebenso wie Kleinunternehmer aus dem Fischereisektor und Zöllner, will heißen Kollaborateure mit der römischen Besatzungsmacht. Selbst der Namen eines Sympathisanten der Terrorszene taucht auf: Simon Kananäus, bekannt geworden als Simon, der Zelot (Lk 6,15), sprich er gehört zur Speerspitze des gewaltbereiten Widerstands gegen die Römer.

Hat Jesus die Wahl? Er nimmt diese Männer, weil sie so sind, wie sie sind. Menschen wie sie dürfen und werden die Verkündigung vom Reich Gottes prägen. Sie werden gebraucht, weil sie da sind: mit allem, was sie können und mit allem, was schiefgelaufen ist in ihrem Leben und Narben hinterlassen hat. Offensichtlich gehört es zu den wesentlichen Merkmalen dieses Reiches, dass dort unterschiedlichste Temperamente und Charaktere Platz haben; das Ringen um ein gedeihliches Miteinander ist Teil des Reiches Gottes im Werden. Jesus geht es nicht darum, nach harten Auswahlgesprächen klar beschriebene Posten zu besetzen. Die Namen der Zwölf stehen schlichtweg für die wachsende Anzahl an Menschen, die sich angesprochen fühlt von der Aufgabe zu trösten, zu heilen, zu versöhnen, Dämonen auszutreiben und am Boden Liegende aufzurichten. Das sich so andeutende Kommen des Reiches Gottes ist also von den Menschen geprägt, die sich von ihm begeistern und vereinnahmen lassen. Sie geben ihm ihr Gesicht, ihre Hände, ihre unverwechselbaren Begabungen. So wie jede, wie jeder ist, wird er gebraucht. Niemand ist ungeeignet, weil er einem Stellen- bzw. Aufgabenprofil nicht entspricht.

Kirchliche Suchmuster

Die von kirchlichen Gremien und Verbänden formulierten Erwartungen an das Ehrenamt unterscheiden sich nach wie vor stark von diesem Konzept. Ortsverbände der KAB jammern darüber, dass sich niemand mehr für die Aufgaben des Kassiers, des Vorstands oder der Schriftführerin findet. Gleichzeitig gibt es nach wie vor ungezählte Frauen und Männer, denen das sozialpolitische Engagement in unserer Gesellschaft ein Herzensanliegen ist und die viele Stunden im Einsatz für Menschen am Rande der Gesellschaft verbringen. Gebraucht werden und dazugehören. Um diese wunderbare Erfahrung geht es heute und um diese Erfahrung ging es auch den von Matthäus genannten Jüngern. Gottlob gibt es Pfarreien und Verbände, die das begriffen haben und deshalb „andersherum“ denken: von den Gaben zu den Aufgaben. Gemeinden und Vereine, die ihre ganze Arbeit an den Gaben, den Charismen orientieren! Es geht nicht zuerst um Aufgaben und Zuständigkeiten, für die dann die passenden Menschen gefunden werden müssen. Wer sich für andere einsetzt, will spüren: Ich bin wirksam. Mein Engagement ist richtig und wichtig, und ich sehe meinen Beitrag.

Ja richtig: der Titel scheint falsch zitiert. Er müsste korrekt „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ lauten. Im gleichnamigen Roman von Jan Weiler aus dem Jahr 2003 spielt der Geschmack am gemeinsamen (!) Essen, aber auch die damit verbundenen Fremdheitserfahrungen und Vorurteile eine zentrale Rolle. Der zentrale Moment für den „Culture-Clash“ zwischen süditalienischer Lebensfreude und reservierter deutscher „Befindlichkeitspflege“ ist natürlich das Essen und das Ausdrucksmittel für das deutsch-italienische Anderssein. In der filmischen Umsetzung durch die Regisseurin Neele Leana Vollmar sitzt der Hauptdarsteller Jan mit den vielen nervigen Verwandten seiner italienischen Verlobten, die ständig laut und quirlig durcheinander quasseln, stundenlang beim Mittagessen und muss sich ständig gegen die ihm aufgedrängten Meeresfrüchte wehren. Sie schmecken ihm nicht, weil er auf Muscheln & Co allergisch reagiert. Aber das interessiert keinen am Tisch, denn viel wichtiger ist das Essen in Gemeinschaft und die gemeinsame Freude an heimischen Köstlichkeiten. Und so versuchen ihn die teilweise schrullig überzeichneten älteren Damen in der italienischen Sippschaft regelrecht zu mästen.

 

Geschmack an Gott finden

Auch an Fronleichnam ist viel vom Geschmack die Rede wie – ungewollt – von einem nicht weniger heftigen Zusammenstoß der Kulturen. Selbst in katholisch geprägten Dörfern löst die Prozession mit der Monstranz in der Mitte „unterm Himmel“ zunehmend Befremden aus. Dieses steigert sich, wenn dann (wie recht oft in den entsprechenden Festtagspredigten) dringend empfohlen wird, sich neu auf die Eucharistie einzulassen und so wieder Geschmack an Gott zu finden. Nach wie vor gilt es im Kontext dieser Art von Ansprachen als unhinterfragt, dass die Kirche ein besonderer Ort für jene Menschen sei, die unter der Oberfläche der Konsumgesellschaft im Sinne von Lebenstiefe nach dem besonderen Geschmack suchen und sich nicht abspeisen lassen wollen mit den „Fertiggerichten dieser Welt“. Genau hier liegt das Problem. Köstliche Speisen kann nur der Koch, nur die Köchin auf den Tisch bringen, der selber eine Freude an schmackhaftem Essen hat. In diesem Sinn muss vor allem die Kirche (gemeint ist hier zuerst ihre sichtbar in der Öffentlichkeit auftretende Repräsentanz) glaubhaft zeigen, dass sie immer noch bzw. wieder Geschmack an der Welt hat. Seit längerem erweckt sie jedoch einen gegenteiligen Eindruck. Sie sitzt eher unbeteiligt am Tisch der Gesellschaft. Wenn aus dieser heraus überhaupt noch Kommentare kommen, dann lassen sich diese mit „ihr schmeckt’s nicht!“ zusammenfassen.

So nehmen es zumindest die meisten Menschen in unserem Land wahr. Abgesehen von sehr gelegentlichen Wortmeldungen zur Spaltung der Gesellschaft, Inflation und der weiteren Eskalation des russischen Kriegs gegen die Ukraine, scheint die kirchliche Repräsentanten und Repräsentantinnen überwiegend mit der Sorge um sich selbst bzw. ihren Allergien beschäftigt zu sein. Der eigene Bedeutungsverlust und der sich abzeichnende Einbruch bei den Kirchensteuereinnahmen sind offensichtlich die eigentlich wichtigen Themen, vom Streit über die Finanzierung der Fortsetzung des Synodalen Wegs ganz zu schweigen. Für ihr Überleben aber ist die Kirche darauf angewiesen, dass sie den Geschmack an der Welt wiederfindet. Nichts anderes mein das Zweite Vatikanische Konzil, wenn von der „Freude und Hoffnung“ wie der „Trauer und Angst der Menschen von heute“ spricht.

 

Keine Speise, die mir schmeckt

Fronleichnam 2023: anders als in Weilers erfolgreichem Romanerstling zeichnet sich für eine Kirche, der die Welt nicht schmeckt, kein Happy end ab. Es droht eher eine Entwicklung, die an das Ende in Franz Kafkas Kurzgeschichte bzw. Parabel „Ein Hungerkünstler“ erinnert. Dieser erklärt mit letztem Atem den Grund für seine von den Menschen längst nicht mehr beachtete Kunst weitgehenden Nahrungsverzichts wie folgt: „ich kann nicht anders …, weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.“[i] Ganz anders Gott! Er findet so viel Geschmack an und in dieser Welt, dass er für seine Gegenwart in ihr das Brot zum Zeichen erwählt und damit sagt: ich finde Geschmack an euch und will mit euch die durch dieses Brot bezeichnete Gemeinschaft leben. Ihm schmeckt’s!

 

[i] Zit. nach: www.projekt-gutenberg.org/kafka/erzaehlg/chap020.html

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands


 

„‚Der Babelfisch‘, ließ der Reiseführer ‚Per Anhalter durch die Galaxis‘ mit ruhiger Stimme vernehmen, ‚ist klein, gelb und blutegelartig und wahrscheinlich das Eigentümlichste, was es im ganzen Universum gibt. Er lebt von Gehirnströmen, die er nicht seinem jeweiligen Wirt, sondern seiner Umgebung entzieht… Der praktische Nutzeffekt der Sache ist, dass man mit einem Babelfisch im Ohr augenblicklich alles versteht, was einem in irgendeiner Sprache gesagt wird. Damit hat der Babelfisch … mehr Unheil und Kriege verursacht, als man sich denken kann (1).

Von der Pfanne in den Ofen

Mit bitterer Ironie stellt Douglas Adams in seinem gleichnamigen Kultroman klar, dass die bloße Übersetzung von der einen in die andere Sprache noch kein gegenseitiges Verständnis zur Folge hat. Ganz im Gegenteil: Die Sprache bleibt die Quelle aller Missverständnisse. Auch der „Babelfisch“ bewirkt nicht das Sprachenwunder, von dem an Pfingsten die Rede ist. Als Teilnehmer eines internationalen Kongresses der Christlichen Arbeiterbewegungen Ende März dieses Jahres konnte ich erneut erleben, dass es beim Dolmetschen um weit mehr geht, als nur Worte von einer Sprache in die andere zu übertragen. Die überragende Arbeit der Dolmetscherinnen und Dolmetscher trug entscheidend zur guten Atmosphäre der fünfsprachigen Konferenz bei. Bei einer reinen Google-Übersetzung wäre vieles an Inhalt und Zwischentönen auf der Strecke geblieben. Denn man und frau kann schon mal von der Pfanne in den Ofen kommen, wie es im Englischen heißt. Auf Deutsch kommen wir aber vom Regen in die Traufe. Kurzum: Sprache umfasst weit mehr als einfach nur Worte. Sprache transportiert immer ein bestimmtes Verständnis von Welt. Zur Sprache gehören die Kultur und die Unverwechselbarkeit eines jeden Menschen.

Meine Meinung zählt allein

Ob nun „Babelfisch“, Übersetzungsapps wie DeepL & Co oder das Erlernen von Fremdsprachen, - aller diesbezügliche Aufwand ist sinnlos, wo Menschen reden, aber nicht miteinander kommunizieren wollen. Und selbst die genialsten Dolmetscherinnen und Dolmetscher sind überfordert, wenn Sprache nur dazu zu dient, um die Alleingültigkeit der eigenen Position zu markieren. Die politischen Debatten der vergangenen Wochen sei es wegen des Heizungsgesetzes, rund um die Aktionen der „Letzten Generation“ oder den russischen Krieg gegen die Ukraine, können einem nachgerade das Fürchten lehren. Die persönliche Einzelmeinung scheint über alles zu gehen: über die Gedankenfreiheit der anderen und häufig sogar über deren bloße Existenzberechtigung. Längst hat sich die Kritik von den Inhalten losgelöst. Wichtig ist, dass kritisiert wird, nicht aber, was kritisiert wird. Es deprimiert mich, immer häufiger erleben zu müssen, wie Wahrheiten behauptet werden, aber zunehmend weniger um die Wahrheit gerungen wird. Am Ende würgen mir Menschen im Extremfall einfach nur noch ihren Frust als Meinung regelrecht hinein und sind empört, sollte ich auch nur für einen Moment etwas erwidern wollen.

Die Sprache der Sprachlosigkeit verstehen lernen

Daher bete ich mit Blick auf das diesjährige Pfingstfest um nichts Geringeres als um ein weiteres Sprachenwunder. Ich bitte um ein neues Wunder des Verstehens. Auf das spektakuläre Szenarium von Sturm und Feuer kann ich dabei gut verzichten. Mir genügt es, wenn ich zumindest ahnen kann, wo und wie heute Gottes Geist Kommunikation heilt und so neues Verstehen und eine neue Verständigung bewirkt. Ich vermute sein Wirken gerade dort, wo unter dem harten Panzer der Abgrenzung bei meinem Gegenüber eine tiefe Sehnsucht nach Verstanden werden und nach dem Respekt für die eigene Geschichte und Selbsteinschätzung durchschimmert. Weil ich fest davon überzeugt bin, dass man und frau „nicht nicht kommunizieren können“ (Paul Watzlawick), möchte ich eine Sprache verstehen lernen, für die es weder einen Kurs noch ein Übersetzungsprogramm gibt: die Sprache der Kommunikationsverweigrung. Ich will die Bandbreite dessen verstehen können, was sie oder er mir dennoch unbewusst mitteilt.

Sprachlehrerin Geist

Vor die Wahl „Babelfisch“ oder „Heiliger Geist“ gestellt, entscheide ich mich für letzteren. Doch nicht als Dolmetscher möchte ich ihn bei mir haben, sondern als geduldigen Sprachlehrer (gerne auch als einfühlsame Sprachlehrerin). Denn nur er bzw. sie kann mir die einzige Universalsprache beibringen, die der wertschätzenden Wahrnehmung und Empathie. Nur diese Lehrerin bzw. dieser Lehrer hilft mir, wahrzunehmen anstatt zu bewerten. Und sie, er lehrt mich, dass das eigentliche Wunder an Pfingsten in der Überwindung der Sprachlosigkeit besteht.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Adams, Douglas: Per Anhalter durch die Galaxis. Zürich, Berlin (Kein und Aber Pocket) 2017, S. 71/72.

Auch zu hören als Podcast - bitte clicken Sie
hier

 

Als Kind habe ich sogenannte Wimmelbilder über alles geliebt. Stets ging es darum unter den schier unzähligen Figuren, die typische Alltagsszenen wie ein Freischwimmbad oder eine Einkaufsstraße bevölkerten, eine ganz bestimmte herauszufinden. In der Regel lautete die Frage: „Wo ist Klaus?“ Und dann begab ich mich auf eine zuweilen ebenso lange wie genussvolle Suche. Das für diesen „Nachklang“ ausgewählte Bild bietet zwar lediglich eine gut überschaubare Gruppendarstellung, stellt aber fast die gleiche Frage: Wo ist Jesus?“ Der gewählte Fotoausschnitt zeigt viel, insbesondere viel Gold im Hintergrund, nur nicht den in den Himmel emporgehobenen Christus.

Die von Adolf Trawöger, Rektor des Bildungshauses Schloss Puchberg und Freund aus meinen römischen Studientagen, „geschriebene“ Ikone versammelt die Jünger mit Maria im Zentrum. Bis auf die offensichtlich stets gut informierte Gottesmutter reagieren die Dargestellten auf die erklärenden Gesten zweier Engel mit eher fragenden, ja sogar leicht irritierten Blicken. Wo ist Jesus? Die Antwort auf seinen Verbleib ist offensichtlich uneindeutig: einer der Engel deutet nach oben zum Himmel, der andere hin zur Erde. Die suchenden Augen der Jünger gehen daher in unterschiedliche Richtungen: einige folgen dem Fingerzeig, andere schauen geradeaus und wiederum dritte wirken irgendwie teilnahmslos. Insgesamt gleichen die Jünger den Teilnehmern an einer Kunstführung, die mit unterschiedlichem Vorwissen und angestrengter Aufmerksamkeit den dargebotenen Ausführungen zu folgen versuchen.

Der verstellte Blick

Wo ist Jesus? Ihn findet, wer mit den Augen der Ostkirche und ihrer „himmlischen Liturgie“ auf diese Ikone schaut. Es gibt in der Ostkirche keine Ikone, die nicht auf goldenem Hintergrund gemalt wäre. Gold ist in der Ostkirche die Farbe des Himmels. Und sie ist überzeugt: von diesen Bildern her leuchtet ein Stück Himmel in das Leben der Menschen hinein. Je intensiver ich vor den Ikonen bete und mich mit ihnen beschäftige, desto deutlicher leuchtet mir das wahre Bild von Gott und Jesus auf. Durch die Ikone wird die himmlische Welt jetzt schon präsent und wirksam. Das heißt, je mehr meine Suche zum Gebet wird, desto mehr erkennt sie Jesus im tragenden Goldhintergrund. Das klingt einfacher als es ist. Ich suche nach Jesus, weil ich ihn nicht sehen, wahrnehmen oder begreifen kann.

Häufig ist, ja wird mir der Blick auf ihn regelrecht verstellt. Die von vielen als solche wahrgenommene Unglaubwürdigkeit kirchlicher Verkündigung leistet hierbei genauso „ganze Arbeit“ wie die „Gott-mit-uns-Kriegspredigten“ des russischen Patriarchen und seiner geistig-geistlichen Ahnen in allen christlichen Konfessionen. Es fällt mir nicht selten schwer, bei all dem, was mich in meinem Erleben als Zeitgenosse ohnmächtig und wütend zurücklässt, noch bis auf den goldenen Hintergrund im wahrsten Sinn des Wortes durchzublicken.

Durchschimmern

Verrückterweise gibt es aber eine zweite, nämlich die umgekehrte Blickrichtung. Von Ikonen heißt es, dass sie Fenster zum Himmel sind. So wie ich zum Fenster hinaussehe und den Himmel erblicke, so schaut durch das gleiche Fenster der Himmel auch herein. In diesem Sinn schimmert der Goldhintergrund einer Ikone gewissermaßen aktiv durch. Es ist ein Geschenk, dieses „Durchschimmern“ wenigstens erahnen zu können. Manchmal sehe ich es, wenn sogenannte Kirchendistanzierte und in zunehmender Zahl auch Ungetaufte mit großer Überzeugung und Selbstverständlichkeit – so wie ich es wahrnehme – ethische Werte des Evangeliums für ihr Leben als Maßstab benennen und danach handeln. Ähnlich wie viele, die aus der Kirche austreten und sich doch weiterhin in einem christlichen Geist z.B. caritativ engagieren. Genauso scheint für mich Gott im Auf und Ab einer ganzen Reihe von Lebensgeschichten mir vertrauter Menschen durch. Und Gott schimmert in diese Welt hinein, „wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen … wo Menschen sich verschenken, die Liebe bedenken … wo Menschen sich verbinden, den Hass überwinden und neu beginnen, ganz neu“ (Christoph Lehmann).

Wo ist Jesus? Christi Himmelfahrt ist für mich die bleibende Aufforderung, hinter den so oft verstörenden und beängstigenden Wimmelbildern meines Lebens und Erlebens zumindest ein Schimmern des goldenen Hintergrundes zu erahnen. Hier und deshalb immer wieder woanders wird Jesus zu finden sein.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Nach der Geburt ihres dritten Kindes ließ meine jüngere Schwester ein neues Türschild anfertigen. Auf ihm war zu lesen: „Hier leben, lieben und streiten“, gefolgt von den Namen der Eltern und Kinder. Meine Mutter empfand diesen Hinweis an der Wohnungstür lange Zeit als deplatziert. Schließlich gehe es niemanden etwas an, was in den eigenen vier Wänden vor sich ginge. Aber auch ohne das neue Türschild bekamen die Gäste dieser Familie relativ schnell mit, dass zu deren Zusammenleben unbedingt die Bereitschaft gehörte, Konflikte rechtzeitig anzusprechen und Lösungen zu suchen, mit denen alle Beteiligten nicht nur leben, sondern sich auch weiterentwickeln konnten.

„Hier leben, lieben und streiten“. Dieses Türschild kennzeichnet auch die rasant wachsende Gemeinschaft der ersten Christinnen und Christen in Jerusalem. Im zweiten Teil seines Doppelwerks beschreibt der Evangelist Lukas zunächst das Liebesideal, das diese Frauen und Männer versuchen zu leben: sie verschenken ihr Hab und Gut und lassen den anderen so viel zukommen, wie diese benötigen. Sie praktizieren damit anfangshaft die Idee einer am Ende alle Menschen umfassenden Gemeinschaft, in der es keine Trennung mehr gibt zwischen Mitgliedern und Fremden, Drinnen und Draußen, Haben und Nichthaben.

„Seht, wie sie einander lieben“ – so fasst knapp 170 Jahre später der antike Kirchenschriftsteller Tertullian dieses Ideal zusammen. Er vergisst dabei, dass sich in der ersten Christengemeinde auch eine vorbildliche Konfliktkultur entwickelt hat. Lukas kann und will nicht kaschieren, dass es von Anfang an reichlich Anlass zum Streiten gab. In der Hauptsache hat sich diese frühe Gemeinschaft aus zwei Gruppierungen zusammengesetzt, die sprachlich und kulturell denkbar weit voneinander entfernt waren. Einheimische „Hebräer“ auf der einen Seite, „Griechen“ aus den Weiten des Römischen Reiches auf der anderen. Gemeinsam war ihnen der jüdische Glauben. Aber auch hier gab es tiefgreifende Differenzen in der Auslegung der Thora, des jüdischen Gesetzes.

Sehr schnell bekamen die Schwächsten, die Witwen unter den „Zugereisten“ den wachsenden Zwist zu spüren. Als ihr „Murren“ nicht mehr zu überhören ist und den Konflikt zusätzlich verschärft, nehmen die Apostel das Problem endlich in den Blick, klären dessen Ursachen und Umfang und entwickeln eine Lösung. Sehen, Urteilen, Handeln im besten Sinn des Wortes! In den weiteren von Lukas geschilderten Auseinandersetzungen wird sich zeigen, dass dieser Dreischritt gewissermaßen die DNA des Urchristentums bildet. Sie ist der Kern einer Konfliktkultur, in der sich die streitenden Parteien auf Augenhöhe begegnen, die Differenzen ernst nehmen und zu Lösungen finden, die ebenso pragmatisch wie weitreichend sind. Im Fall der vernachlässigten Witwen besteht der Ausweg darin, dass den „Griechen“ eine weitreichende Autonomie innerhalb der frühchristlichen Gemeinschaft ermöglicht wird. Die Apostel veranlassen hierzu die Wahl von sieben Männern in leitender Verantwortung und stoßen so die Entwicklung einer eigenständigen, Griechisch sprechenden Gemeinschaft an.

„Seht, wie sie miteinander streiten“. An der Frage einer bewusst praktizierten Konfliktkultur entscheidet sich für kleine und große Gemeinschaften, Gemeinden und Verbände Sein oder Nicht-Sein. Ein wichtiger Lebensvollzug dieser Kultur besteht darin, das „Murren“ inner- und außerhalb der eigenen Reihen ernst zu nehmen und als Entwicklungsimpuls zu begreifen. Wo dies gelingt, dort darf auch ein Türschild wie an der Wohnung meiner Schwester hängen.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Mehr als ein Fünftel der Deutschen fühlt sich häufig einsam. Dies hat eine von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2021 ergeben. Die ihr zugrundeliegende Umfrage fand 2018 und damit unmittelbar vor Corona statt. Die Pandemie selbst hat diesen Befund lediglich bestätigt und die schlimmen Folgen von Vereinsamung in ein krasses Licht gerückt. Jetzt, da wieder alles „normal“ läuft und massive wirtschaftliche Probleme auf vielen Menschen lasten, scheint das Thema „Einsamkeit“ ebenso wie der Virus verschwunden zu sein. Doch der Schein trügt! Denn die Auswirkungen von Einsamkeit und sozialer Isolationen betreffen abgesehen von einem hohen Prozentsatz an Seniorinnen und Senioren sowie nicht wenigen Kindern immer mehr Frauen und Männer in der Lebensmitte. Nicht zuletzt die wachsende Individualisierung von Arbeitszeiten und die starke Zunahme an flexiblen Arbeitszeitmodellen tragen hierzu bei. Die meisten Menschen verbringen nun einmal einen Gutteil ihres Lebens am Arbeitsplatz. Eine Vierzig- oder gar Fünfundvierzigstundenwoche sind nichts Ungewöhnliches.

Wer überwiegend im Homeoffice arbeitet und/oder ohne Bindung an ein Team, der droht über kurz oder lang in der sozialen Isolation zu landen. Wöchentlich wechselnde Arbeitszeiten mindern zudem stark die Möglichkeit, sich mit anderen in der Freizeit zu verabreden oder am Leben von Vereinen, Interessengruppen oder anderen regelmäßig sich treffenden Gemeinschaften teilzunehmen. Die Vereinsamung reicht mancherorts auch tief in einzelne Kirchgemeinden hinein. Besonders Hirtinnen und Hirten sind davon betroffen. Diese führen nicht selten eine von Überarbeitung geprägte Existenz, die für bewusste Gemeinschaftserfahrungen im nichtberuflichen Kontext kaum noch Freiräume bietet. Ich schreibe dies als ein über mehr als drei Jahrzehnte hiervon Mitbetroffener. Gleiches gilt für Menschen in Pflegeberufen oder in Schichtarbeit.

Das am vierten Sonntag in der Osterzeit vorgelesene Evangelium bietet alljährlich mit dem Bild vom „Guten Hirten“ und den Schafen den Gläubigen ein zwar immer diskutiertes, insgesamt aber auch zu Herzen gehendes Bild für Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit an. Gleichzeitig sichert es die Einmaligkeit und Entscheidungsfreiheit der einzelnen und des einzelnen: Jesus kennt jede und jeden beim Namen. Er bringt damit zusammen, was bei mir oft auseinanderklafft: als Individuum frei zu sein und doch zu einer Gemeinschaft gehören zu wollen. Es sollte in einem Verband oder einer Gemeinde zur gelebten Praxis gehören, diesen Widerspruch im Sinne Jesu zu lösen und damit der Vereinsamung in den eigenen Reihen und darüber hinaus die Stirn zu bieten. Dies beginnt damit, Einsamkeit als Phänomen zu entstigmatisieren und ihre schlimmen Folgen ernst zu nehmen: Menschen dürfen darauf hinweisen, einsam zu sein und dürfen mit offenen Armen, einer ihnen dargebotenen Hand und einem niederschwelligen Willkommen rechnen. Das Evangelium vom Guten Hirten und seiner Herde weist eindringlich darauf hin, dass jede und jeder von uns Beachtung, Respekt und Fürsorge braucht. Jede und Jeder von uns ist auf Vertrautheit und Beziehung existenziell angewiesen. Es wird höchste Zeit, dass Kirchgemeinden, Verbände und viele andere kirchliche Vergemeinschaftungsformen sich endlich darauf besinnen, im Sinne Jesu Menschen ohne Ansehen der Person Beziehung und immer die wieder die heilsame Erfahrung von Freiheit und Geborgenheit anzubieten. Gemeinsam statt einsam!

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

„Lass sie doch reden!“ Wer sich so äußert, ist an der Meinung anderer nicht interessiert. Im Gegenteil: sie oder er geht den eigenen Weg und folgt ohne Rücksicht auf Einwände, Anmerkungen oder Kommentare von dritten persönlichen Zielen. Drei österliche Zuhörgeschichten drehen die Redewendung nun in eine völlig andere Richtung.

Erste Zuhörgeschichte. Wenn der Auferstandene die Menschen „reden lässt“, dann verkehrt sich der landläufige Sprachgebrauch dieser Formulierung ins glatte Gegenteil. Jesus erkundigt sich danach, was den Jünger und die Jüngerin(1)bedrückt, die im Schatten des Karfreitags tief verstrickt in ihre persönliche Enttäuschung nur noch fort wollen vom Ort des absoluten Unglücks. Ihn interessiert wirklich, was sie bewegt und er lässt sie reden. So können sie endlich von ihrer tonnenschweren Herzenslast sprechen und sie dürfen im wahrsten Sinn des Wortes ausreden. Natürlich weiß er über das, was zwischen dem sogenannten letzten Abendmahl und der Kreuzigung passiert ist, bestens Bescheid. Seine Frage zielt psychologisch klug auf die persönliche Sicht seiner Gesprächspartner: wie fühlt sich der Absturz in die dunkelste Hoffnungslosigkeit für die beiden an? Indem sie es ihm erzählen, werden sie sich ihrer wahren Gefühle und Abgründe erst in vollem Umfang bewusst. Sie reden ganz auf sich konzentriert und bringen die persönlichen Konsequenzen der Tragödie des Karfreitags endlich ins Wort. Ihr Lebensentwurf ist schlichtweg zerbrochen und sie selbst scheinen im wahrsten Sinn des Wortes heimatlos geworden. Da hilft auch nicht die offensichtlich absurde Mitteilung vom leeren Grab. Dem Augenschein nach gibt es gerade für die beiden keine härtere Tatsache als den Tod selbst und ein Verstorbener ist die Ursache für ihre lähmende Enttäuschung. Lukas beschreibt am Ende der Geschichte, welcher Wandel in der Jüngerin und Jünger sich durch das endlich Reden-können und das wirkliche Zuhören Jesu Bahn gebrochen hat. Angesichts des heraufziehenden Abends denken beide auf einmal nicht mehr nur an sich, sondern an den Fremden. Sie wissen, wo sie über Nacht bleiben, aber der Fremde?

Zweite Zuhörgeschichte. Ein Leben lang war die als Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2020 spät berühmt gewordene Schriftstellerin Helga Schubert mit ihrer Mutter im Clinch. Sie tat sich schwer mit dem vierten Gebot, ihre Mutter zu lieben. So fuhr sie in den Norden Deutschlands, suchte eine Kurseelsorgerin auf und vertraute dieser ihr Unglück an: sie könne ihre Mutter nicht lieben. Die Seelsorgerin führte sie zu einem neuen Verständnis des Gebots: sie brauche die Mutter nicht lieben, sondern lediglich zu ehren. Und das tue sie ja, indem sie sich um sie kümmere. Ein Zentnergewicht fiel ihr vom Herzen(2). Eine Ostererfahrung, weil erneut ein bedrückter Mensch reden konnte und befreiendes Zuhören erlebt hat.

Dritte Zuhörgeschichte. 65 LKW-Fahrer aus Usbekistan und Georgien haben seit Wochen keine Zahlungen von dem Unternehmen erhalten, für das sie arbeiten. Daher sind sie in Streik getreten und haben ihre Lastwägen an der Autobahnraststätte Gräfenhausen nahe Darmstadt (A5) abgestellt. Von dort aus wollen sie mit ihrem Arbeitgeber verhandeln. Der Konflikt zieht sich seit einigen Wochen hin und drohte am Karfreitag wegen eines vom Unternehmen eigens entsandter Schlägertrupps zu eskalieren. Von Anfang an hat sich die Betriebsseelsorge verschiedener süd- und westdeutscher Diözesen dieser bis aufs Blut ausgebeuteten Arbeitnehmer angenommen. Neben den vielen Menschen, die den Fahrern ihre Solidarität bekunden und Lebensmittel und weitere überlebenswichtige Artikel bringen, gibt es Frauen und Männer, die teilweise eigens Georgisch und Usbekisch gelernt haben und so durch ihr gutes Zuhören den Streikenden die vielleicht größte Unterstützung bieten. Wie diese Geschichte ausgeht bleibt trotz erster Lohnnachzahlungen wohl noch länger offen. Aber Ostern hat sich auch am Rande der Autobahn zumindest erahnen lassen.

Ja, lassen wir die Leute wirklich reden und hören wir ihnen so gut wie nur möglich mit aller Empathie zu. Schreiben wir endlich unsere eigenen österlichen Zuhörgeschichten!

(1) Vom griechischen Bibeltext her ist die Lesart von Lk 24,13 mit „Jünger und Jüngerin“ möglich. Inhaltlich begründet sie sich mit der außerordentlichen Wertschätzung, die der Evangelist Lukas den Frauen in seiner Jesus-Geschichte entgegenbringt, und der hohen Bedeutung, die er ihnen als Zeuginnen der Frohen Botschaft beimisst.

(2) Helga Schubert, Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten, München 2020.

Stellen Sie sich vor, sie müssten bei einem Quiz pantomimisch Ostern darstellen. Vermutlich würden Sie je nach Brauchtum vor Ort das Suchen und Finden von Osternestern in Szene setzen, Ostereier „trudeln“ lassen oder als Osterhase herumhoppeln. Mir persönlich fallen zu Ostern aber ganz andere Gesten ein: ich würde entsetzt dreinblicken, dann auf die Knie sinken, die Hände vors Gesicht schlagen und schließlich ziellos davonlaufen. Sicher, niemand würde erraten, dass es sich hierbei um Ostern handelt. Aber mit meiner Darstellung bin ich nahe bei den Hauptfiguren der Osterevangelien und ihren Reaktionen auf das Unfassbare und den im wahrsten Sinn des Wortes Unbegreiflichen.

Die Frauen am Grab, die Jüngerinnen und Jünger – das sind in erster Linie Menschen, die Ostern zunächst einmal ratlos, frustriert und zweifelnd, ja sogar zum Teil in Panik zurücklässt. Manche laufen wie die beiden sogenannten „Emmausjünger“ in ihrer Enttäuschung einfach davon, andere verkriechen sich mit ihren unbeantworteten Fragen, dritte kommen fast um vor Angst. Sie alle sind für mich nahe dran an der Gefühlswelt, die ich rund um das diesjährige Osterfest erlebt habe: Menschen, die durch die Schreckensbilder und -nachrichten aus der Ukraine beständig aufgewühlt werden (Stichwort „Enthauptungsvideo“); Menschen, denen das persönliche Erleben von Gewalt die Sprache raubt; Menschen, denen angesichts der lebensbedrohlichen Erkrankung nächster Angehöriger die eigene Lebensenergie versagt. Und dann immer wieder Frauen und Männer, denen es mit unserer Kirche einfach „zu viel wird“ und die „das alles“ einfach nicht mehr glauben können. Weder die Frohe Botschaft noch das unerträgliche Verhalten von Verantwortungsträgern.

Eine zweite stumme Ostergeste fällt mir ein: die des geduldigen Nachgehens, ja des beharrlichen Hinterherlaufens. Denn nichts anderes macht der Auferstandene. Er ist der Wanderer, der an den Enttäuschten dranbleibt und das Gespräch mit ihnen sucht. Er bleibt unaufdringlich in ihrer Nähe und nimmt es nicht persönlich, wenn er abblitzt. Gründe für eine Ablehnung gibt es viele. Nicht wenige Gespräche enden nach wenigen Augenblicken im Sinne des knallharten Statements des Apostels Thomas: „Wenn ich nicht sehe, glaube ich nicht, glaube ich überhaupt nichts!“ Wie er sprechen viele, deren Liebe, Begeisterung oder Engagement nicht nur durch die Kirche brutal ausgenutzt worden ist. Frauen und Männer, die einmal alles auf eine Karte gesetzt haben und danach aus allen Wolken gefallen sind, lassen sich nicht mit noch so gut gemeinten Hinweisen oder gar dem „Tröstungs-Buisiness-as-usual“ besänftigen. Menschen wie sie, die nachhaken und den Finger in die offenen Wunden legen, sind ein Geschenk für die Glaubensgemeinschaft. Genauso tun sie auch unserer Gesellschaft gut. Wir brauchen sie!

Nachlaufen, Dranbleiben, Hinhören, Zweifel ertragen und einfach dasein. Für mich sind dies die zentralen Bestandteile einer Gebrauchsanleitung für österliches Leben. Sind wir in diesem Sinne wachsam für das, was um uns herum, aber auch in uns selber geschieht! Machen wir die Ohren auf! Seien wir mutig im Zuhören! Widerstehen wir der Versuchung gut geölter Durchhalteparolen! Werden wir in Haltung und Handeln österliche Menschen.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

 

Hand aufs Herz: haben Sie Angst vor bestimmten Fragen? Die Frage, die ich persönlich am meisten fürchte, lautet: Glaubst du, dass es ein Leben nach dem Tod gibt? Diese Frage wird regelrecht bohrend, wenn sie mir ein Mensch stellt, der wie mein gestern noch so rüstiger Vermieter seit heute weiß, dass er bald an Krebs sterben kann. Er, ein Mensch, der erklärtermaßen ein Leben lang eine gut gepflegte Skepsis gegenüber Glaubensdingen entwickelt hat und mich nun fragt: Du mit Deiner Expertise als Theologe und Seelsorger, glaubst Du, dass ich nach dem Tod leben werde? Womöglich hat sich die eine oder der andere von Ihnen auch schon mit genau dieser Frage konfrontiert gesehen. Sie schnürt einem in dieser Härte förmlich die Luft ab. Mir jedenfalls geht es so. Klar: In den jungen Jahren meines Berufs hatte ich einige gut geölte und beim ersten Hören vielleicht sogar griffige Sätze parat wie z.B. „der Tod ist eine Beleidigung für das Leben, das Leben aber hat das letzte Wort, das Leben in Christus“. Aber nach mehr als drei Jahrzehnten Berufserfahrung an Sterbebetten und trostlosen Angehörigen stockt mir die Sprache.

Osterzeugen mit Biographiebrüchen

Das was ich über meinen persönlichen Glauben an ein Leben nach dem Tod sagen kann, habe ich einer Handvoll Osterzeuginnen und Osterzeugen in meinem bisherigen Leben zu verdanken. Ja, Sie haben richtig gehört, Osterzeuginnen und Osterzeugen gibt es auch heute, genauso wie die Frauen am leeren Grab und wenig später auch die anderen Jünger Jesu. Meine Osterzeuginnen und Osterzeugen haben eines gemeinsam: mindestens eine Macke, einen Knick, häufig sogar einen oder mehrere Brüche in ihrer Biographie. Zwei davon waren Priester aus meinem Würzburger Jahrgang, die nach ihrer Heirat lange um ihren Glauben und ein versöhntes Verhältnis zu ihrer Kirche haben kämpfen müssen. Heute tun beide in therapeutischen Berufen viel dafür, dass andere Menschen persönliche und fremde Verwundungen annehmen können: österliches Wirken im besten Sinn des Wortes. - Eine römische Mitstudentin hat sich nach einer jahrzehntelangen Suchtkarriere in ein stabiles und für sie gutes Leben zurückgekämpft: eine Osterzeugin. - Ich denke aber auch an einen Schulkollegen, der sich nach einer fast tödlichen Krankheit beruflich neu orientiert hat. Er hängte seinen Managerjob bei einem großen Sportartikelhersteller zugunsten der sportlichen Betreuung benachteiligter Jugendlicher an den Nagel. Und schließlich der gemobbte Abteilungsleiter bei einem großen Automobilzulieferer in Aschaffenburg, den ich nach seinem Suizidversuch als hochengagierten Initiator einer Selbsthilfegruppe für andere kaputtgemachte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kennengelernt habe. Die Glaubwürdigkeit dieser Menschen besteht darin, dass sie gegen alle Wahrscheinlichkeit in ihrem beschädigten Leben zu Werten und Überzeugungen gefunden haben, die ihnen Halt in aller Bedrohung, ja sogar angesichts des Todes geben. Alle diese Menschen scheinen ganz persönlich von etwas berührt und angesprochen zu sein, das größer ist alles Zerstörerische. Für mich als Christ ist es mehr als ein „Etwas“, es ist ein ansprechender „Jemand“: der Gekreuzigte und Auferstandene. Er spricht mich an, selbst wenn alle anderen von mir nur noch als von „dem da“ oder unter Benutzung einer herabsetzenden Bezeichnung reden.

Beim Namen genannt

Genau deshalb ist auch Maria von Magdala für mich die wichtigste Osterzeugin überhaupt. Weil sie öfters als die sogenannten „normalen“ Menschen das Zerbrechen ihrer Wünsche, die Zerstörung ihrer Lebenspläne erlebt hat, weil sie die Erfahrung der Erniedrigung erlebte, weil es ihr im Leben dreckig ergangen ist – wie den ausgegrenzten verheirateten Priestern, wie der suchtkranken Mitstudentin, wie dem totkranken Manager und dem gemobbten Abteilungsleiter –, weil ihr also der Boden unter den Füßen öfters entzogen wurde, hat sie die Nennung ihres Namens in der Tiefe ihres Herzens berührt: „Maria“ – denn so heißt es in der Fortsetzung des Osterevangeliums nach Johannes, in der sie Jesus begegnet. Sie erlebt das ehrliche Angesprochenwerden beim Namen als jenen Wert, der sogar die Grenze des Todes überschreitet. Sie, die sozial schon tot war, findet durch die Begegnung mit Jesus zum Leben. Deswegen ist sie die Erste, die den Auferweckten wiedererkennt und überzeugend sagen kann: Gott hat ihn auferweckt. Und sie bezeugt dies den „Großkopferten“, den von ihrem Stand überzeugten Aposteln und heute den Studierten mit ihren geölten Antworten.

Winzig sind die Argumente des Lebens, aber …

Ja, ich habe Angst vor der Frage nach meinem persönlichen Glauben an ein Leben nach dem Tod. Denn ich erlebte und erlebe mich mitunter auch noch heute als jemand, dem es als Teil einer religiösen Institution mehr darum geht, Religion zu organisieren als um den persönlichen Einsatz für die Hoffnung, die den Tod überlebt. „Glaubst du, dass Er auferstanden ist?“ „Glaubst du, dass du selber auferweckt werden wirst?“ Diese Fragen stellen nicht nur Menschen, die mit ihrem bisherigen Lebenskonzept auf einmal in der Luft hängen.

Ja! Ich glaube und ich glaube dies auch deswegen, weil Menschen mit Brüchen und Narben in ihren Lebensgeschichten manchmal sehr glaubwürdige Zeuginnen und Zeugen für die Auferstehung sein können. Weil sie, die sie schon so oft tot waren, tot für ihre Mitmenschen und auch tot für sich selber, diese alles umkrempelnde Erfahrung des Neubeginns gemacht haben. Und ich glaube auch, weil jene, die um den letzten Atemzug ringen, sehr oft daran glauben und deswegen auch versöhnt und in Frieden sterben können. Ja, das ist fast nichts, was ich der gefürchteten Frage entgegenhalten kann. Aber für dieses armselige Etwas an Antwort gilt:

winzig sind stets die Argumente
des Lebens
gegen den Tod
- aber sie stechen.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Auch zu hören als Podcast - bitte clicken Sie
hier

 

Er ist so etwas wie die Anziehpuppe in der katholischen Heiligenschar. Weil ihn die Heilige Schrift nur am Rande erwähnt, bietet der Ehemann Marias und der Ziehvater Jesu die bestmögliche Projektionsfläche für zeitgenössische Idealisierungen und Zuschreibungen. Er schweigt dazu. Manche seiner Kleider sind exklusiv wie z.B. die des Nährvaters Jesu und des Bräutigams seiner Mutter. Andere hingegen spiegeln den Wandel der ihm zugedachten Rollen im Lauf der Jahrhunderte wider: zunächst erscheint er in Aufmachung eines meistmüden älteren Mannes, der dann im Mittelalter zum braven Arbeitsmann mutiert. Zu Beginn der Neuzeit sehen die Gläubigen in ihm zunehmend mehr den Typus eines väterlichen Menschen, der für Recht und Ordnung eintritt. Gleichzeitig wird er in den Darstellungen immer jünger. Wenig später beginnt er als Handwerker und Wahrer der entsprechenden Tradition Karriere zu machen. Im 19. Jahrhundert trägt er dann die Kleider des Antirevolutionärs. Als Kirchenpatron schützt er die Kirche im 20. Jahrhundert gegen den Weltkommunismus und wird zum wichtigen Helfer im Kalten Krieg. Für die KAB und das Gesamt der christlichen Arbeiterbewegung steht Josef, der Arbeiter, im Vordergrund.

Mir ist eine Beschreibung des Heiligen Josef aus einer „Werkvolkpredigt“ der späten 1940er Jahre besonders sympathisch: hier wird er als Vorbild jener Menschen charakterisiert, die nicht durch „das leere Wort, hinter dem nichts steht und auf das kein Handeln folgt“, sondern die durch „eine Summe kleiner, kleinster alltäglicher Taten … allmählich eine ganze Welt in Bewegung“ setzen. Statt „vieler Worte eine ganz kleine, stille, schlichte Tat jeden Tag – die Welt wird gewandelt.“(1) Eine der wesentlichen Aufgaben der KAB war und ist es, auf die vermeintlich „kleinen Leute“ im Wirtschafts- und Produktionsalltag in unserem Land und weltweit hinzuweisen. Es gehört zu ihrem Wesenskern, für die Rechte und den Schutz insbesondere von Arbeitenden in den unteren Tarifgruppen, aber auch in atypischen Beschäftigungsverhältnissen umfassend einzustehen. Für die KAB ist der Heilige der Schutzpatron der Frauen und Männer in der zweiten und dritten Reihe.

Mit dem Heiligen Josef bitten die KABlerinnen und KABler darum, dass Vorgesetzten endlich die Augen für die Leistungen aus den „unteren Etagen“ geöffnet werden. Nicht selten werden in den Führungsetagen Entscheidungen nicht aufgrund der guten Ergebnisse ungezählter Mitarbeitender, sondern mit Blick auf die brillante Selbstdarstellung einzelner Kolleginnen und Kollegen getroffen, die den Erfolg für sich alleine beanspruchen. Bitten wir den Heiligen Josef darum, dass die vielen kleinen und oft mühevollen Arbeitsschritte und die als unscheinbare Glieder der Wertschöpfungskette Tätigen besser gesehen und gewürdigt werden. Es sind vor allem ihr Fleiß und ihre Loyalität, die einem Unternehmen zu einer guten Performance verhelfen, nicht aber jene, die die Leistungen anderer für ihr eigenes Fortkommen absahnen oder im Sinne knallharter Gewinnmaximierung regelrecht auspressen. In Extremform wird in diesen Tagen die betriebserhaltende Arbeit jener, die über Jahre durch ein Übermaß an Engagement und harten Verzicht für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze gekämpft haben, von den Investoren der Galeria-Kaufhäuser als bedeutungslos und aus der Zeit gefallen diffamiert.

Hier hilft nur noch die Vergegenwärtigung der Revolution, die die Frau des Heiligen Josef besungen hat: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Es ist gefährlich, den Heiligen Josef zu unterschätzen. Als Teil der alle Verhältnisse umstürzenden Geschichte des Gottessohns trägt er von Anfang auch die Kleider des Aufstands gegen Anmaßung und Unmenschlichkeit.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Dietmar Grypa, Die Katholische Arbeiterbewegung in Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1963, Paderborn 2000, 203

 

Schnellwaschmittel und Schmutzfaktor in einem

Gesprächsbereitschaft ist ein Schnellwaschmittel. Wer sie rechtzeitig signalisiert oder im Nachhinein für sich behauptet, hat gute Chancen, in der Öffentlichkeit mit sauberer Weste dazustehen. „Wir wollten ja reden, aber die anderen …“ Wir, das sind die Tarifparteien zu Beginn der Verhandlungen, Prozessgegnerinnen, Parteimitglieder, Verbandsmenschen usw. Freilich: Wer gesprächsbereit ist, muss deshalb noch lange nicht an Lösungen, geschweige denn an einem neuen Miteinander interessiert sein. – Denn auch das ist eine Tatsache: Ernsthafte Gesprächsbereitschaft macht schmutzig. Wer sie konsequent praktiziert, setzt die eigene „reine Lehre“ aufs Spiel oder die Beschädigung seiner bislang „alleinseligmachenden“ Sicht der Dinge. Deshalb verlassen immer wieder vermeintlich gesprächsbereite Frauen und Männer selbst nach Jahren die von ihnen mitgeprägten Dialogprozesse, sobald es um die Formulierung ebenso verbindlicher wie für beide Seiten schmerzhafter Kompromisse geht. Wer diese mitträgt, gilt bei seinesgleichen schnell als angeschlagen, gerne auch als abtrünnig und damit für „höhere Weihen“ in jeglicher Hinsicht untauglich.

Bloßer Austausch von Worten

Leider ist die irrtümliche Annahme weitverbreitet, Gesprächsbereitschaft sei in der Hauptsache der Austausch von Worten. Im kirchlichen Kontext gilt es für manche schon als „Gespräch“, wenn sich die Beteiligten im selben Raum befinden und einer gemeinsamen Tagesordnung folgen. Zum Beispiel steht der von den Bischöfen und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken von 2011 bis 2016 angeleierte „Dialogprozess“ in diesem Sinn für virtuos inszenierte Harmlosigkeit. Gleichzeitig stellt er ein kommunikationspsychologisches Meisterstück des Monologisierens vor großem Publikum dar. Wird bei der unter dem Label „Synodaler Weg“ Ende 2019 ins Leben gerufenen Nachfolgeveranstaltung mehr herauskommen? Wie viele der sich vom 9. bis 11. März in Frankfurt zu dessen Abschluss versammelnden Mitglieder haben sich in den vergangenen Jahren durch die Begegnungen und Gespräche mit der Gegenseite auf dem gemeinsamen Weg verändern lassen? Bei wem haben die erlebten Irritationen zu einem Sinneswandel und nicht nur zu einer Bekräftigung der eigenen Position geführt? Nach den mehr oder weniger spektakulären Mandatsaufgaben einiger Beteiligter in den letzten Wochen und angesichts des sich mit Rom zuspitzenden Konflikts über die Rechtmäßigkeit einer selbstverpflichtenden Verstetigung namens „Synodaler Rat“ stellt sich zudem die Frage, in welchem Maße die finalen Beschlüsse der Versammlung auf Dauer zu einer Befriedung in der Kirche beitragen und ihre Position in der Öffentlichkeit stärken können.

Eine andere Welt ist möglich

In der vom heutigen Sonntagsevangelium skizzierten Ausgangssituation konnten die ersten Hörerinnen und Hörer getrost davon ausgehen, dass sich die Protagonisten, Jesus und die namenlose samaritanische Frau einfach anschweigen würden. Alles andere hätte wenigstens zu starker Verwunderung Anlass gegeben (vgl. Joh 4,27): den Jüngern raubt daher das abnorme Verhalten Jesu schlichtweg die Sprache. Es gab grundsätzlich nichts zu besprechen zwischen Juden und Samaritanern. „Juden hatten keinen Umgang mit Samaritanern“, wörtlich übersetzt, „sie benutzten nichts gemeinsam“ (Joh 4,9). Ja häufig gingen Juden auf der Reise zwischen Judäa und Galiläa selbst der bloßen Begegnung mit den „Ketzern“ im wahrsten Sinn des Wortes aus dem Weg und wählten dafür lange Ausweichrouten. Aber auch zwischen einer Frau und einem Mann gab es nicht nur in der Mittagshitze vor dem Stadttor nichts zu besprechen. Beide sind sich des doppelten Tabubruchs bewusst, als sie gegen alle Wahrscheinlichkeit und Konvention ins Plaudern kommen. Sie reden einfach miteinander. Durst ist das Thema, Durst in jeder Beziehung. Und so erlebt die Frau in Jesus den Mann, der endlich mit ihr (und nicht moralisierend über sie oder an ihr vorbei) spricht. Sie kann sich endlich zu ihrem Durst nach Annahme und Zuwendung und damit nach einem gelingenden Leben bekennen. Ich stimme der Berliner Theologin Eva-Maria Bohle zu, wenn sie anmerkt, wie kunstvoll die beiden aneinander vorbeireden und sich dabei in einem Flirt über Wasser und Gebet eine hinreißende Vision vom Reich Gottes entwickelt. Der Messias wird den Durst nach Leben stillen und dies geschieht: Jetzt. Dieses „Jetzt“ kommt ohne das ermüdende Spiel von Gesprächsbereitschaft und -verweigerung, ohne langwierige Verhandlungen und Schluss-Kommuniqués aus. Mögen Laien und Bischöfen dieses „Jetzt“ genauso geschenkt werden, wie es Eva-Maria Bohle schildert: „Hier an diesem Brunnen tut sich der Himmel auf: Nicht morgen. Jetzt. Denn es gibt kein Morgen. Es gibt immer nur den Augenblick, und in dem kann sich der Himmel auftun. Himmel bedeutet in diesem Fall: Kein Durst, kein Hunger, Mann und Frau begegnen sich auf Augenhöhe, moralische Vorbehalte sind obsolet, fremde Kulturen trennen nicht, religiöse Traditionen verlieren an Bedeutung. Wer betet, soll das im Geist und in der Wahrheit tun, Gemeinschaft entsteht. … Wichtig ist, dem Fremden den Durst zu stillen und zu glauben: Eine andere Welt ist möglich.“(1)

Nicht „Gesprächsbereitschaft“, sondern die Art des miteinander Sprechens und das Brennen für den Geist des Evangeliums macht diese andere Welt möglich. Alles andere ist nur heiße Luft.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Evamaria Bohle, „Durst löschen“, Morgenandacht im DLF am 25.3.2017: https://rundfunk.evangelisch.de/kirche-im-radio/morgenandacht/durst-loeschen-8730

 

„Endlich Freitag im Ersten“. Mit diesem Label eröffnet die ARD ihr Wochenendprogramm am Freitagabend. Eine Frau liegt nach einer vermutlich anstrengenden Arbeitswoche entspannt auf dem Teppich vor ihrer Couch und signalisiert den Betrachtenden, dass jetzt das Wochenende beginnt und damit die Zeitphase, in der keine Vorschriften, Pflichten und Konventionen gelten. Freiheit und Entspannung pur eben. Ein wichtiger Slogan für den Schutz des Sonntags klingt ähnlich: „Endlich Sonntag“. Ob das mit dem Freitagabend beginnende Wochenende oder speziell der Sonntag: immer geht es um Selbstbestimmung, Freiheit und Kräfteerneuerung. Wichtig ist, dass es ein unhinterfragbares Recht auf diese Zeit für mich selbst gibt.

Einige Hunderttausend Frauen und Männer in unserem Land haben aber nichts von diesem Recht. Weil sie finanziell (und auch ihre Familien) nicht über die Runden kommen, arbeiten sie häufig auch am Wochenende und nicht selten sogar an mehreren Sonntagen hintereinander. Für sie gibt es fast nur Werktage. Gleichzeitig sorgen aber ihre Dienstleistungen häufig dafür, dass wir von Freitag- bis Sonntagabend immer wieder einmal so richtig abschalten können. Gemeint sind in diesem Zusammenhang nicht all jene, die im Gesundheitsbereich, bei Feuerwehr und Polizei, in der Seelsorge oder anderen für das Funktionieren unserer Gesellschaft relevanten Aufgaben regelmäßig an Samstagen und Sonntagen arbeiten müssen. Im Focus dieses „Nachklangs“ stehen vielmehr Frauen und Männer, die in der Gastronomie, im Tankstellenservice, als Personal bei großen Kulturveranstaltungen oder als Hintergrundteams von automatisierten Läden, Hotlines und vielen anderen nicht überlebensnotwendigen Sektoren arbeiten. Der größte Teil von ihnen geht seinem Job im Rahmen einer sogenannten atypischen Beschäftigung nach. Das heißt, wie bald jede und jeder Fünfte in Deutschland verdienen auch sie ihr Geld entweder in Leiharbeit, Teilzeit, befristet oder in mindestens einem Minijob. All diese Tätigkeiten werden als „atypisch“ bezeichnet, da sie von dem „Normalarbeitsverhältnis“, einem unbefristeten Vollzeitjob mit Sozialversicherungspflicht, abweichen. Generell liegt in diesen Beschäftigungsverhältnissen der Lohn niedriger als in regulären Arbeitsverhältnissen. Ein völlig unterschätztes Problem und ein gerne übersehener Missstand stellt die Verteilung der Wochenarbeitszeit dar. Hier nun kommen endgültig all jene in den Blick, die in einem Zweitjob am Wochenende arbeiten müssen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Sie gehören zu den insgesamt mehr als 3,4 Millionen sogenannten Mehrfachbeschäftigten in unserem Land, die einen Zweit-, ja manchmal sogar einen Drittjob haben. Nicht wenige von ihnen verdienen in ihrem Hauptberuf gerade genug, um Miete und Ernährung finanzieren zu können. Erst durch die Zusatzeinnahmen aus ihren Zuverdiensten können sie sich das ein oder andere leisten, um gesellschaftlich halbwegs anschlussfähig zu bleiben. Doch ausreichend Zeit für Ruhe und Erholung oder gar, um sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, haben sie nicht. Immer wieder ist von Menschen zu hören, die am Wochenende bis zu zwölf Stunden, oft verteilt auf Samstag und Sonntag, z.B. in der Gastronomie, an der Tankstelle oder bei Eventanbietern arbeiten und am Montag mit ihrem Hauptjob einfach weitermachen: die Kanzleigehilfin mit zwei Kindern im Grundschulalter, die Samstag- und Sonntagabend als Garderobiere bei großen Events arbeitet; die  Postausträgerin, die am Wochenende an der Tankstellenkasse steht; der Hausmeister, der jeden Samstag bis in die Nacht Pakete ausliefert.

Es muss hier nicht eigens erläutert werden, dass regelmäßige Wochenendarbeit sowohl die eigene Gesundheit und Psyche als auch das Leben in privaten und gesellschaftlichen Beziehungen auf Dauer zerstört. Der ein wenig in die Jahre gekommene Begriff „Sonntagsschutz“ erhält mit Blick auf diese Menschen eine neue, sehr aktuelle zweite Bedeutung. „Sonntagsschutz“ kann auch meinen, dass wir am Sonntag jene Menschen schützen, ja schützen müssen, die für unsere Bequemlichkeit ihr eigenes Wochenende knicken. Menschen, denen genauso wie uns ein Leben zusteht, das nicht nur aus Arbeit besteht. Diese Frauen und Männer müssen sich im wahrsten Sinn des Wortes genauso wie wir das freie Wochenende samt Sonntag endlich leisten können. Dazu braucht es eine faire Bezahlung gerade in minderqualifizierten Jobs und gezielte Hilfen wie z.B. die bedingungslose Kindergrundsicherung. Zu hinterfragen sind aber auch einige unserer Konsumgewohnheiten. Dann können wirklich alle Menschen in unserem Land sagen, „Endlich Sonntag!“

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Diesen Nachklang gibt es auch als Podcast zu hören

Die Bibel, kein Buch für Ökonomen?

Richtig, Zara Leander fragt in ihrem vielleicht berühmtesten Liedtitel nicht nach Konsum, sondern nach Liebe und die bietet nach kirchlicher Auffassung bekanntermaßen eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Sünde. Anders der Konsum. Von sündigenden Konsumenten ist im Katechismus nur spärlich die Rede. Daher bieten gerade die ersten Seiten der Bibel eine unerschöpfliche Lektüre für Moraltheologinnen und Moraltheologen, nicht aber für Ökonomen. Was soll denn schon dabei herauskommen, wenn diese die Heilige Schrift von vorne zu lesen beginnen? Nicht viel, möchte man vermuten. Schließlich bietet die sich dort entfaltende Erzählung von der Schöpfung der Welt, der Erschaffung des Menschen, vom Paradies und dem Einzug des Bösen in unser Leben genau das Gegenteil von den präzisen Zahlen, die für Wirtschaftswissenschaftlerinnen und ihre Kollegen so essenziell wichtig sind. Ganz anders verhält es sich beim Chefvolkswirt der tschechischen Handelsbank Tomás Sedlácek. Seine 2009 erstmals erschienene „Ökonomie von Gut und Böse“(1)beschäftigt sich auch unter Berufung auf das Buch Genesis (und weitere religiöse sowie kulturgeschichtliche Quellen vom Gilgamesch-Epos bis zur modernen Pop-Kultur) ausführlich mit wirtschaftsethisch hochrelevanten Fragen: Zahlt es sich aus, Gutes zu tun? Ist Eigennützigkeit angeboren? Ist Eigennützigkeit von Bedeutung für das Gemeinwohl? Bis hin zu einem Nachdenken darüber, ob der Mensch im Kern gut oder böse ist.

Was ist Sünde?

Natürlich scheint der Hinweis auf diesen internationalen Bestseller deplatziert, schaut man auf die an diesem ersten Fastensonntag mit den Lesungen klar vermittelte Botschaft. Insbesondere die Erzählung vom „Sündenfall“ und das Evangelium von den Versuchungen Jesu nach seinem vierzigtägigen Fasten in der Wüste rücken die Verführbarkeit des Menschen zur Sünde in den Fokus der Aufmerksamkeit. Aber: Mit dem Begriff der „Sünde“ ist der Fehlinterpretation des vorgetragenen Abschnittes aus dem zweiten und dritten Kapitel des Buches Genesis in einer mehr als zweitausendjährigen Wirkungsgeschichte Tor und Tür geöffnet. Von „Sünde“ ist nämlich erst im Zusammenhang mit dem Brudermord im nächsten Kapitel die Rede: Zwischenmenschliche Gewalt ist die eigentliche, die „Wurzelsünde“. Erzählt wird an diesem Sonntag hingegen von der ersten Konsequenz, die sich für den Menschen aus der Erkenntnis von Gut und Böse ergibt, der Erkenntnis der eigenen Nacktheit. Sie gehört sozusagen zum Preis, den er für die nun gewonnene Möglichkeit, ethisch zu handeln, zu bezahlen hat(2). Mich regt die „Ökonomie von Gut und Böse“ bei meiner Auseinandersetzung mit den ersten Seiten der Bibel dazu an, über die Ethik meines Handelns als Konsument nachzudenken. Aufgrund der Erkenntnis von Gut und Böse sollte ich bedenken, dass jede meiner Kaufentscheidungen immer eine moralische Relevanz hat. Sedlacek stellt in diesem Zusammenhang z.B. die Frage nach dem klar gewollten Überkonsum: Es „wird mehrfach erwähnt, dass Adam und Eva 'die Frucht konsumierten'. Wir Ökonomen nennen das 'Überkonsum': Sie haben die Frucht nicht konsumiert, weil sie hungrig waren, sondern Lust darauf hatten. Und dasselbe gilt für den ersten materiellen Besitz in der Menschheitsgeschichte: Das ist das Tuch, mit dem Adam und Eva dann ihre Nacktheit verbargen. Sie taten dies wieder nicht aus Notwendigkeit, weil sie froren, sondern aus Scham. Der äußere Besitz ist ein Zeichen für ein inneres Ungleichgewicht."

Konsumieren und produzieren müssen?

Ein zweiter Aspekt. Unsere Konsumgesellschaft, so der Autor, könne man als den Versuch deuten, sich als Ersatz für die verlorene Harmonie des Paradieses einen säkularen "Himmel auf Erden" zu erschaffen. Als Beleg zitiert Sedlacek eine Stimme aus dem Psychothriller „Fight Club“ (USA 1999, Regie David Fincher) und interpretiert diese anschließend in Verbindung mit den Konsequenzen des „Sündenfalls“: "Wir gehen zur Arbeit, die wir hassen, um uns Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen. Ich füge noch hinzu: mit Geld, das wir nicht haben.“ Der Autor hält dies für die gelungenste Umschreibung des Fluches, mit dem Adam und Eva von Gott bestraft wurden:„Ihr müsst produzieren, um zu konsumieren - und konsumieren, um zu produzieren. Da euch das, was ich euch im Garten Eden gegeben habe, nicht genug war, soll euch nichts mehr genug sein. Der Fluch auf Eva ist - wieder in der Sprache der Ökonomie - der Fluch der Nachfrage: Sei niemals zufrieden mit dem, was du hast. Und der Fluch Adams ist der des Angebots: 'Arbeitet im Schweiß eures Angesichts, aber ihr werdet die immer neuen Wünsche nie stillen."

Konsum ohne Folgen?

Die Fastenzeit soll uns unter anderem helfen, unsere Verstrickungen in schuldhafte Kontexte und unseren Anteil an deren Zustandekommen bzw. deren Fortbestand einzusehen und uns aus ihnen nach Möglichkeit zu lösen. Der biblische Begriff für Umkehr lässt sich am besten mit „neu hinschauen“ übersetzen. In diesem Sinn muss ich erkennen, dass mein Konsum immer in einem Beziehungsgeflecht steht. Viele meiner wirtschaftlichen Entscheidungen wirken sich ausnahmslos in einem Netzwerk aus Kriegen um Rohstoffe und Absatzmärkte, Ausbeutung um des Maximalprofits willen und einer dauerhaften Schädigung der Umwelt aus. Sedlacek bietet einige frische Anregungen, um den eigenen Blick im Sinne konsumethischer Verantwortung zu schärfen und die schädlichen Konsequenzen des persönlichen Handelns zu reduzieren bzw. zu mildern. Neu erkennen eben.  Denn eines ist das persönliche Konsumverhalten mit Sicherheit nicht: jenseits von Gut und Böse. Und, ja: Konsum kann Sünde sein.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Die grundlegende Anregung verdankt dieser „Nachklang“ dem Beitrag von Rebecca Hillauer, Der Gott der Produktivität, am 13.2.2012 im DLF (https://www.deutschlandfunk.de/der-gott-der-produktivitaet-100.html)

(1) Tomás Sedlácek, Die Ökonomie von Gut und Böse (aus dem Englischen von Ingrid Proß-Gill), München 2012.

(2) Vgl. Ilse Müllner, Jenseits von Adam und Eva. Geschlechterdifferenz und Sündenfall in Genesis 1-3, in: Thomas Hieke/Konrad Huber (Hrsg.), Bibel falsch verstanden. Hartnäckige Fehldeutungen biblischer Texte erklärt, Stuttgart ²2020, 36ff.

Alles legal und trotzdem nicht ok? Dominik Enste, Leiter des Kompetenzfelds „Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik“ am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln erkennt einen deutlichen Wettbewerbsvorteil für Unternehmen, die nicht nur im Rahmen der bestehenden Gesetze Gewinne erwirtschaften, sondern auch durch moralisches Handeln punkten können (1). Immer mehr Kundinnen und Mitarbeiter legen als Maßstab für ihre Entscheidungen ethisch korrektes Verhalten an und suchen sich ihren Dienstleister oder Arbeitgeber unter diesem Gesichtspunkt aus. Gleiches gilt für ethisch orientierte Geldanlagen, für die zur absolut besten Sendezeit geworben wird. Für mich ist das neu. Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, in denen ein „kreativer Umgang“ mit rechtlichen Vorgaben als legaler Bestandteil einer Geschäftsstrategie galt, die nur Gewinn und Expansion kannte.

„Rein rechtlich ist alles in Ordnung, aber …“ Konzerne können sich dennoch weiterhin extrem unethisch verhalten. Auf die Gesinnung kommt es an! Am Ende ist es egal, ob ein Konzern mit der sprichwörtlichen weißen Weste dasteht oder nicht, wenn seine Handlungsmaxime einem Extremegoismus huldigt, der versucht, möglichst viel für sich herauszuholen. „Rein rechtlich“ kann alles in Ordnung sein, wenn Unternehmen weiterhin versuchen, Gewinne zu machen ohne Rücksicht auf den Schaden und das Leid, das andere dadurch erfahren. Große Firmen können Rekordgewinne erzielen und gleichzeitig Massenentlassungen ankündigen, die Belegschaften ihrer Standorte gegeneinander aufhetzen und durch knallharte Kontrollsysteme am Arbeitsplatz Furcht und Schrecken verbreiten. Alles legal!

„Nur legal“ im Sinne einer bloßen Beachtung von Gesetzen reicht auch Jesus nicht: ihm geht es in der Bergpredigt um die größere Gerechtigkeit. Seiner Forderung wir mehr oder weniger bewusst Folge geleistet, wenn Unternehmen selbstbewusst in aller Öffentlichkeit gut nachvollziehbar darstellen, wie sie ihre Gewinne erzielen. Denn selbst bei einem rechtskonformen Verhalten gibt es nach wie vor genügend Grauzonen und Spielräume, die nicht geregelt sind. Der hier stattfindende Prinzipienwandel beeindruckt mich. Genauso wie im unmittelbaren Zusammenleben dürfte auch im wirtschaftlichen Wettbewerb die bittere Erkenntnis vorherrschen, dass derjenige der Dumme ist, der sich an die Regeln hält. Es stimmt mich zuversichtlich, dass Unternehmen mit moralischem Verhalten punkten können, wenn sie ihre Gewinne nicht nur zur Befriedigung ihrer Anteileigner nutzen, sondern z.B. für soziale Anliegen und Innovationen reinvestieren. Gemeint sind damit Projekte, die das Leben von Menschen einfacher, sinnvoller und reicher machen. Sie sind für die Unternehmen selbst lohnend allein schon durch den positiven Geist, der dadurch entsteht (2).

„Nur legal“ ist hoffentlich bald passé!

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschland

(1) Dominik Enste am 31.5.2022 im Interview mit der Deutschen Handwerkszeitung: www.deutsche-handwerks-zeitung.de/wenn-unternehmen-legal-aber-unmoralisch-handeln-241319/

(2) Mehr dazu in: Friedrich Assländer/Anselm Grün, Spirituell arbeiten (Münsterschwarzach 2010), 93ff.

 

Die Überschrift für diesen „Nachklang“ klingt nicht gerade wie ein Satz aus den Lesungen zu diesem fünften Sonntag im Jahreskreis, sondern nach Lyrik um der Lyrik willen. Dem Sinn nach stammt der erste Teil des Titels aber nicht aus einem Gedichtband, sondern aus der Feder des litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas (1906-1995). Levinas spricht in vielen seiner Werke vom „Ich“ nur als „Mich“. Er begründet dies damit, dass Andere sich ohne Unterlass an mein „Ich“, also an mich wenden. Sie beziehen sich auf mich, rufen mich an, brauchen mich. Zugespitzt verstehe ich diesen Gedanken so, dass es den Menschen zuerst und in Vollendung nur als angesprochenes „Ich“ also als „Mich“ geben kann. Anders gesagt: von wirklichem Menschsein kann erst dann die Rede sein, wenn es sich den Belangen der Menschen, die uns begegnen, möglichst ohne Vorbehalt öffnet.

In den Worten eines unter dem Namen seines großen Vorgängers Jesaja überlieferten anonymen Propheten hört sich das im 5. Jahrhundert vor Christus so an: „Brich den Hungrigen dein Brot, nimm obdachlose Arme ins Haus auf, wenn du einen Nackten siehst, bekleide ihn und entziehe dich nicht deiner Verwandtschaft“ (Jes 58,7). Verwandtschaft meint hier mehr als familiäre Verbundenheit. Es geht im weitesten Sinn des Wortes um den Mitmenschen, der mich jetzt braucht. Es geht um soziale Verantwortung, insbesondere dem abgeschlagenen, und scheinbar ungehörten Anderen gegenüber. Es geht somit um Gott, denn Gott geht es immer um Beziehung. Deshalb hat er uns als „Wir“ erschaffen.

Die Zeit, in die der Prophet seine Mahnung hineinruft, sind die Jahrzehnte nach der noch nicht überwundenen Katastrophe des babylonischen Exils. Wahrscheinlich steht er auf den Trümmern des halbzerstört daliegenden Jerusalem. Es finden sich bei ihm viele Hinweise darauf, dass es damals ein paar Superreiche, ansonsten aber fast nur Bettelarme gibt. Allenthalben herrscht die Angst ums wirtschaftliche, ja vielfach ums nackte Überleben. Der Prophet prangert an, dass das Leben der Begüterten auf dem Rücken der unter dem Existenzminimum dahinsiechenden Masse stattfindet. Sie, die wirtschaftlich Erfolgreichen, sind aber felsenfest davon überzeugt, gerecht zu handeln, weil sie sich an die religiösen Vorschriften halten und regelmäßig den Tempel aufsuchen (vgl. Jes 58,3). Es handelt sich um scheinheilige Sprüche, denn selbst an Feier- und Fasttagen kümmert sich jeder und jede von ihnen vorrangig um sein Business ganz nach dem Motto: „Gerecht ist, was mir zugutekommt“. Nach dem Verständnis des Propheten (und der ganzen Heiligen Schrift) gibt es aber Gerechtigkeit nur in der „Wir“-Form.

Gerechtigkeit in der „Wir-Form“: auch heute würde der Prophet eindringlich darauf hinweisen, dass wir als Mitmenschen miteinander verwandt und untereinander unauflöslich vernetzt sind. Gerade in einer globalisierten Welt besteht eine starke Verantwortung gegenüber jenen unserer „Verwandten“, auf deren Kosten wir leben. Das sogenannte Lieferkettengesetz führt uns endlich vor Augen, dass diese Verantwortung bis in die Hinterhöfe und „Textilfabriken“ von Bangladesch, Indien oder Myanmar reicht. Wir sind mit den dort für unseren Wohlstand arbeitenden und leidenden Menschen auf unterschiedlichste Art miteinander verbunden, ja auf kompliziertesten Wegen mit ihnen und vielen anderen regelrecht verschlungen: mit der Baumwollpflückerin in Indien, dem Arbeiter in der vietnamesischen Baumwollkämmerei, mit der türkischen Textilfärberin, den Billiglohnkräften in der polnischen Weberei und mit der bulgarischen Näherin; nicht zu vergessen der litauische Fernfahrer.

Wir sind wie die Glieder der Lieferkette untereinander als Verwandte und mit Gott verbunden. Seine Gerechtigkeit bekommt dann Hand und Fuß, wenn wir endlich begreifen: „Das Ich gibt’s nur als Mich“.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Hören Sie auch den Podcast dazu

 

Wer behauptet denn so etwas? Würde eine Partei oder ein Verband mit diesem Slogan werben, läge der Verdacht auf systematische Unmenschlichkeit oder zumindest schlechten politischen Klamauk nahe. Auch die Richtigstellung, dass es hierbei um den „Hunger nach Gerechtigkeit“ geht, macht die Sache kaum besser. Denn wer bewusst und programmatisch den Hunger nach Gerechtigkeit nährt, der setzt offensichtlich auf soziale Unzufriedenheit und Besitzneid. Auch in unserem Land mit funktionierender Grundversorgung und sozialen Standards ändert dies aber nichts daran, dass es diesen Hunger braucht, um die wirklich Hungernden in den Blick zu bekommen und sie ernst zu nehmen.

Jesus preist jene selig, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten (vgl. Mt 5,6). Über den politischen Gehalt dieser Seligpreisung wurde und wird leidenschaftlich gestritten. Natürlich ist hier von der Gerechtigkeit Gottes die Rede, die größer ist als alle irdischen Gerechtigkeitsvorstellungen. Dennoch kann in einer Gesellschaft nur dort im vollen und biblischen Sinn des Wortes von Gerechtigkeit die Rede sein, wo sie die Armen, Schutzbedürftigen und Schwächeren in den Mittelpunkt ihrer Sorge stellt. Wo sie sich um gutes Leben für alle bemüht. Daher sind auch jene „selig“, die selber bewusst für die von Jesus Angesprochenen nach Gerechtigkeit hungern. Dazu gehört auch, aktiv dafür Sorge zu tragen tragen, dass es diesen Hunger in einer satten Wohlstandsgesellschaft überhaupt gibt.

Hunger nach Gerechtigkeit beginnt mit der realistischen Einschätzung menschlichen Strebens nach Macht und Reichtum. Alljährlich belegt z.B. der sogenannte Oxfam-Bericht zur sozialen Ungerechtigkeit in welchem Ausmaß mittlerweile auch in unserem Land eine Handvoll größtenteils anonym bleibender Superreicher gigantische Vermögenszuwächse einstreicht, während Millionen von Menschen nicht wissen, wie sie Lebensmittel und Energie bezahlen solle. Die katholische Sozialethik formuliert den Hunger nach Gerechtigkeit so: Privatbesitz und Vermögen sind solange gerechtfertigt, als sie der Allgemeinheit dienen und auch für andere „Gutes tun“. Über den Hunger nach Gerechtigkeit sprechen und für diesen Hunger sorgen heißt deshalb auch, über die regelmäßige Wiederherstellung der Chancengleichheit für alle laut nachzudenken.

Konkret bedeutet das, dass Christinnen und Christen (vor allem aber ein Sozialverband wie die Katholische Arbeitnehmerbewegung) sich immer wieder neu für den Hunger nach einer humanen Gesellschaft einsetzen, die jedem ihrer Glieder bedingungslos das Nötige für ein freies, selbstbestimmtes und sozial zugewandtes Leben zur Verfügung stellt. Christinnen und Christen lassen sich daher in Zeiten immenser Erbschaften sowie unglaublicher Finanz- und Spekulationsgewinne in ihrem Hunger nach Gerechtigkeit nicht mit Sätzen abspeisen wie „Harte Arbeit generiert wachsenden Wohlstand“. Und wer für den Hunger nach Gerechtigkeit sorgt, rückt zudem die in den Blick, die durch Care- und Erziehungsarbeit Unschätzbares für unsere Gesellschaft leisten, aber in jeglicher Hinsicht leerausgehen.

Auch Christinnen und Christen ist klar, dass die Vorstellung von einer einzigen und objektiv feststellbaren Gerechtigkeit gefährlich naiv ist. Es ist letztlich Gott, der gerecht macht. Das ändert nichts am Hunger nach einer Gerechtigkeit, die immer wieder hergestellt, ausbalanciert und vorangebracht werden muss: durch eine gesunde Unerbittlichkeit in der Benennung sozialer Ungerechtigkeiten, durch harte Verhandlungen, durch den Kampf für bessere Lohn- und Sozialsysteme, im Ringen um gutes Leben und wertvolle Arbeit für alle.

„Wir sorgen für Hunger und hungern selbst nach Gerechtigkeit“. Dieser Grund-Satz gilt für alle, die in Bergpredigt mehr sehen als einen „erbaulichen“ Text.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

„Weil das Menschsein sich zu leicht vergisst“(1). Mit diesem Fazit schließt das 1961 von Günter Kunert verfasste Lehrgedicht „Wie ich ein Fisch wurde“(2). Kunert wusste wovon er sprach und schrieb. 1929 in Berlin geboren, hatte er als Kind einer jüdischen Mutter unter den Rassengesetzen des Dritten Reiches zu leiden. Bereits 1949 wurde er Mitglied der SED und gehörte schnell zu den bekanntesten und produktivsten Autoren der Nachkriegszeit. Seit den frühen 1960er Jahren eckte Kunert wegen lauter werdender staatskritischer Töne in seinen Texten politisch immer häufiger an. Seine kurze Mitgliedschaft in der Akademie der Künste endet mit dem Hinauswurf. Nach seinem Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann erfolgte 1977 der Ausschluss aus der Partei. 1979 übersiedelte Kunert in den Westen und war bis zu seinem Tod 2019 als freier Schriftsteller tätig. Stets ging es ihm in seiner lakonisch pessimistischen Grundhaltung darum, Facetten der ihn fordernden Wirklichkeit sehr genau zu erfassen und weiterzudenken. Sein Credo lautete: „Ein Hellseher, der nicht schwarzsieht, verdient seine Berufsbezeichnung nicht“.(3)

Anpassung an die Katastrophe

Ich möchte anlässlich des diesjährigen Gedenktags für den seligen Nikolaus Groß und der neunzigsten Wiederkehr der sogenannten „Machtergreifung“ durch Hitler an einen der prägnantesten Texte Kunerts erinnern. Dieser scheint mir einen poetischen Verständniszugang zum Leben und Wirken des KAB-Märtyrers und seiner Frau Elisabeth anzubieten. Der Dichter schildert hier die Katastrophe einer alles Leben an Land vernichtenden Flut. Dieses Szenarium steht als Bild für eine übermächtige, von allen und allem besitzergreifende politische Umwälzung. An diese muss sich der Ich-Erzähler bzw. die Ich-Erzählerin um des eigenen Überlebens willen anpassen: Menschen werden zu Fischen.

Meine Arme dehnten sich zu breiten Flossen,
Grüne Schuppen wuchsen auf mir ohne Hast;
Als das Wasser mir auch noch den Mund verschlossen,
War dem neuen Element ich angepasst.

Bei näherem Hinhören aber erweist sich der offenbar unabdingbare Anpassungsvorgang als dauerhafter Verlust des Menschseins. Konsequente opportunistische Anverwandlung an die Übermacht allgegenwärtiger und von allen Seiten andrängender Gewalten führt letztlich zum unumkehrbaren Wegfall der Menschlichkeit. Die Fähigkeit zur Veränderung, die zunächst positiv erscheint und Rettung verspricht, erweist sich in der Konsequenz als Selbstaufgabe durch Entmenschlichung. Den Veränderungen in Aussehen und Bewegung folgt die Vollendung der Anpassung durch das dauerhafte Verstummen. Immerhin kann er/sie sich nun als Fisch träge gleiten lassen und wird eins mit der Flut, gegen die man/frau sich als Mensch zuvor chancenlos gestemmt hat. Es bleibt jedoch die quälende Frage offen, ob nicht der Preis für das bloße Über- und Weiterleben zu hoch ist.

Die „braune Flut“

Oft wird die NS-Ideologie mit einer braunen Flut verglichen, die die Massen mitgerissen hat und bis in die feinsten Verästelungen des Privatlebens vorgedrungen ist. Eine überwiegende Mehrheit begrüßte diese Flut als vermeintlich rettendes Nass nach jahrelanger politischer und wirtschaftlicher Dürre.(4) Für Nikolaus Groß (und für seine von der entsprechenden Antwort betroffene Familie) wurde angesichts des sofort einsetzenden nationalsozialistischen Terrors die soeben genannte Gewissenfrage zur Entscheidung über Sein oder Nichtsein: War er bereit, den Preis weitestgehender Anpassung für ein bloßes Überleben zu zahlen? Groß antwortet mit einem klaren Nein und mutet diese finale Stellungnahme seiner Familie zu. Er konnte und wollte Menschsein und Menschlichkeit nicht aufgeben. Leben bedeutete für ihn menschenwürdiges Leben. Für ihn ging es zu jedem Zeitpunkt darum, seine Würde gegen die braunen Mächte der Unmenschlichkeit zu bewahren, und so zum Zeugen menschlicher Würde und Freiheit überhaupt zu werden. Wie kaum ein zweiter katholischer Gewerkschafter und Journalist seiner Zeit prangert er bereits in jungen Jahren die Zerstörung der Würde und Freiheit der Arbeiter und Arbeiterinnen samt ihren Familien an. Millionen von Menschen verwehrte das kapitalistische System der frühen Weimarer Republik einen adäquaten Zugang zu einer menschenwürdigen Grundversorgung. Von gleichen Chancen in der Bildung und Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft ganz zu schweigen. Groß ging es darum, Menschen in diesen bildungsfernen Schichten seiner Zeit in ihrer Humanität und Mündigkeit für den Kampf gegen die frühen Vorboten totalitärer Menschenverachtung und Gewaltverherrlichung auf Dauer zu stärken. Bildung war für ihn in diesem Sinne Herzensbildung der Masse der als Underdogs Abgestempelten. Nur so konnten diese Menschen gegen rassistische auf der einen und klassenkämpferische Einflüsterungen auf der anderen Seite immunisiert werden. Für seine eigene Person erkannte Groß jedoch in letzter Konsequenz, dass bloße Resistenz, ja nicht einmal mutiger Protest im Dunkel der sich zuspitzenden Katastrophe ausreichend sein konnten. Folgerichtig schloss er sich daher dem aktiven Widerstand an und bezahlte dafür mit seinem Leben.

Vom Fisch zurück zum Menschen

Auch heute haben wir es mit den Vorboten von pandemisch sich ausbreitender Inhumanität und Menschenverachtung zu tun. Längst ist der sprichwörtliche „Gang über Leichen“ ein wesentlicher Bestandteil von privaten Lebensentwürfen, nationalen und internationalen Politikkonzepten sowie eines auf Ertragsmaximierung getrimmten Wirtschaftssystems. Es wäre aber zu klischeehaft, lediglich auf das persönliche Zeugnis und die mutige Positionierung der einzelnen und des einzelnen abzuheben. Die erste und vielleicht schon entscheidende Frage lautet vielmehr, in welchem Maß ich persönlich bereits in der medialen Dauerüberflutung mit ihrer permanenten Inszenierung von realen und gefakten Katastrophen abgestumpft und in diesem Sinn entmenschlicht bin. Wie sieht meine Anpassung im dahinrauschenden Strom der Mitteilungen aus? Bilden sich bei mir langsam im Sinne des zitierten Lehrgedichts erste „grüne Schuppen“? Erreichen mich noch die Botschaften, die den sozialen und ökologischen Preis meines Lebensstils beziffern? Oder die Warnungen vor mehr und mehr akzeptierten regelmäßigen Einsatz von Gewalt als legitimes Alltagsmittel zur Durchsetzung vermeintlich „hehrer“ Ziele? Oder die Alarmsignale einer durch schamlose Bereicherung zerreißenden Gesellschaft? Nikolaus Groß hat mit feinem Gespür die in seiner Zeit um sich greifende Entmenschlichung erkannt. Sein Lebenszeugnis ist für mich der entscheidende Beleg dafür, dass der Weg zurück in humane Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt zu weit und zu schwer ist. Auch wenn der erste Schritt für die „Fische“ fast nicht mehr möglich scheint.

Denn aufs Neue wieder Mensch zu werden,
Wenn man’s lange Zeit nicht mehr gewesen ist,
Das ist schwer für unsereins auf Erden,
Weil das Menschsein sich zu leicht vergisst.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Textzitate nach Güner Kunert, So und nicht anders. Ausgewählte neue Gedichte, Carl Hanser Verlag 2002, 21f.

(2) Die nachfolgenden Überlegungen greifen vom Ausgangspunkt her eine Idee des Essener Weihbischofs Wilhelm Zimmermann aus dem Jahr 2018 auf: www.bistum-essen.de/fileadmin/relaunch/Bilder/Bistum/Bischof/Zimmermann/Sel.Nikolaus_Gross__Dom_-_23.01.2018.pdf

(3) Vom Zwang, genau hinzusehen. Zum Tod von Günter Kunert: SZ vom 23.9.2019 - https://www.sueddeutsche.de/kultur/nachruf-guenter-kunert-schriftsteller-ddr-1.4612497

(4) Kunert hat sich meines Wissens nicht zur politischen Interpretation seines Lehrgedichts geäußert. Zu möglichen Deutungen vgl. Jutta Southwell, Günter Kunert, The artistic development of a writer of the German Democratic Republic (1978): https://core.ac.uk/download/pdf/37777142.pdf

Dieser Nachklang ist auch als Podcast erschienen

 Ein Nachklang zum 2. Sonntag

Zugegeben, das Wort „Komplexitätsverweigerung“ klingt ein wenig wie die modischen Plastikwörter in Politik und Wirtschaft, die die Konkretisierung scheuen wie der Vampir das Tageslicht. Das mit diesem Wortungetüm Gemeinte nimmt im Bild des ausgestreckten Zeigefingers schärfere Konturen an: auf dessen Fingernagel passen nämlich die dürftigen Argumente der Komplexitätsverweigernden.

Beispiel gefällig? Diese Zeilen entstehen am 12. Januar 2023 und damit an Tag 12 der Debatte um die Silvesterkrawalle 2022/2023. Noch immer deuten ungezählte Zeigefinger irrlichternd auf „die Schuldigen“.  Allein für die letzten 24 Stunden listet die Suchmaschine zehn weitere Stellungnahmen auf. Kommentiert werden Kommentare, die wiederum Kommentare zu Kommentaren sind. Rassismusvorwürfe, populistische Ansagen (Stichwort „Kleine Paschas“) und eine pausenlos befeuerte Empörungsmaschinerie halten den gut eingeübten Sündenbock-Mechanismus in Schwung. Es geht um die Zuschreibung von Schuld und Gesamtverantwortung sowie die kollektive Selbstvergewisserung der eigenen „Unschuld“. Beim alttestamentlichen Sündenbockritual war dem Volk und Hohepriester wenigstens jederzeit klar, dass es um ihre aller Verfehlungen und moralischen Fehlleistungen ging. Ein öffentliches Kollektivbekenntnis. Bei uns aber liegt der Focus wieder einmal auf einer gut definierbaren Gruppe und dem in dickem Farbauftrag skizzierten Vielfachversagen von Eltern, Familien und Milieus der gewalttätigen Jugendlichen. Gemeint sind natürlich auch immer jene, die sozusagen schuld an der Schuld sind: Politikerinnen, Pädagogen, linke Ideologen, Stadtplanerinnen usw. Dumm nur, dass damit kein einziges Problem gelöst ist, zumal es soziale Brennpunkte, vernachlässigte Bevölkerungsschichten, kaputt gesparte Schulen und Underdogs schon lange vor der Neujahrsnacht gegeben hat. Sozialer Abstieg, ungerecht verteilter Wohlstand, gesellschaftliche Ohnmachtserfahrung und Kriminalität sind unabhängig von Hautfarbe und Herkunft ein Dauerthema. Und bei genauerem Hinschauen erweisen sich Sündenböcke als Menschen.

„Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29). Auch im Sonntagsevangelium geht es um einen ausgestreckten Zeigefinger und einen ganz besonderen Sündenbock: die Deutegeste Johannes des Täufers und seinen Verweis auf Jesus. Hier drohte und droht zumindest die sehr spezielle Komplexitätsreduktion einer einseitig auf den Gedanken des Sühneopfers fixierten Kreuzestheologie: Jesus nimmt als Lamm den Zorn Gottes über die Sünden der Menschen auf sich und „alles ist gut“. Alles gut? Überhaupt nicht! Denn gemeint ist mit dem „Lamm Gottes“ eben nicht nur das kultische Opfertier schlechthin (sacrificium, sacrifice), sondern auch der exemplarisch zum Gewaltopfer (victima, victim) gewordene Gottessohn. Damit aber steht er auch für die Sündenböcke unserer Zeit, für Menschen, die geopfert werden, weil es im Sinne gesellschaftlicher und politischer Komplexitätsverweigerung „Schuldige“ geben muss. Hinter dem „Lamm Gottes“ versammeln sich somit jene, die auf der Schattensete von individueller Selbstbestimmung, Liberalismus und Fortschritt die Rechnung für vertagte Entscheidungen, verschobene Verantwortung und nicht gemachte Hausgaben in den wachsenden Krisenszenarien unserer Gegenwart bezahlen.

Johannes zeigt auf den großen Sündenbock und indirekt die vielen kleinen Sündenböcke in seinem Gefolge. Er fordert uns auf, die auf ihn und alle anderen projizierten heillosen Zustände, Elend und Menschenverachtung sowie alle anderen frech ausgeblendeten Seiten der dunklen Wirklichkeit unserer Welt zu erkennen und dann der Sündenbockstrategie ein Ende zu setzen: „Seht das Lamm Gottes und anerkennt eure Verantwortung füreinander und eurer permanentes Schuldigwerden aneinander! Bekennt endlich, dass eure Kapital-Religion (Walter Benjamin), euer notorisch unterfinanziertes Bildungssystem und euer vernachlässigter Sozial- und Pflegebereich nur auf Kosten von Opfern und Geopferten funktioniert!“

Es ist mühsam und sehr schnell überkomplex, der individuellen Verstrickung in die großen Schuldstrukturen unserer Gegenwart nachzuspüren und in den eigenen Netzwerken und darüber hinaus für einen ebenso ehrlichen wie korrekturbereiten Umgang mit den Ursachen und Wirkungen zu werben. Aber der hoffentlich bald eintretenden Ausrottung der Tierart „Sündenbock“ dient es in jedem Fall.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

 

Vorsicht mit einem Zuviel an Empathie und Mitgefühl! Zumindest scheint dies für das Arbeitsklima zu gelten. Vor einigen Jahren erläuterte die „WirtschaftsWoche“ die zehn Nachteile des Mitgefühls und führte u.a. aus: Empathie laugt aus, weil es kräftezehrend ist, sich permanent in die Gefühlszustände anderer Menschen hineinzuversetzen. Sie führe des Weiteren zu Einsamkeit, da für das Privatleben am Abend keine Gefühle mehr übrigblieben. Ein Zuviel an Empathie bei Führungskräften erzeuge aber auch das Gefühl von Ungleichbehandlung ihrer Untergebenen. Außerdem: Wenn Frauen in der Chefetage zu viel Verständnis für die Probleme anderer hätten, würde das ihren Aufstiegschancen schaden (zumal, so der Artikel, Frauen von vornherein als besonders empathisch gelten). Richtig schwierig wird es, wenn Empathie für irrationale Entscheidungen verantwortlich gemacht und als eine der Hauptfaktoren von Diskriminierung und Korruption benannt wird. Sicherlich, der genannte Artikel argumentiert differenzierter und lässt sich zudem als eine Reaktion auf einen bereits seit mehr als ein Jahrzehnt beobachtbaren Hype interpretieren, der Empathie zum Softskill schlechthin für Führungskräfte erhebt.

Der Evangelist Matthäus lässt in der Szene der Taufe Jesu am Jordan die grundmenschliche Sehnsucht nach Verständnis und Liebe anklingen: „das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17): Dieses „Verstanden- und Geliebt-Sein“ muss ich als Mensch immer wieder hören und immer wieder von neuem erfahren. Deshalb verstärkt und bestätigt das Fest der Taufe des Herrn noch einmal die faszinierende Botschaft von Weihnachten: Gottes grenzenlose Empathie für jeden einzelnen Menschen. Ein Zuviel davon ist bei Gott unmöglich!

Für uns Menschen ist leider ein fein justierbares Zuwenig jederzeit machbar. Schwierig wird es, wenn (siehe oben) Empathie lediglich als strategisch einsetzbare Qualifikation zur Beeinflussung anderer Menschen oder als wesentlicher Faktor etwa von wirtschaftlichem Erfolg betrachtet wird. Noch schwieriger, weil letztlich krank und unmenschlich, ist es, wenn im betriebswirtschaftlichen Kontext bewusst, ja böswillig jegliche Form von Mitgefühl ausgeschaltet wird. Hierzu schreibt der vor allem durch seine Forschungsergebnisse zum Narzissmus bekannt gewordene Psychiater und Psychotherapeut Pablo Hagemeyer: Der Empathiemangel als Form der Macht „formt aus Menschen Zahlen. Sie nimmt den Menschen ihre Namen und damit ihre Menschlichkeit. Zahlen lassen sich leicht hin und her schieben. Nicht die Person zählt, sondern die Zahl, die diese Person produziert.“ Als Illustration schildert er eine besonders krasse Form der in manchen Chefetagen praktizierten Empathielosigkeit: „Junge engagierte Mitarbeiter werden gezielt ‚sauer gefahren‘ und nach ein paar Jahren wieder entlassen. Zusätzliche, aufwendige Arbeit wird als „Bonus-Option“ angeboten. Das Unternehmen plant lange vor Beginn des Beschäftigungsverhältnisses, die Person für nur fünf Jahre zu beschäftigen, wissend, dass danach die Person ‚verbraucht‘ ist. Die Leistung des Arbeitnehmers wird also bewusst ausgereizt. Jede Kommunikation mit Vorstand oder Führungskraft wird unterbunden, um keine persönlichen Beziehungen aufkommen zu lassen." (1)

Jesus stellt sich mit den Belasteten und Beladenen seiner Zeit buchstäblich in eine Reihe; er steht mit ihnen Schlange, um sich taufen zu lassen. Heute stünde er bei den Getäuschten, Ausgepressten und Weggeworfenen. Denn er steht bei denen, über denen kein offener Himmel zu sehen ist: er die menschgewordene Empathie Gottes.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

(1) Pablo Hagemeyer, Gestatten, ich bin ein Arschloch, Eden-Books, 83.
 

Archiv

Hier finden Sie die Nachklänge aus dem letzten Jahr
zum Archiv

Gottesdienstvorlage

Gott schaut auf die Niedrigen - Litugische und Homiletische Elemente zum Thema "Prekäre Arbeit".
Download als pdf-Datei

WIR Mischen uns ein
Kirchliches Arbeitsrecht

Arbeitsverhältnisse in der Kirche müssen einen Vorbildcharakter für menschenwürdige Bedingungen in der Arbeitswelt haben. Mindestens auf Grundlage der drei umfassenden Sozialprinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität muss das Arbeitsrecht nicht nur einen hohen Anspruch an sich selbst formulieren, sondern diesen auch lückenlos einlösen. Hierbei sind Menschen mit unterschiedlichsten Aufgaben gefordert, in dienstlicher Gemeinschaft aktiv zu werden. Ein transparenter und ehrlicher Umgang von Mitarbeitenden und Leitungen auf Augenhöhe ist dafür die unabdingbare Voraussetzung.

Ein gesondertes kirchliches Arbeitsrecht wird nur dann seine Berechtigung erhalten, wenn es in der lebendigen Ausgestaltung die Verwirklichung der eigenen hohen Ansprüche beweist. Ein kirchliches Arbeitsrecht muss besser sein und damit Vorbild für die Gestaltung einer menschenwürdigen, fairen und gerechten Arbeitswelt werden.<

Meldungen zum Thema finden Sie hier
 

WIR ERINNERN!
Unsere Vorbilder

Prägende Personen und Figuren des Glaubens sind uns Vorbild, das Besondere, das Nachahmenswerte, das Inspirierende in Ihnen zu suchen und zu finden und so neue, persönliche Glaubenszugänge zu entdecken. In diesem Sinne wirken beispielsweise die Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus wie Nikolaus Groß, Bernhard Letterhaus und Otto Müller, um nur die bekanntesten zu nennen. Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus begann die Zerschlagung der KAB. Die Vereine wurden nach 1933 zum Teil verboten und aufgelöst. Nur im Schutze der gemeindlichen Arbeit und durch eine Beschränkung auf rein religiöse Anliegen war es an einigen Stellen möglich, die Arbeit weiterzuführen.

Mitte der 1930er Jahre fanden im Kettelerhaus in Köln konspirative Treffen statt. Die Mitglieder dieser Treffen standen in Verbindung mit dem Widerstandskreis, der das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 vorbereitete. Im Rahmen der sogenannten Aktion »Gewitter« wurden die meisten Mitglieder des Kreises im August 1944 von der Gestapo verhaftet und zunächst in der Deutzer Messe oder im EL-DE-Haus inhaftiert. Einige von ihnen, wie Nikolaus Groß und Bernhard Letterhaus, wurden nach einer Verurteilung durch den Volksgerichtshof hingerichtet, andere in Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet.

Zahlreiche weitere Mitglieder waren dem nationalsozialistischen Terror ausgesetzt, wurden verhaftet und hingerichtet. Ihr Schicksal ist uns Mahnung, Inspiration und Kraftquelle.

Therese Studer

Therese Studer, die am 22. September vor 160 Jahren in Senden an der Iller geboren wurde, verlor früh ihre Mutter und musste als Achtjährige bereits für den eigenen Lebensunterhalt sorgen. Mit 14 Jahren wird sie Akkordarbeiterin in einer Zündholzfabrik in Altenstadt an der Iller. Zwischenzeitlich arbeitet sie als Dienstbotin, ohne geregelte Arbeitszeit, ohne sozialen Schutz. Als sie mit 22 Jahren in einer Spinnerei arbeitet, erlebt sie, wie die jungen Mädchen und Frauen ausgebeutet werden. Für sich nutzt sie die geregelten Arbeitszeiten, um sich zu bilden. „Mir kam der Gedanke, in einer Fabrik Arbeit zu nehmen, um die Freizeit für meinen Wunsch zu lernen dienstbar zu machen.“ Sie arbeitet 22 Jahre dort und wohnt in einem Arbeiterinnenwohnheim. Ihren Wunsch, Lehrerin zu werden, erreicht sie nicht. Dennoch ist sie stolz, dass sie als Arbeiterin mit zwölf Stunden am Tag im Akkord an der Maschine ihren Lebensunterhalt bestreiten kann.

Soziale Rechte der Arbeiterinnen

Beeinflusst und fasziniert von anderen Frauen, wie die Frauenrechtlerin Elisabeth Gnauck-Kühne, wird sie aktiv und setzt sich für die sozialen Rechte der Arbeiterinnen ein. Als sie im Sommer 1906 zu einer Versammlung in Aschaffenburg einlädt, kommen 159 Arbeiterinnen und erklären ihren Beitritt. Unter ihrer Führung wuchs der Arbeiterinnenverein auf 460 Mitglieder. Zwei Jahr später ist es der Verbandspräses Carl Walterbach, der sie überzeugt, Verbandssekretärin der süddeutschen Arbeiterinnenvereine zu werden. Am 21. Juni 1908 tritt sie ihr Amt an und ist somit die erste Arbeiterinnen-Sekretärin, oder wie sie liebevoll genannt wurde: „unsere Verbandsmutter“.

 

WIR geben Beistand
Betriebseelsorge

Die Betriebsseelsorge ist eine Einrichtung der Katholischen Kirche in Trägerschaft der KAB. Sie ist für alle Arbeitnehmer:innen da.

Wir gehen in Industriebetriebe, Dienstleistungsunternehmen und öffentliche Verwaltungen hinein, um zu wissen, was in der Arbeitswelt los ist und uns für die Belange der Arbeitenden gemeinsam mit ihnen einzusetzen. Dabei arbeiten wir eng mit den gewählten Betriebs- und Personalräten sowie Mitarbeitervertretungen zusammen, unterstützen ihre Arbeit und vernetzen uns mit den Gewerkschaften.

Wir stehen vorrangig an der Seite der abhängig Beschäftigten, besonders der Schwachen und Abgehängten im Wirtschaftsprozess. Unsere Unterstützung ist für alle offen, kostenfrei und vertraulich.