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„Ich schäme mich“ – Nachklang zum Fünften Sonntag der Osterzeit 2024

Schämen und Entschuldigen. Foto: Rabbe

Immanuel Kant (übrigens: happy Birthday!) empfand größte Hochachtung zwei Phänomenen gegenüber, die er sich nicht erklären konnte: der bestirnte Himmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm .

Auch wenn er nicht darlegen konnte, woher das Gewissen als innere Instanz herkommt, war er sich doch sicher, dass jeder Mensch ein Gewissen hat. Und er war überzeugt davon, dass wir uns das Gewissen nicht erwerben müssen, sondern dass es einfach schon da ist. Hundert Prozent Zustimmung!

 

Innere Stimme selbstkritisch hinterfragen

Zum wirklichen Menschsein gehören nun einmal ein waches Gewissen und die Bereitschaft, sich von der eigenen inneren Stimme selbstkritisch hinterfragen zu lassen. Eine der Lesungen dieses Sonntags spricht anstatt des Gewissens von unserem Herz. Es gibt Situationen, in denen es mich verurteilt und andere, in denen dies nicht der Fall ist (1Joh 3,20f). Wenn ich anderen Menschen aus welchen Gründen auch immer wehgetan habe oder wenn ich etwas nach allen Regeln der Kunst „verbockt“ habe, dann meldet sich im Idealfall mein Herz und drängt mich, zu meinem Fehlverhalten zu stehen und den angerichteten Schaden nach Möglichkeit einzugrenzen. Kurzum: ich schäme mich und das damit verbundene Gefühl treibt mich zum Eingeständnis, zur Bitte um Entschuldigung und zum Versuch einer „Wiedergutmachung“. Dem Dramatiker Bertolt Brecht wird der Satz zugeschrieben: „Vielleicht ist der Mensch nie so sehr Mensch als wenn er sagt: ich schäme mich.“

Leidtragende von Inflation und Altersarmut

Umso mehr Befremden lösen Situationen aus, in denen ich denke: der oder die müsste sich doch jetzt schämen und zu seinem Fehler bzw. ihrem Fehlverhalten stehen. Und nichts davon ist zu spüren. Diese Art von Unverständnis lösen bei mir z.B. die politischen Reaktionen auf die bedrückenden Ergebnisse der jüngsten „Trendstudie: Jugend in Deutschland 2024“[1] aus. Es ist vor allem die deutliche Präferenz der 14- bis 29jährigen für die AfD, die eine Mischung aus Ratlosigkeit und Unverständnis verursacht. Aber ein schlechtes Gewissen scheint sich deshalb niemand zu machen. Fühlt sich denn niemand angesprochen, wenn die Macher der Studie u.a. feststellen, dass die Zufriedenheit mit den politischen Verhältnissen noch einmal deutlich gesunken ist? Wer reagiert schuldbewusst, wenn sich ein Gutteil der Befragten als die zukünftigen Leidtragenden von Inflation und Altersarmut sehen? Welche Empfindungen lösen die alarmierenden Zahlen zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen bei den Verantwortlichen für die Politik während der Coronapandemie aus?

 

Schämen und Fehler benennen

Wahrscheinlich ist einer der Hauptgründe für das nicht nur bei jungen Menschen schwindende Vertrauen in die Politik, dass öffentliche Schuldeingeständnisse fast nie vorkommen. Es wäre eine Sensation, wenn z.B. im Rahmen der kaum begonnenen Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen der eine oder die andere von den politischen Entscheidungsträgern der vergangenen Jahre zumindest einräumen würde, übereilt, überfordert oder falsch beraten gehandelt zu haben. Eine Sensation und ein Vertrauensschub! Wenn jemand sich einer Sache schämt und vorbehaltlos seinen Fehler benennt, kann ich ihm leichter wieder vertrauen. Wenn ich erkennen kann, dass der andere seinen Fehler oder sein Unrecht spürt und es ihm leidtut. Das gilt auch für Politikerinnen und Politiker.

Zurück zu Bertolt Brecht und den von ihm benannten Moment wirklichen Menschseins. Wenn ich auf mein eigenes Leben blicke, kann ich ihm nur zustimmen. Gleichzeitig sehe ich bei mir, was die Uneinsichtigkeit in das eigene Fehlverhalten anrichten kann. In diesem Sinn wünsche ich uns eine Gesellschaft, in der sich nicht nur die Verantwortungsträgerinnen und -träger als wirkliche Menschen erweisen.

Stefan-Bernhard Eirich, Bundespräses der KAB Deutschlands

 

[1]simon-schnetzer.com/trendstudie-jugend-in-deutschland-2024/