Auf der Grundlage der Soziallehre der Kirche, insbesondere dem Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip, setzt sich die KAB für einen Sozialstaat ein, der Ausgrenzung beseitigt und den sozialen Aufbau und Zusammenhalt unsere Gesellschaft sichert und fördert.
Wort in Bewegung
Er ist so etwas wie die Anziehpuppe in der katholischen Heiligenschar. Weil ihn die Heilige Schrift nur am Rande erwähnt, bietet der Ehemann Marias und der Ziehvater Jesu die bestmögliche Projektionsfläche für zeitgenössische Idealisierungen und Zuschreibungen. Er schweigt dazu. Manche seiner Kleider sind exklusiv wie z.B. die des Nährvaters Jesu und des Bräutigams seiner Mutter. Andere hingegen spiegeln den Wandel der ihm zugedachten Rollen im Lauf der Jahrhunderte wider: zunächst erscheint er in Aufmachung eines meistmüden älteren Mannes, der dann im Mittelalter zum braven Arbeitsmann mutiert. Zu Beginn der Neuzeit sehen die Gläubigen in ihm zunehmend mehr den Typus eines väterlichen Menschen, der für Recht und Ordnung eintritt. Gleichzeitig wird er in den Darstellungen immer jünger. Wenig später beginnt er als Handwerker und Wahrer der entsprechenden Tradition Karriere zu machen. Im 19. Jahrhundert trägt er dann die Kleider des Antirevolutionärs. Als Kirchenpatron schützt er die Kirche im 20. Jahrhundert gegen den Weltkommunismus und wird zum wichtigen Helfer im Kalten Krieg. Für die KAB und das Gesamt der christlichen Arbeiterbewegung steht Josef, der Arbeiter, im Vordergrund.
Mir ist eine Beschreibung des Heiligen Josef aus einer „Werkvolkpredigt“ der späten 1940er Jahre besonders sympathisch: hier wird er als Vorbild jener Menschen charakterisiert, die nicht durch „das leere Wort, hinter dem nichts steht und auf das kein Handeln folgt“, sondern die durch „eine Summe kleiner, kleinster alltäglicher Taten … allmählich eine ganze Welt in Bewegung“ setzen. Statt „vieler Worte eine ganz kleine, stille, schlichte Tat jeden Tag – die Welt wird gewandelt.“(1) Eine der wesentlichen Aufgaben der KAB war und ist es, auf die vermeintlich „kleinen Leute“ im Wirtschafts- und Produktionsalltag in unserem Land und weltweit hinzuweisen. Es gehört zu ihrem Wesenskern, für die Rechte und den Schutz insbesondere von Arbeitenden in den unteren Tarifgruppen, aber auch in atypischen Beschäftigungsverhältnissen umfassend einzustehen. Für die KAB ist der Heilige der Schutzpatron der Frauen und Männer in der zweiten und dritten Reihe.
Mit dem Heiligen Josef bitten die KABlerinnen und KABler darum, dass Vorgesetzten endlich die Augen für die Leistungen aus den „unteren Etagen“ geöffnet werden. Nicht selten werden in den Führungsetagen Entscheidungen nicht aufgrund der guten Ergebnisse ungezählter Mitarbeitender, sondern mit Blick auf die brillante Selbstdarstellung einzelner Kolleginnen und Kollegen getroffen, die den Erfolg für sich alleine beanspruchen. Bitten wir den Heiligen Josef darum, dass die vielen kleinen und oft mühevollen Arbeitsschritte und die als unscheinbare Glieder der Wertschöpfungskette Tätigen besser gesehen und gewürdigt werden. Es sind vor allem ihr Fleiß und ihre Loyalität, die einem Unternehmen zu einer guten Performance verhelfen, nicht aber jene, die die Leistungen anderer für ihr eigenes Fortkommen absahnen oder im Sinne knallharter Gewinnmaximierung regelrecht auspressen. In Extremform wird in diesen Tagen die betriebserhaltende Arbeit jener, die über Jahre durch ein Übermaß an Engagement und harten Verzicht für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze gekämpft haben, von den Investoren der Galeria-Kaufhäuser als bedeutungslos und aus der Zeit gefallen diffamiert.
Hier hilft nur noch die Vergegenwärtigung der Revolution, die die Frau des Heiligen Josef besungen hat: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Es ist gefährlich, den Heiligen Josef zu unterschätzen. Als Teil der alle Verhältnisse umstürzenden Geschichte des Gottessohns trägt er von Anfang auch die Kleider des Aufstands gegen Anmaßung und Unmenschlichkeit.
Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands
(1) Dietmar Grypa, Die Katholische Arbeiterbewegung in Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1963, Paderborn 2000, 203
Schnellwaschmittel und Schmutzfaktor in einem
Gesprächsbereitschaft ist ein Schnellwaschmittel. Wer sie rechtzeitig signalisiert oder im Nachhinein für sich behauptet, hat gute Chancen, in der Öffentlichkeit mit sauberer Weste dazustehen. „Wir wollten ja reden, aber die anderen …“ Wir, das sind die Tarifparteien zu Beginn der Verhandlungen, Prozessgegnerinnen, Parteimitglieder, Verbandsmenschen usw. Freilich: Wer gesprächsbereit ist, muss deshalb noch lange nicht an Lösungen, geschweige denn an einem neuen Miteinander interessiert sein. – Denn auch das ist eine Tatsache: Ernsthafte Gesprächsbereitschaft macht schmutzig. Wer sie konsequent praktiziert, setzt die eigene „reine Lehre“ aufs Spiel oder die Beschädigung seiner bislang „alleinseligmachenden“ Sicht der Dinge. Deshalb verlassen immer wieder vermeintlich gesprächsbereite Frauen und Männer selbst nach Jahren die von ihnen mitgeprägten Dialogprozesse, sobald es um die Formulierung ebenso verbindlicher wie für beide Seiten schmerzhafter Kompromisse geht. Wer diese mitträgt, gilt bei seinesgleichen schnell als angeschlagen, gerne auch als abtrünnig und damit für „höhere Weihen“ in jeglicher Hinsicht untauglich.
Bloßer Austausch von Worten
Leider ist die irrtümliche Annahme weitverbreitet, Gesprächsbereitschaft sei in der Hauptsache der Austausch von Worten. Im kirchlichen Kontext gilt es für manche schon als „Gespräch“, wenn sich die Beteiligten im selben Raum befinden und einer gemeinsamen Tagesordnung folgen. Zum Beispiel steht der von den Bischöfen und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken von 2011 bis 2016 angeleierte „Dialogprozess“ in diesem Sinn für virtuos inszenierte Harmlosigkeit. Gleichzeitig stellt er ein kommunikationspsychologisches Meisterstück des Monologisierens vor großem Publikum dar. Wird bei der unter dem Label „Synodaler Weg“ Ende 2019 ins Leben gerufenen Nachfolgeveranstaltung mehr herauskommen? Wie viele der sich vom 9. bis 11. März in Frankfurt zu dessen Abschluss versammelnden Mitglieder haben sich in den vergangenen Jahren durch die Begegnungen und Gespräche mit der Gegenseite auf dem gemeinsamen Weg verändern lassen? Bei wem haben die erlebten Irritationen zu einem Sinneswandel und nicht nur zu einer Bekräftigung der eigenen Position geführt? Nach den mehr oder weniger spektakulären Mandatsaufgaben einiger Beteiligter in den letzten Wochen und angesichts des sich mit Rom zuspitzenden Konflikts über die Rechtmäßigkeit einer selbstverpflichtenden Verstetigung namens „Synodaler Rat“ stellt sich zudem die Frage, in welchem Maße die finalen Beschlüsse der Versammlung auf Dauer zu einer Befriedung in der Kirche beitragen und ihre Position in der Öffentlichkeit stärken können.
Eine andere Welt ist möglich
In der vom heutigen Sonntagsevangelium skizzierten Ausgangssituation konnten die ersten Hörerinnen und Hörer getrost davon ausgehen, dass sich die Protagonisten, Jesus und die namenlose samaritanische Frau einfach anschweigen würden. Alles andere hätte wenigstens zu starker Verwunderung Anlass gegeben (vgl. Joh 4,27): den Jüngern raubt daher das abnorme Verhalten Jesu schlichtweg die Sprache. Es gab grundsätzlich nichts zu besprechen zwischen Juden und Samaritanern. „Juden hatten keinen Umgang mit Samaritanern“, wörtlich übersetzt, „sie benutzten nichts gemeinsam“ (Joh 4,9). Ja häufig gingen Juden auf der Reise zwischen Judäa und Galiläa selbst der bloßen Begegnung mit den „Ketzern“ im wahrsten Sinn des Wortes aus dem Weg und wählten dafür lange Ausweichrouten. Aber auch zwischen einer Frau und einem Mann gab es nicht nur in der Mittagshitze vor dem Stadttor nichts zu besprechen. Beide sind sich des doppelten Tabubruchs bewusst, als sie gegen alle Wahrscheinlichkeit und Konvention ins Plaudern kommen. Sie reden einfach miteinander. Durst ist das Thema, Durst in jeder Beziehung. Und so erlebt die Frau in Jesus den Mann, der endlich mit ihr (und nicht moralisierend über sie oder an ihr vorbei) spricht. Sie kann sich endlich zu ihrem Durst nach Annahme und Zuwendung und damit nach einem gelingenden Leben bekennen. Ich stimme der Berliner Theologin Eva-Maria Bohle zu, wenn sie anmerkt, wie kunstvoll die beiden aneinander vorbeireden und sich dabei in einem Flirt über Wasser und Gebet eine hinreißende Vision vom Reich Gottes entwickelt. Der Messias wird den Durst nach Leben stillen und dies geschieht: Jetzt. Dieses „Jetzt“ kommt ohne das ermüdende Spiel von Gesprächsbereitschaft und -verweigerung, ohne langwierige Verhandlungen und Schluss-Kommuniqués aus. Mögen Laien und Bischöfen dieses „Jetzt“ genauso geschenkt werden, wie es Eva-Maria Bohle schildert: „Hier an diesem Brunnen tut sich der Himmel auf: Nicht morgen. Jetzt. Denn es gibt kein Morgen. Es gibt immer nur den Augenblick, und in dem kann sich der Himmel auftun. Himmel bedeutet in diesem Fall: Kein Durst, kein Hunger, Mann und Frau begegnen sich auf Augenhöhe, moralische Vorbehalte sind obsolet, fremde Kulturen trennen nicht, religiöse Traditionen verlieren an Bedeutung. Wer betet, soll das im Geist und in der Wahrheit tun, Gemeinschaft entsteht. … Wichtig ist, dem Fremden den Durst zu stillen und zu glauben: Eine andere Welt ist möglich.“(1)
Nicht „Gesprächsbereitschaft“, sondern die Art des miteinander Sprechens und das Brennen für den Geist des Evangeliums macht diese andere Welt möglich. Alles andere ist nur heiße Luft.
Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands
(1) Evamaria Bohle, „Durst löschen“, Morgenandacht im DLF am 25.3.2017: https://rundfunk.evangelisch.de/kirche-im-radio/morgenandacht/durst-loeschen-8730
„Endlich Freitag im Ersten“. Mit diesem Label eröffnet die ARD ihr Wochenendprogramm am Freitagabend. Eine Frau liegt nach einer vermutlich anstrengenden Arbeitswoche entspannt auf dem Teppich vor ihrer Couch und signalisiert den Betrachtenden, dass jetzt das Wochenende beginnt und damit die Zeitphase, in der keine Vorschriften, Pflichten und Konventionen gelten. Freiheit und Entspannung pur eben. Ein wichtiger Slogan für den Schutz des Sonntags klingt ähnlich: „Endlich Sonntag“. Ob das mit dem Freitagabend beginnende Wochenende oder speziell der Sonntag: immer geht es um Selbstbestimmung, Freiheit und Kräfteerneuerung. Wichtig ist, dass es ein unhinterfragbares Recht auf diese Zeit für mich selbst gibt.
Einige Hunderttausend Frauen und Männer in unserem Land haben aber nichts von diesem Recht. Weil sie finanziell (und auch ihre Familien) nicht über die Runden kommen, arbeiten sie häufig auch am Wochenende und nicht selten sogar an mehreren Sonntagen hintereinander. Für sie gibt es fast nur Werktage. Gleichzeitig sorgen aber ihre Dienstleistungen häufig dafür, dass wir von Freitag- bis Sonntagabend immer wieder einmal so richtig abschalten können. Gemeint sind in diesem Zusammenhang nicht all jene, die im Gesundheitsbereich, bei Feuerwehr und Polizei, in der Seelsorge oder anderen für das Funktionieren unserer Gesellschaft relevanten Aufgaben regelmäßig an Samstagen und Sonntagen arbeiten müssen. Im Focus dieses „Nachklangs“ stehen vielmehr Frauen und Männer, die in der Gastronomie, im Tankstellenservice, als Personal bei großen Kulturveranstaltungen oder als Hintergrundteams von automatisierten Läden, Hotlines und vielen anderen nicht überlebensnotwendigen Sektoren arbeiten. Der größte Teil von ihnen geht seinem Job im Rahmen einer sogenannten atypischen Beschäftigung nach. Das heißt, wie bald jede und jeder Fünfte in Deutschland verdienen auch sie ihr Geld entweder in Leiharbeit, Teilzeit, befristet oder in mindestens einem Minijob. All diese Tätigkeiten werden als „atypisch“ bezeichnet, da sie von dem „Normalarbeitsverhältnis“, einem unbefristeten Vollzeitjob mit Sozialversicherungspflicht, abweichen. Generell liegt in diesen Beschäftigungsverhältnissen der Lohn niedriger als in regulären Arbeitsverhältnissen. Ein völlig unterschätztes Problem und ein gerne übersehener Missstand stellt die Verteilung der Wochenarbeitszeit dar. Hier nun kommen endgültig all jene in den Blick, die in einem Zweitjob am Wochenende arbeiten müssen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Sie gehören zu den insgesamt mehr als 3,4 Millionen sogenannten Mehrfachbeschäftigten in unserem Land, die einen Zweit-, ja manchmal sogar einen Drittjob haben. Nicht wenige von ihnen verdienen in ihrem Hauptberuf gerade genug, um Miete und Ernährung finanzieren zu können. Erst durch die Zusatzeinnahmen aus ihren Zuverdiensten können sie sich das ein oder andere leisten, um gesellschaftlich halbwegs anschlussfähig zu bleiben. Doch ausreichend Zeit für Ruhe und Erholung oder gar, um sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, haben sie nicht. Immer wieder ist von Menschen zu hören, die am Wochenende bis zu zwölf Stunden, oft verteilt auf Samstag und Sonntag, z.B. in der Gastronomie, an der Tankstelle oder bei Eventanbietern arbeiten und am Montag mit ihrem Hauptjob einfach weitermachen: die Kanzleigehilfin mit zwei Kindern im Grundschulalter, die Samstag- und Sonntagabend als Garderobiere bei großen Events arbeitet; die Postausträgerin, die am Wochenende an der Tankstellenkasse steht; der Hausmeister, der jeden Samstag bis in die Nacht Pakete ausliefert.
Es muss hier nicht eigens erläutert werden, dass regelmäßige Wochenendarbeit sowohl die eigene Gesundheit und Psyche als auch das Leben in privaten und gesellschaftlichen Beziehungen auf Dauer zerstört. Der ein wenig in die Jahre gekommene Begriff „Sonntagsschutz“ erhält mit Blick auf diese Menschen eine neue, sehr aktuelle zweite Bedeutung. „Sonntagsschutz“ kann auch meinen, dass wir am Sonntag jene Menschen schützen, ja schützen müssen, die für unsere Bequemlichkeit ihr eigenes Wochenende knicken. Menschen, denen genauso wie uns ein Leben zusteht, das nicht nur aus Arbeit besteht. Diese Frauen und Männer müssen sich im wahrsten Sinn des Wortes genauso wie wir das freie Wochenende samt Sonntag endlich leisten können. Dazu braucht es eine faire Bezahlung gerade in minderqualifizierten Jobs und gezielte Hilfen wie z.B. die bedingungslose Kindergrundsicherung. Zu hinterfragen sind aber auch einige unserer Konsumgewohnheiten. Dann können wirklich alle Menschen in unserem Land sagen, „Endlich Sonntag!“
Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands
Diesen Nachklang gibt es auch als Podcast zu hören
Die Bibel, kein Buch für Ökonomen?
Richtig, Zara Leander fragt in ihrem vielleicht berühmtesten Liedtitel nicht nach Konsum, sondern nach Liebe und die bietet nach kirchlicher Auffassung bekanntermaßen eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Sünde. Anders der Konsum. Von sündigenden Konsumenten ist im Katechismus nur spärlich die Rede. Daher bieten gerade die ersten Seiten der Bibel eine unerschöpfliche Lektüre für Moraltheologinnen und Moraltheologen, nicht aber für Ökonomen. Was soll denn schon dabei herauskommen, wenn diese die Heilige Schrift von vorne zu lesen beginnen? Nicht viel, möchte man vermuten. Schließlich bietet die sich dort entfaltende Erzählung von der Schöpfung der Welt, der Erschaffung des Menschen, vom Paradies und dem Einzug des Bösen in unser Leben genau das Gegenteil von den präzisen Zahlen, die für Wirtschaftswissenschaftlerinnen und ihre Kollegen so essenziell wichtig sind. Ganz anders verhält es sich beim Chefvolkswirt der tschechischen Handelsbank Tomás Sedlácek. Seine 2009 erstmals erschienene „Ökonomie von Gut und Böse“(1)beschäftigt sich auch unter Berufung auf das Buch Genesis (und weitere religiöse sowie kulturgeschichtliche Quellen vom Gilgamesch-Epos bis zur modernen Pop-Kultur) ausführlich mit wirtschaftsethisch hochrelevanten Fragen: Zahlt es sich aus, Gutes zu tun? Ist Eigennützigkeit angeboren? Ist Eigennützigkeit von Bedeutung für das Gemeinwohl? Bis hin zu einem Nachdenken darüber, ob der Mensch im Kern gut oder böse ist.
Was ist Sünde?
Natürlich scheint der Hinweis auf diesen internationalen Bestseller deplatziert, schaut man auf die an diesem ersten Fastensonntag mit den Lesungen klar vermittelte Botschaft. Insbesondere die Erzählung vom „Sündenfall“ und das Evangelium von den Versuchungen Jesu nach seinem vierzigtägigen Fasten in der Wüste rücken die Verführbarkeit des Menschen zur Sünde in den Fokus der Aufmerksamkeit. Aber: Mit dem Begriff der „Sünde“ ist der Fehlinterpretation des vorgetragenen Abschnittes aus dem zweiten und dritten Kapitel des Buches Genesis in einer mehr als zweitausendjährigen Wirkungsgeschichte Tor und Tür geöffnet. Von „Sünde“ ist nämlich erst im Zusammenhang mit dem Brudermord im nächsten Kapitel die Rede: Zwischenmenschliche Gewalt ist die eigentliche, die „Wurzelsünde“. Erzählt wird an diesem Sonntag hingegen von der ersten Konsequenz, die sich für den Menschen aus der Erkenntnis von Gut und Böse ergibt, der Erkenntnis der eigenen Nacktheit. Sie gehört sozusagen zum Preis, den er für die nun gewonnene Möglichkeit, ethisch zu handeln, zu bezahlen hat(2). Mich regt die „Ökonomie von Gut und Böse“ bei meiner Auseinandersetzung mit den ersten Seiten der Bibel dazu an, über die Ethik meines Handelns als Konsument nachzudenken. Aufgrund der Erkenntnis von Gut und Böse sollte ich bedenken, dass jede meiner Kaufentscheidungen immer eine moralische Relevanz hat. Sedlacek stellt in diesem Zusammenhang z.B. die Frage nach dem klar gewollten Überkonsum: Es „wird mehrfach erwähnt, dass Adam und Eva 'die Frucht konsumierten'. Wir Ökonomen nennen das 'Überkonsum': Sie haben die Frucht nicht konsumiert, weil sie hungrig waren, sondern Lust darauf hatten. Und dasselbe gilt für den ersten materiellen Besitz in der Menschheitsgeschichte: Das ist das Tuch, mit dem Adam und Eva dann ihre Nacktheit verbargen. Sie taten dies wieder nicht aus Notwendigkeit, weil sie froren, sondern aus Scham. Der äußere Besitz ist ein Zeichen für ein inneres Ungleichgewicht."
Konsumieren und produzieren müssen?
Ein zweiter Aspekt. Unsere Konsumgesellschaft, so der Autor, könne man als den Versuch deuten, sich als Ersatz für die verlorene Harmonie des Paradieses einen säkularen "Himmel auf Erden" zu erschaffen. Als Beleg zitiert Sedlacek eine Stimme aus dem Psychothriller „Fight Club“ (USA 1999, Regie David Fincher) und interpretiert diese anschließend in Verbindung mit den Konsequenzen des „Sündenfalls“: "Wir gehen zur Arbeit, die wir hassen, um uns Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen. Ich füge noch hinzu: mit Geld, das wir nicht haben.“ Der Autor hält dies für die gelungenste Umschreibung des Fluches, mit dem Adam und Eva von Gott bestraft wurden:„Ihr müsst produzieren, um zu konsumieren - und konsumieren, um zu produzieren. Da euch das, was ich euch im Garten Eden gegeben habe, nicht genug war, soll euch nichts mehr genug sein. Der Fluch auf Eva ist - wieder in der Sprache der Ökonomie - der Fluch der Nachfrage: Sei niemals zufrieden mit dem, was du hast. Und der Fluch Adams ist der des Angebots: 'Arbeitet im Schweiß eures Angesichts, aber ihr werdet die immer neuen Wünsche nie stillen."
Konsum ohne Folgen?
Die Fastenzeit soll uns unter anderem helfen, unsere Verstrickungen in schuldhafte Kontexte und unseren Anteil an deren Zustandekommen bzw. deren Fortbestand einzusehen und uns aus ihnen nach Möglichkeit zu lösen. Der biblische Begriff für Umkehr lässt sich am besten mit „neu hinschauen“ übersetzen. In diesem Sinn muss ich erkennen, dass mein Konsum immer in einem Beziehungsgeflecht steht. Viele meiner wirtschaftlichen Entscheidungen wirken sich ausnahmslos in einem Netzwerk aus Kriegen um Rohstoffe und Absatzmärkte, Ausbeutung um des Maximalprofits willen und einer dauerhaften Schädigung der Umwelt aus. Sedlacek bietet einige frische Anregungen, um den eigenen Blick im Sinne konsumethischer Verantwortung zu schärfen und die schädlichen Konsequenzen des persönlichen Handelns zu reduzieren bzw. zu mildern. Neu erkennen eben. Denn eines ist das persönliche Konsumverhalten mit Sicherheit nicht: jenseits von Gut und Böse. Und, ja: Konsum kann Sünde sein.
Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands
Die grundlegende Anregung verdankt dieser „Nachklang“ dem Beitrag von Rebecca Hillauer, Der Gott der Produktivität, am 13.2.2012 im DLF (https://www.deutschlandfunk.de/der-gott-der-produktivitaet-100.html)
(1) Tomás Sedlácek, Die Ökonomie von Gut und Böse (aus dem Englischen von Ingrid Proß-Gill), München 2012.
(2) Vgl. Ilse Müllner, Jenseits von Adam und Eva. Geschlechterdifferenz und Sündenfall in Genesis 1-3, in: Thomas Hieke/Konrad Huber (Hrsg.), Bibel falsch verstanden. Hartnäckige Fehldeutungen biblischer Texte erklärt, Stuttgart ²2020, 36ff.
Alles legal und trotzdem nicht ok? Dominik Enste, Leiter des Kompetenzfelds „Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik“ am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln erkennt einen deutlichen Wettbewerbsvorteil für Unternehmen, die nicht nur im Rahmen der bestehenden Gesetze Gewinne erwirtschaften, sondern auch durch moralisches Handeln punkten können (1). Immer mehr Kundinnen und Mitarbeiter legen als Maßstab für ihre Entscheidungen ethisch korrektes Verhalten an und suchen sich ihren Dienstleister oder Arbeitgeber unter diesem Gesichtspunkt aus. Gleiches gilt für ethisch orientierte Geldanlagen, für die zur absolut besten Sendezeit geworben wird. Für mich ist das neu. Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, in denen ein „kreativer Umgang“ mit rechtlichen Vorgaben als legaler Bestandteil einer Geschäftsstrategie galt, die nur Gewinn und Expansion kannte.
„Rein rechtlich ist alles in Ordnung, aber …“ Konzerne können sich dennoch weiterhin extrem unethisch verhalten. Auf die Gesinnung kommt es an! Am Ende ist es egal, ob ein Konzern mit der sprichwörtlichen weißen Weste dasteht oder nicht, wenn seine Handlungsmaxime einem Extremegoismus huldigt, der versucht, möglichst viel für sich herauszuholen. „Rein rechtlich“ kann alles in Ordnung sein, wenn Unternehmen weiterhin versuchen, Gewinne zu machen ohne Rücksicht auf den Schaden und das Leid, das andere dadurch erfahren. Große Firmen können Rekordgewinne erzielen und gleichzeitig Massenentlassungen ankündigen, die Belegschaften ihrer Standorte gegeneinander aufhetzen und durch knallharte Kontrollsysteme am Arbeitsplatz Furcht und Schrecken verbreiten. Alles legal!
„Nur legal“ im Sinne einer bloßen Beachtung von Gesetzen reicht auch Jesus nicht: ihm geht es in der Bergpredigt um die größere Gerechtigkeit. Seiner Forderung wir mehr oder weniger bewusst Folge geleistet, wenn Unternehmen selbstbewusst in aller Öffentlichkeit gut nachvollziehbar darstellen, wie sie ihre Gewinne erzielen. Denn selbst bei einem rechtskonformen Verhalten gibt es nach wie vor genügend Grauzonen und Spielräume, die nicht geregelt sind. Der hier stattfindende Prinzipienwandel beeindruckt mich. Genauso wie im unmittelbaren Zusammenleben dürfte auch im wirtschaftlichen Wettbewerb die bittere Erkenntnis vorherrschen, dass derjenige der Dumme ist, der sich an die Regeln hält. Es stimmt mich zuversichtlich, dass Unternehmen mit moralischem Verhalten punkten können, wenn sie ihre Gewinne nicht nur zur Befriedigung ihrer Anteileigner nutzen, sondern z.B. für soziale Anliegen und Innovationen reinvestieren. Gemeint sind damit Projekte, die das Leben von Menschen einfacher, sinnvoller und reicher machen. Sie sind für die Unternehmen selbst lohnend allein schon durch den positiven Geist, der dadurch entsteht (2).
„Nur legal“ ist hoffentlich bald passé!
Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschland
(1) Dominik Enste am 31.5.2022 im Interview mit der Deutschen Handwerkszeitung: www.deutsche-handwerks-zeitung.de/wenn-unternehmen-legal-aber-unmoralisch-handeln-241319/
(2) Mehr dazu in: Friedrich Assländer/Anselm Grün, Spirituell arbeiten (Münsterschwarzach 2010), 93ff.
Die Überschrift für diesen „Nachklang“ klingt nicht gerade wie ein Satz aus den Lesungen zu diesem fünften Sonntag im Jahreskreis, sondern nach Lyrik um der Lyrik willen. Dem Sinn nach stammt der erste Teil des Titels aber nicht aus einem Gedichtband, sondern aus der Feder des litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas (1906-1995). Levinas spricht in vielen seiner Werke vom „Ich“ nur als „Mich“. Er begründet dies damit, dass Andere sich ohne Unterlass an mein „Ich“, also an mich wenden. Sie beziehen sich auf mich, rufen mich an, brauchen mich. Zugespitzt verstehe ich diesen Gedanken so, dass es den Menschen zuerst und in Vollendung nur als angesprochenes „Ich“ also als „Mich“ geben kann. Anders gesagt: von wirklichem Menschsein kann erst dann die Rede sein, wenn es sich den Belangen der Menschen, die uns begegnen, möglichst ohne Vorbehalt öffnet.
In den Worten eines unter dem Namen seines großen Vorgängers Jesaja überlieferten anonymen Propheten hört sich das im 5. Jahrhundert vor Christus so an: „Brich den Hungrigen dein Brot, nimm obdachlose Arme ins Haus auf, wenn du einen Nackten siehst, bekleide ihn und entziehe dich nicht deiner Verwandtschaft“ (Jes 58,7). Verwandtschaft meint hier mehr als familiäre Verbundenheit. Es geht im weitesten Sinn des Wortes um den Mitmenschen, der mich jetzt braucht. Es geht um soziale Verantwortung, insbesondere dem abgeschlagenen, und scheinbar ungehörten Anderen gegenüber. Es geht somit um Gott, denn Gott geht es immer um Beziehung. Deshalb hat er uns als „Wir“ erschaffen.
Die Zeit, in die der Prophet seine Mahnung hineinruft, sind die Jahrzehnte nach der noch nicht überwundenen Katastrophe des babylonischen Exils. Wahrscheinlich steht er auf den Trümmern des halbzerstört daliegenden Jerusalem. Es finden sich bei ihm viele Hinweise darauf, dass es damals ein paar Superreiche, ansonsten aber fast nur Bettelarme gibt. Allenthalben herrscht die Angst ums wirtschaftliche, ja vielfach ums nackte Überleben. Der Prophet prangert an, dass das Leben der Begüterten auf dem Rücken der unter dem Existenzminimum dahinsiechenden Masse stattfindet. Sie, die wirtschaftlich Erfolgreichen, sind aber felsenfest davon überzeugt, gerecht zu handeln, weil sie sich an die religiösen Vorschriften halten und regelmäßig den Tempel aufsuchen (vgl. Jes 58,3). Es handelt sich um scheinheilige Sprüche, denn selbst an Feier- und Fasttagen kümmert sich jeder und jede von ihnen vorrangig um sein Business ganz nach dem Motto: „Gerecht ist, was mir zugutekommt“. Nach dem Verständnis des Propheten (und der ganzen Heiligen Schrift) gibt es aber Gerechtigkeit nur in der „Wir“-Form.
Gerechtigkeit in der „Wir-Form“: auch heute würde der Prophet eindringlich darauf hinweisen, dass wir als Mitmenschen miteinander verwandt und untereinander unauflöslich vernetzt sind. Gerade in einer globalisierten Welt besteht eine starke Verantwortung gegenüber jenen unserer „Verwandten“, auf deren Kosten wir leben. Das sogenannte Lieferkettengesetz führt uns endlich vor Augen, dass diese Verantwortung bis in die Hinterhöfe und „Textilfabriken“ von Bangladesch, Indien oder Myanmar reicht. Wir sind mit den dort für unseren Wohlstand arbeitenden und leidenden Menschen auf unterschiedlichste Art miteinander verbunden, ja auf kompliziertesten Wegen mit ihnen und vielen anderen regelrecht verschlungen: mit der Baumwollpflückerin in Indien, dem Arbeiter in der vietnamesischen Baumwollkämmerei, mit der türkischen Textilfärberin, den Billiglohnkräften in der polnischen Weberei und mit der bulgarischen Näherin; nicht zu vergessen der litauische Fernfahrer.
Wir sind wie die Glieder der Lieferkette untereinander als Verwandte und mit Gott verbunden. Seine Gerechtigkeit bekommt dann Hand und Fuß, wenn wir endlich begreifen: „Das Ich gibt’s nur als Mich“.
Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands
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Wer behauptet denn so etwas? Würde eine Partei oder ein Verband mit diesem Slogan werben, läge der Verdacht auf systematische Unmenschlichkeit oder zumindest schlechten politischen Klamauk nahe. Auch die Richtigstellung, dass es hierbei um den „Hunger nach Gerechtigkeit“ geht, macht die Sache kaum besser. Denn wer bewusst und programmatisch den Hunger nach Gerechtigkeit nährt, der setzt offensichtlich auf soziale Unzufriedenheit und Besitzneid. Auch in unserem Land mit funktionierender Grundversorgung und sozialen Standards ändert dies aber nichts daran, dass es diesen Hunger braucht, um die wirklich Hungernden in den Blick zu bekommen und sie ernst zu nehmen.
Jesus preist jene selig, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten (vgl. Mt 5,6). Über den politischen Gehalt dieser Seligpreisung wurde und wird leidenschaftlich gestritten. Natürlich ist hier von der Gerechtigkeit Gottes die Rede, die größer ist als alle irdischen Gerechtigkeitsvorstellungen. Dennoch kann in einer Gesellschaft nur dort im vollen und biblischen Sinn des Wortes von Gerechtigkeit die Rede sein, wo sie die Armen, Schutzbedürftigen und Schwächeren in den Mittelpunkt ihrer Sorge stellt. Wo sie sich um gutes Leben für alle bemüht. Daher sind auch jene „selig“, die selber bewusst für die von Jesus Angesprochenen nach Gerechtigkeit hungern. Dazu gehört auch, aktiv dafür Sorge zu tragen tragen, dass es diesen Hunger in einer satten Wohlstandsgesellschaft überhaupt gibt.
Hunger nach Gerechtigkeit beginnt mit der realistischen Einschätzung menschlichen Strebens nach Macht und Reichtum. Alljährlich belegt z.B. der sogenannte Oxfam-Bericht zur sozialen Ungerechtigkeit in welchem Ausmaß mittlerweile auch in unserem Land eine Handvoll größtenteils anonym bleibender Superreicher gigantische Vermögenszuwächse einstreicht, während Millionen von Menschen nicht wissen, wie sie Lebensmittel und Energie bezahlen solle. Die katholische Sozialethik formuliert den Hunger nach Gerechtigkeit so: Privatbesitz und Vermögen sind solange gerechtfertigt, als sie der Allgemeinheit dienen und auch für andere „Gutes tun“. Über den Hunger nach Gerechtigkeit sprechen und für diesen Hunger sorgen heißt deshalb auch, über die regelmäßige Wiederherstellung der Chancengleichheit für alle laut nachzudenken.
Konkret bedeutet das, dass Christinnen und Christen (vor allem aber ein Sozialverband wie die Katholische Arbeitnehmerbewegung) sich immer wieder neu für den Hunger nach einer humanen Gesellschaft einsetzen, die jedem ihrer Glieder bedingungslos das Nötige für ein freies, selbstbestimmtes und sozial zugewandtes Leben zur Verfügung stellt. Christinnen und Christen lassen sich daher in Zeiten immenser Erbschaften sowie unglaublicher Finanz- und Spekulationsgewinne in ihrem Hunger nach Gerechtigkeit nicht mit Sätzen abspeisen wie „Harte Arbeit generiert wachsenden Wohlstand“. Und wer für den Hunger nach Gerechtigkeit sorgt, rückt zudem die in den Blick, die durch Care- und Erziehungsarbeit Unschätzbares für unsere Gesellschaft leisten, aber in jeglicher Hinsicht leerausgehen.
Auch Christinnen und Christen ist klar, dass die Vorstellung von einer einzigen und objektiv feststellbaren Gerechtigkeit gefährlich naiv ist. Es ist letztlich Gott, der gerecht macht. Das ändert nichts am Hunger nach einer Gerechtigkeit, die immer wieder hergestellt, ausbalanciert und vorangebracht werden muss: durch eine gesunde Unerbittlichkeit in der Benennung sozialer Ungerechtigkeiten, durch harte Verhandlungen, durch den Kampf für bessere Lohn- und Sozialsysteme, im Ringen um gutes Leben und wertvolle Arbeit für alle.
„Wir sorgen für Hunger und hungern selbst nach Gerechtigkeit“. Dieser Grund-Satz gilt für alle, die in Bergpredigt mehr sehen als einen „erbaulichen“ Text.
Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands
„Weil das Menschsein sich zu leicht vergisst“(1). Mit diesem Fazit schließt das 1961 von Günter Kunert verfasste Lehrgedicht „Wie ich ein Fisch wurde“(2). Kunert wusste wovon er sprach und schrieb. 1929 in Berlin geboren, hatte er als Kind einer jüdischen Mutter unter den Rassengesetzen des Dritten Reiches zu leiden. Bereits 1949 wurde er Mitglied der SED und gehörte schnell zu den bekanntesten und produktivsten Autoren der Nachkriegszeit. Seit den frühen 1960er Jahren eckte Kunert wegen lauter werdender staatskritischer Töne in seinen Texten politisch immer häufiger an. Seine kurze Mitgliedschaft in der Akademie der Künste endet mit dem Hinauswurf. Nach seinem Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann erfolgte 1977 der Ausschluss aus der Partei. 1979 übersiedelte Kunert in den Westen und war bis zu seinem Tod 2019 als freier Schriftsteller tätig. Stets ging es ihm in seiner lakonisch pessimistischen Grundhaltung darum, Facetten der ihn fordernden Wirklichkeit sehr genau zu erfassen und weiterzudenken. Sein Credo lautete: „Ein Hellseher, der nicht schwarzsieht, verdient seine Berufsbezeichnung nicht“.(3)
Anpassung an die Katastrophe
Ich möchte anlässlich des diesjährigen Gedenktags für den seligen Nikolaus Groß und der neunzigsten Wiederkehr der sogenannten „Machtergreifung“ durch Hitler an einen der prägnantesten Texte Kunerts erinnern. Dieser scheint mir einen poetischen Verständniszugang zum Leben und Wirken des KAB-Märtyrers und seiner Frau Elisabeth anzubieten. Der Dichter schildert hier die Katastrophe einer alles Leben an Land vernichtenden Flut. Dieses Szenarium steht als Bild für eine übermächtige, von allen und allem besitzergreifende politische Umwälzung. An diese muss sich der Ich-Erzähler bzw. die Ich-Erzählerin um des eigenen Überlebens willen anpassen: Menschen werden zu Fischen.
Meine Arme dehnten sich zu breiten Flossen,
Grüne Schuppen wuchsen auf mir ohne Hast;
Als das Wasser mir auch noch den Mund verschlossen,
War dem neuen Element ich angepasst.
Bei näherem Hinhören aber erweist sich der offenbar unabdingbare Anpassungsvorgang als dauerhafter Verlust des Menschseins. Konsequente opportunistische Anverwandlung an die Übermacht allgegenwärtiger und von allen Seiten andrängender Gewalten führt letztlich zum unumkehrbaren Wegfall der Menschlichkeit. Die Fähigkeit zur Veränderung, die zunächst positiv erscheint und Rettung verspricht, erweist sich in der Konsequenz als Selbstaufgabe durch Entmenschlichung. Den Veränderungen in Aussehen und Bewegung folgt die Vollendung der Anpassung durch das dauerhafte Verstummen. Immerhin kann er/sie sich nun als Fisch träge gleiten lassen und wird eins mit der Flut, gegen die man/frau sich als Mensch zuvor chancenlos gestemmt hat. Es bleibt jedoch die quälende Frage offen, ob nicht der Preis für das bloße Über- und Weiterleben zu hoch ist.
Die „braune Flut“
Oft wird die NS-Ideologie mit einer braunen Flut verglichen, die die Massen mitgerissen hat und bis in die feinsten Verästelungen des Privatlebens vorgedrungen ist. Eine überwiegende Mehrheit begrüßte diese Flut als vermeintlich rettendes Nass nach jahrelanger politischer und wirtschaftlicher Dürre.(4) Für Nikolaus Groß (und für seine von der entsprechenden Antwort betroffene Familie) wurde angesichts des sofort einsetzenden nationalsozialistischen Terrors die soeben genannte Gewissenfrage zur Entscheidung über Sein oder Nichtsein: War er bereit, den Preis weitestgehender Anpassung für ein bloßes Überleben zu zahlen? Groß antwortet mit einem klaren Nein und mutet diese finale Stellungnahme seiner Familie zu. Er konnte und wollte Menschsein und Menschlichkeit nicht aufgeben. Leben bedeutete für ihn menschenwürdiges Leben. Für ihn ging es zu jedem Zeitpunkt darum, seine Würde gegen die braunen Mächte der Unmenschlichkeit zu bewahren, und so zum Zeugen menschlicher Würde und Freiheit überhaupt zu werden. Wie kaum ein zweiter katholischer Gewerkschafter und Journalist seiner Zeit prangert er bereits in jungen Jahren die Zerstörung der Würde und Freiheit der Arbeiter und Arbeiterinnen samt ihren Familien an. Millionen von Menschen verwehrte das kapitalistische System der frühen Weimarer Republik einen adäquaten Zugang zu einer menschenwürdigen Grundversorgung. Von gleichen Chancen in der Bildung und Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft ganz zu schweigen. Groß ging es darum, Menschen in diesen bildungsfernen Schichten seiner Zeit in ihrer Humanität und Mündigkeit für den Kampf gegen die frühen Vorboten totalitärer Menschenverachtung und Gewaltverherrlichung auf Dauer zu stärken. Bildung war für ihn in diesem Sinne Herzensbildung der Masse der als Underdogs Abgestempelten. Nur so konnten diese Menschen gegen rassistische auf der einen und klassenkämpferische Einflüsterungen auf der anderen Seite immunisiert werden. Für seine eigene Person erkannte Groß jedoch in letzter Konsequenz, dass bloße Resistenz, ja nicht einmal mutiger Protest im Dunkel der sich zuspitzenden Katastrophe ausreichend sein konnten. Folgerichtig schloss er sich daher dem aktiven Widerstand an und bezahlte dafür mit seinem Leben.
Vom Fisch zurück zum Menschen
Auch heute haben wir es mit den Vorboten von pandemisch sich ausbreitender Inhumanität und Menschenverachtung zu tun. Längst ist der sprichwörtliche „Gang über Leichen“ ein wesentlicher Bestandteil von privaten Lebensentwürfen, nationalen und internationalen Politikkonzepten sowie eines auf Ertragsmaximierung getrimmten Wirtschaftssystems. Es wäre aber zu klischeehaft, lediglich auf das persönliche Zeugnis und die mutige Positionierung der einzelnen und des einzelnen abzuheben. Die erste und vielleicht schon entscheidende Frage lautet vielmehr, in welchem Maß ich persönlich bereits in der medialen Dauerüberflutung mit ihrer permanenten Inszenierung von realen und gefakten Katastrophen abgestumpft und in diesem Sinn entmenschlicht bin. Wie sieht meine Anpassung im dahinrauschenden Strom der Mitteilungen aus? Bilden sich bei mir langsam im Sinne des zitierten Lehrgedichts erste „grüne Schuppen“? Erreichen mich noch die Botschaften, die den sozialen und ökologischen Preis meines Lebensstils beziffern? Oder die Warnungen vor mehr und mehr akzeptierten regelmäßigen Einsatz von Gewalt als legitimes Alltagsmittel zur Durchsetzung vermeintlich „hehrer“ Ziele? Oder die Alarmsignale einer durch schamlose Bereicherung zerreißenden Gesellschaft? Nikolaus Groß hat mit feinem Gespür die in seiner Zeit um sich greifende Entmenschlichung erkannt. Sein Lebenszeugnis ist für mich der entscheidende Beleg dafür, dass der Weg zurück in humane Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt zu weit und zu schwer ist. Auch wenn der erste Schritt für die „Fische“ fast nicht mehr möglich scheint.
Denn aufs Neue wieder Mensch zu werden,
Wenn man’s lange Zeit nicht mehr gewesen ist,
Das ist schwer für unsereins auf Erden,
Weil das Menschsein sich zu leicht vergisst.
Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands
(1) Textzitate nach Güner Kunert, So und nicht anders. Ausgewählte neue Gedichte, Carl Hanser Verlag 2002, 21f.
(2) Die nachfolgenden Überlegungen greifen vom Ausgangspunkt her eine Idee des Essener Weihbischofs Wilhelm Zimmermann aus dem Jahr 2018 auf: www.bistum-essen.de/fileadmin/relaunch/Bilder/Bistum/Bischof/Zimmermann/Sel.Nikolaus_Gross__Dom_-_23.01.2018.pdf
(3) Vom Zwang, genau hinzusehen. Zum Tod von Günter Kunert: SZ vom 23.9.2019 - https://www.sueddeutsche.de/kultur/nachruf-guenter-kunert-schriftsteller-ddr-1.4612497
(4) Kunert hat sich meines Wissens nicht zur politischen Interpretation seines Lehrgedichts geäußert. Zu möglichen Deutungen vgl. Jutta Southwell, Günter Kunert, The artistic development of a writer of the German Democratic Republic (1978): https://core.ac.uk/download/pdf/37777142.pdf
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Ein Nachklang zum 2. Sonntag
Zugegeben, das Wort „Komplexitätsverweigerung“ klingt ein wenig wie die modischen Plastikwörter in Politik und Wirtschaft, die die Konkretisierung scheuen wie der Vampir das Tageslicht. Das mit diesem Wortungetüm Gemeinte nimmt im Bild des ausgestreckten Zeigefingers schärfere Konturen an: auf dessen Fingernagel passen nämlich die dürftigen Argumente der Komplexitätsverweigernden.
Beispiel gefällig? Diese Zeilen entstehen am 12. Januar 2023 und damit an Tag 12 der Debatte um die Silvesterkrawalle 2022/2023. Noch immer deuten ungezählte Zeigefinger irrlichternd auf „die Schuldigen“. Allein für die letzten 24 Stunden listet die Suchmaschine zehn weitere Stellungnahmen auf. Kommentiert werden Kommentare, die wiederum Kommentare zu Kommentaren sind. Rassismusvorwürfe, populistische Ansagen (Stichwort „Kleine Paschas“) und eine pausenlos befeuerte Empörungsmaschinerie halten den gut eingeübten Sündenbock-Mechanismus in Schwung. Es geht um die Zuschreibung von Schuld und Gesamtverantwortung sowie die kollektive Selbstvergewisserung der eigenen „Unschuld“. Beim alttestamentlichen Sündenbockritual war dem Volk und Hohepriester wenigstens jederzeit klar, dass es um ihre aller Verfehlungen und moralischen Fehlleistungen ging. Ein öffentliches Kollektivbekenntnis. Bei uns aber liegt der Focus wieder einmal auf einer gut definierbaren Gruppe und dem in dickem Farbauftrag skizzierten Vielfachversagen von Eltern, Familien und Milieus der gewalttätigen Jugendlichen. Gemeint sind natürlich auch immer jene, die sozusagen schuld an der Schuld sind: Politikerinnen, Pädagogen, linke Ideologen, Stadtplanerinnen usw. Dumm nur, dass damit kein einziges Problem gelöst ist, zumal es soziale Brennpunkte, vernachlässigte Bevölkerungsschichten, kaputt gesparte Schulen und Underdogs schon lange vor der Neujahrsnacht gegeben hat. Sozialer Abstieg, ungerecht verteilter Wohlstand, gesellschaftliche Ohnmachtserfahrung und Kriminalität sind unabhängig von Hautfarbe und Herkunft ein Dauerthema. Und bei genauerem Hinschauen erweisen sich Sündenböcke als Menschen.
„Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29). Auch im Sonntagsevangelium geht es um einen ausgestreckten Zeigefinger und einen ganz besonderen Sündenbock: die Deutegeste Johannes des Täufers und seinen Verweis auf Jesus. Hier drohte und droht zumindest die sehr spezielle Komplexitätsreduktion einer einseitig auf den Gedanken des Sühneopfers fixierten Kreuzestheologie: Jesus nimmt als Lamm den Zorn Gottes über die Sünden der Menschen auf sich und „alles ist gut“. Alles gut? Überhaupt nicht! Denn gemeint ist mit dem „Lamm Gottes“ eben nicht nur das kultische Opfertier schlechthin (sacrificium, sacrifice), sondern auch der exemplarisch zum Gewaltopfer (victima, victim) gewordene Gottessohn. Damit aber steht er auch für die Sündenböcke unserer Zeit, für Menschen, die geopfert werden, weil es im Sinne gesellschaftlicher und politischer Komplexitätsverweigerung „Schuldige“ geben muss. Hinter dem „Lamm Gottes“ versammeln sich somit jene, die auf der Schattensete von individueller Selbstbestimmung, Liberalismus und Fortschritt die Rechnung für vertagte Entscheidungen, verschobene Verantwortung und nicht gemachte Hausgaben in den wachsenden Krisenszenarien unserer Gegenwart bezahlen.
Johannes zeigt auf den großen Sündenbock und indirekt die vielen kleinen Sündenböcke in seinem Gefolge. Er fordert uns auf, die auf ihn und alle anderen projizierten heillosen Zustände, Elend und Menschenverachtung sowie alle anderen frech ausgeblendeten Seiten der dunklen Wirklichkeit unserer Welt zu erkennen und dann der Sündenbockstrategie ein Ende zu setzen: „Seht das Lamm Gottes und anerkennt eure Verantwortung füreinander und eurer permanentes Schuldigwerden aneinander! Bekennt endlich, dass eure Kapital-Religion (Walter Benjamin), euer notorisch unterfinanziertes Bildungssystem und euer vernachlässigter Sozial- und Pflegebereich nur auf Kosten von Opfern und Geopferten funktioniert!“
Es ist mühsam und sehr schnell überkomplex, der individuellen Verstrickung in die großen Schuldstrukturen unserer Gegenwart nachzuspüren und in den eigenen Netzwerken und darüber hinaus für einen ebenso ehrlichen wie korrekturbereiten Umgang mit den Ursachen und Wirkungen zu werben. Aber der hoffentlich bald eintretenden Ausrottung der Tierart „Sündenbock“ dient es in jedem Fall.
Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

Vorsicht mit einem Zuviel an Empathie und Mitgefühl! Zumindest scheint dies für das Arbeitsklima zu gelten. Vor einigen Jahren erläuterte die „WirtschaftsWoche“ die zehn Nachteile des Mitgefühls und führte u.a. aus: Empathie laugt aus, weil es kräftezehrend ist, sich permanent in die Gefühlszustände anderer Menschen hineinzuversetzen. Sie führe des Weiteren zu Einsamkeit, da für das Privatleben am Abend keine Gefühle mehr übrigblieben. Ein Zuviel an Empathie bei Führungskräften erzeuge aber auch das Gefühl von Ungleichbehandlung ihrer Untergebenen. Außerdem: Wenn Frauen in der Chefetage zu viel Verständnis für die Probleme anderer hätten, würde das ihren Aufstiegschancen schaden (zumal, so der Artikel, Frauen von vornherein als besonders empathisch gelten). Richtig schwierig wird es, wenn Empathie für irrationale Entscheidungen verantwortlich gemacht und als eine der Hauptfaktoren von Diskriminierung und Korruption benannt wird. Sicherlich, der genannte Artikel argumentiert differenzierter und lässt sich zudem als eine Reaktion auf einen bereits seit mehr als ein Jahrzehnt beobachtbaren Hype interpretieren, der Empathie zum Softskill schlechthin für Führungskräfte erhebt.
Der Evangelist Matthäus lässt in der Szene der Taufe Jesu am Jordan die grundmenschliche Sehnsucht nach Verständnis und Liebe anklingen: „das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17): Dieses „Verstanden- und Geliebt-Sein“ muss ich als Mensch immer wieder hören und immer wieder von neuem erfahren. Deshalb verstärkt und bestätigt das Fest der Taufe des Herrn noch einmal die faszinierende Botschaft von Weihnachten: Gottes grenzenlose Empathie für jeden einzelnen Menschen. Ein Zuviel davon ist bei Gott unmöglich!
Für uns Menschen ist leider ein fein justierbares Zuwenig jederzeit machbar. Schwierig wird es, wenn (siehe oben) Empathie lediglich als strategisch einsetzbare Qualifikation zur Beeinflussung anderer Menschen oder als wesentlicher Faktor etwa von wirtschaftlichem Erfolg betrachtet wird. Noch schwieriger, weil letztlich krank und unmenschlich, ist es, wenn im betriebswirtschaftlichen Kontext bewusst, ja böswillig jegliche Form von Mitgefühl ausgeschaltet wird. Hierzu schreibt der vor allem durch seine Forschungsergebnisse zum Narzissmus bekannt gewordene Psychiater und Psychotherapeut Pablo Hagemeyer: Der Empathiemangel als Form der Macht „formt aus Menschen Zahlen. Sie nimmt den Menschen ihre Namen und damit ihre Menschlichkeit. Zahlen lassen sich leicht hin und her schieben. Nicht die Person zählt, sondern die Zahl, die diese Person produziert.“ Als Illustration schildert er eine besonders krasse Form der in manchen Chefetagen praktizierten Empathielosigkeit: „Junge engagierte Mitarbeiter werden gezielt ‚sauer gefahren‘ und nach ein paar Jahren wieder entlassen. Zusätzliche, aufwendige Arbeit wird als „Bonus-Option“ angeboten. Das Unternehmen plant lange vor Beginn des Beschäftigungsverhältnisses, die Person für nur fünf Jahre zu beschäftigen, wissend, dass danach die Person ‚verbraucht‘ ist. Die Leistung des Arbeitnehmers wird also bewusst ausgereizt. Jede Kommunikation mit Vorstand oder Führungskraft wird unterbunden, um keine persönlichen Beziehungen aufkommen zu lassen." (1)
Jesus stellt sich mit den Belasteten und Beladenen seiner Zeit buchstäblich in eine Reihe; er steht mit ihnen Schlange, um sich taufen zu lassen. Heute stünde er bei den Getäuschten, Ausgepressten und Weggeworfenen. Denn er steht bei denen, über denen kein offener Himmel zu sehen ist: er die menschgewordene Empathie Gottes.
Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands
(1) Pablo Hagemeyer, Gestatten, ich bin ein Arschloch, Eden-Books, 83.
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Gottesdienstvorlage
Gott schaut auf die Niedrigen - Litugische und Homiletische Elemente zum Thema "Prekäre Arbeit".
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Therese Studer

Therese Studer, die am 22. September vor 160 Jahren in Senden an der Iller geboren wurde, verlor früh ihre Mutter und musste als Achtjährige bereits für den eigenen Lebensunterhalt sorgen. Mit 14 Jahren wird sie Akkordarbeiterin in einer Zündholzfabrik in Altenstadt an der Iller. Zwischenzeitlich arbeitet sie als Dienstbotin, ohne geregelte Arbeitszeit, ohne sozialen Schutz. Als sie mit 22 Jahren in einer Spinnerei arbeitet, erlebt sie, wie die jungen Mädchen und Frauen ausgebeutet werden. Für sich nutzt sie die geregelten Arbeitszeiten, um sich zu bilden. „Mir kam der Gedanke, in einer Fabrik Arbeit zu nehmen, um die Freizeit für meinen Wunsch zu lernen dienstbar zu machen.“ Sie arbeitet 22 Jahre dort und wohnt in einem Arbeiterinnenwohnheim. Ihren Wunsch, Lehrerin zu werden, erreicht sie nicht. Dennoch ist sie stolz, dass sie als Arbeiterin mit zwölf Stunden am Tag im Akkord an der Maschine ihren Lebensunterhalt bestreiten kann.
Soziale Rechte der Arbeiterinnen
Beeinflusst und fasziniert von anderen Frauen, wie die Frauenrechtlerin Elisabeth Gnauck-Kühne, wird sie aktiv und setzt sich für die sozialen Rechte der Arbeiterinnen ein. Als sie im Sommer 1906 zu einer Versammlung in Aschaffenburg einlädt, kommen 159 Arbeiterinnen und erklären ihren Beitritt. Unter ihrer Führung wuchs der Arbeiterinnenverein auf 460 Mitglieder. Zwei Jahr später ist es der Verbandspräses Carl Walterbach, der sie überzeugt, Verbandssekretärin der süddeutschen Arbeiterinnenvereine zu werden. Am 21. Juni 1908 tritt sie ihr Amt an und ist somit die erste Arbeiterinnen-Sekretärin, oder wie sie liebevoll genannt wurde: „unsere Verbandsmutter“.